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Keith Dixon, Les évangelistes du marché, Paris 1998 (Raisons d'agir nr. 6)
Einleitung
Es geht hier um die Geschichte eines intellektuellen Feldzuges, welcher der Transformation der politischen Spielregeln und
sozialen Machtbeziehungen in Großbritannien vorangegangen ist: die neoliberale Offensive in der englischen intellektuellen
Elite zu Beginn der 70er Jahre, zur Zeit einer ökonomischen und sozialen Krise, die zum Sieg des Thatcherismus führte.
Von Interesse ist daher nicht so sehr der Thatcherismus als solcher, sondern die Rolle der Intellektuellen, ihre Beteiligung an
den politischen Auseinandersetzungen und die Wirksamkeit ihrer Aktivitäten: Persönliche Interventionen sowie
gruppenmäßiges Lobbying sollten dazu dienen, die Krise des Keynesianismus durch eine neue Vision zu ersetzen.
Das besondere Interesse gilt dem Einfluß der „Think tanks", diesen Organisationen, die sich als Form der Reflexion
präsentieren, aber eher als privilegierte Vektoren des politischen Aktivismus bestimmter Intellektueller zu betrachten sind.
Der Ausdruck Think tanks hat im englischen zwei Bedeutungen:
Zentren unabhängiger Forschung, die zum Teil auf den
Anfang des Jahrhunderts zurückreichen, die nicht vorwiegend
auf politische Agitation ausgerichtet sind |
Zentren zur Verteidigung und Illustration einer bestimmten
Doktrin mit dem Ziel ihrer Verbreitung. Diese werden auch
advocacy tanks genannt. |
Hier wird am ambivalenten Begriff des Think tanks festgehalten, ganz im Bewußtsein, daß es hier sich vor allem darum
handelt, politischen Proselytismus zu betreiben.
Bei den britischen Think tanks kann man davon ausgehen, daß dieses alles begonnen hat in Paris Ende der 30er Jahre. Die
erste Zusammenkunft jener, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Avantgarde des ökonomischen Liberalismus darstellen
sollten, fand am 26. August 1938 in Paris statt: das Kolloquium Walter Lippmann, 30 Teilnehmer, Journalisten und
Wissenschaftler, darunter Hayek und von Mises.
Als Hauptgegner wurde damals definiert der Kollektivismus in allen seinen Spielarten: Nazi-Regime, Sowjetunion und
Keynesianismus.
Ihre Absicht, sich zu organisieren gegen den etatistischen Niedergang des Abendlandes; Kampfarena sollte vor allem
Auseinandersetzungen im ideologischen Bereich sein.
Rongier aus Paris schlägt am Ende des Kolloquiums vor, ein internationales Zentrum zur Erneuerung des Liberalismus zu
gründen, zu dem es aber nie gekommen ist. Denn einige Monate später kam der Krieg, und ein Jahrzehnt später wurde die in
Paris lancierte Idee wieder aufgegriffen.
1. bis 10. April 1947 in Montreúx, auf dem Mont Pelerin, eine internationale Versammlung von Intellektuellen zur
Verteidigung des ökonomischen Liberalismus und zur Organisation der Mittel des Kampfes gegen den Keynesianismus, der
sich auf dem Weg befand, zur neuen Orthodoxie des Westens zu werden. Bei diesem Anlaß kam es zur Gründung der
Society of Mont Pelerin, heute noch intellektuell und politisch aktiv, doch nicht mehr so einflußreich wie früher (viel
wichtiger ist heute das neue neo-liberale Info-Netz, das State Net, domiziliert in den USA, zur Koordination der liberalen
Bemühungen). Doch hat er Jahre hindurch die Society Mont Pelerin eine wichtige Vorreiterrolle gespielt.
Die Hauptakteure der Nachkriegszeit waren alle fast ausnahmslos schon 1947 in Montreúx dabei; von besonderer
Bedeutung dabei
London School of Economics (oft der keynesianischen Linken zugerechnet, enthält aber einen starken liberalen Kern
beziehungsweise Zweig).
Institut universitaire des Hautes Ets de Geneve,
Universitäten von Chicago und Wien waren anwesend, darunter
von Mises, von Hayek, Popper
Liconel Robbins von der LSE
Milton Friedman und Henry Hazlith, Journalist, der später Newsweek dem liberalen Gedankengut zugänglich machte
Allais, Trévoux, Professoren von Paris
Das Bemühen dieser intellektuellen Internationale, der herrschenden Elite eine bestimmte Vision des Marktes aufzudrängen,
fand über lange Jahre in großer Isolation statt, während an den Universitäten überall der Keynesianismus gelehrt wurde.
Solange die Wirtschaft florierte, gab es keinen Grund, den herrschenden Konsens in Frage zu stellen. Erst als sich dies
änderte, kam die Chance für den Liberalismus. Die war am leichtesten dort zu ergreifen, wo die Krise des Keynesianismus
am größten war: in Großbritannien. Die neoliberalen Netze waren zweifellos am besten organisiert in den USA, doch die
praktischen Umsetzungen waren am spektakulärsten in Großbritannien.
