Soz.Ganymed.Org
Die französisch-sprachige internationale
Genossenschaftsuniversität

Raimund Hörburger

DIE FRANZÖSISCH-SPRACHIGE INTERNATIONALE GENOSSENSCHAFTSUNIVERSITÄT

Versuch einer institutionalisierten Verbindung von Sozialwissenschaft und Sozialpraxis an französischen und frankophonen Universitäten

Der Autor dieses Beitrages hat seine sozialwissenschaftlichen Studien bei Herrn Desroche, dem Direktor des Collège Coopératif absolviert, das zur Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris gehört. Desroche ist der Initiator des Interuniversitären Genossenschaftsinstituts (Institut Coopératif Interuniversitaire I.C.I.) und der Internationalen Genossenschaftsuniversität (Université Coopérative Internationale - U.C .I.), die sich beide unmittelbar aus dem Collège Coopératif (1) entwickelt haben und eine neue Form der Erwachsenenbildung im universitäten Bereich darstellen.

Zum besseren Verständnis dieser Neugründungen scheint daher ein ein Einblick in Ziele, Strukturen und Studienbetrieb der Ecole Pratique des Hautes Etudes (E.P.H.E.) nötig zu sein.


1. Die Ecole Pratique des Hautes Etudes (E.P.H.E.)

Die E.P.H.E., 1868 gegründet, um Forschung zu betreiben und zu praktischer Forschung anzuleiten, war bis 1947 in fünf Sektionen geteilt:

1) Reine und Angewandte Mathematik
2) Physik und Chemie
3) Wissenschaften vorn Leben und der Erde
4) Historische und Philosophische Wissenschaften
5) Religionswissenschaften

Nach dein 2. Weltkrieg wurde die E.P.H.E. um eine 6. Abteilung erweitert, die Wirtschafts und Sozialwissenschaften, die seit 1975 eine eigenständige ,,Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales" (E.H.E.S.S.) bildet.

An der E.H.E.S.S. sind folgende Fachrichtungen vertreten:

Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Sozialanthropologie, Ethnologie, Demographie, Geographie, Rechts- und Politikwissenschaften, Psychologie, Linguistik, Semiologie, Angewandte Mathematik, Statistik und Informatik. Der gesamte Mitarbeiterstab umfaßt über 1.000 Personen, davon 187 ,,hauseigene" Wissenschaftler.(2)

Der Lehrende an der Ecole Pratique des Hautes Etudes vermittelt keine allgemeinen