Von Bedeutung für nichtenglische Leser:
Die Propheten des Marktes sind viel zahlreicher geworden, die Think tanks haben Anhänger gefunden in Kanada, Australien
und Neuseeland: aber auch Ausbreitung in Lateinamerika und in den Ländern des früheren Ostblockes.
In Frankreich entstehen Netzwerke und Clubs mit ganz ähnlichen Zielsetzungen, gruppiert um A. Madelin und Ch. Millon.
In der Fondation Saint-Simon
findet sich eine Mischung von linken und rechten Intellektuellen, Geschäftsleute, Universitätsangehörige, Philosophen und
Journalisten mit der Mission, die sozialen Akteure auf den Realismus einzuschwören.
Damit ist es gelungen, einen neuen sensus communis zu begründen, um damit dem politischen und sozialen Radikalismus ein
Bollwerk entgegen zu setzen, nicht ohne Erfolg, wie sich im Dezember 1995 in Frankreich gezeigt hat (vgl. dazu die
Intervention von Bourdieu am Gare de Lyon, abgedruckt in „Gegenfeuer").
Bei dieser Arbeit der Rekonstruktion spielte die Disqualifikation der Gegner eine große Rolle: man bezeichnete sie als
archaisch/korporatistisch/irrealistisch/unverantwortlich/utopistisch.
Dennoch ging die Entwicklung des Neoliberalismus nicht ohne Friktionen vor sich. Wenn die 70er und die 80er Jahre eine
dafür günstige Periode gewesen sind, so brachten die 90er Jahre eine sichtbare Verlangsamung in der Verbreitung der frohen
Botschaft des Marktes ohne Grenzen. Nicht eingehaltene Versprechungen von gestern, wachsende Schwierigkeiten, an die
Märchen zu glauben wie sie Friedman und Hayek erfunden haben, machten einige Bruchlinien im neoliberalen Gebäude
sichtbar. Dazu kamen zu Anfang des Jahrzehnts die politischen Schwierigkeiten von Margreth Thatcher und die
ökonomische Rezession in Großbritannien, der Speerspitze des Neoliberalismus. Weiters kam dazu die mißlungene
Einführung des Neoliberalismus im früheren sowjetischen Machtbereich, die Destruktion der letzten Reste von sozialer
Absicherung, die schwer zu übersehenden Phänomene massiver Korruption, sozialer Desaggregation und maffiöser
Machteingriffe.
15 Jahre nach dem Beginn der Umsetzung der neoliberalen Politik zeigen sich überall die zerstörerischen Konsequenzen, die
davon ausgegangen sind. Überall, wo man die Kräfte des Marktes befreit hat, sind die sozialen Ungleichheiten rapid
angestiegen. Die Beschäftigungsverhältnisse wurden aufs Spiel gesetzt und die Gewerkschaften, wo sie eine gewisse Macht
hatten, wurden ausgejagt und gewisse ihrer Aktivitäten sogar kriminalisiert. So ist man in Großbritannien zurückgekehrt zu
einer sozialen Situation von vor 1906, dem Datum, wo die Regierung der liberalen Partei damals den Gewerkschaften einen
rechtlich geschützten Status zuerkannte. Mit der Aufhebung der berühmten Immunität der britischen Gewerkschaften ist es
gelungen, die absolute Autorität der Direktionen in den Unternehmen zu etablieren also das berühmte "Management's right
to manage" durchzusetzen. Unter dem Druck der Verhältnisse haben die Gewerkschaften auf das Recht zu streiken
verzichtet und dafür im Gegenzug sich eine Anerkennung von Seiten der Unternehmensleitungen eingehandelt. In Frankreich
haben sich die Gewerkschaften ebenfalls weitgehend dem neuen Realismus angepaßt, so daß es zur Gründung zweier neuer
gewerkschaftlicher Organisationen gekommen ist: SUD und FSU, deren Bereitschaft, sich den neoliberalen Bedingungen zu
beugen, weit geringer ist.
Die offizielle Rhetorik preist die Verhältnisse in Großbritannien, doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache: 30 Prozent
der aktiven Bevölkerung lebt heute in materieller Not, 30 Prozent unter prekären Verhältnissen.
Viele Tausende von Kindern unter 12 Jahren sind gezwungen zu arbeiten um das Familieneinkommen aufzubessern.
Für jene, die einer prekären Beschäftigung nachgehen, gibt es in England keine Arbeitszeitbeschränkung und es besteht auch
die Verpflichtung, diese berühmten "zero-hour-contracts" einzugehen: das heißt, über Wochen hindurch keine Arbeit zu
verrichten; es gibt keinen Mutterschaftsurlaub, und für viele gibt es überhaupt keinen Urlaub mehr.
Es ist also wichtig, zu den Anfängen zurückzukehren, um zu verstehen, wie eine sehr beschränkte Anzahl aktivistischer
Intellektueller in wenigen Jahren dazu gekommen ist, zunächst einmal die politische Strategie der konservativen Partei zu
beeinflussen und schließlich dann die ganze Regierungspolitik in England umzuorientieren.
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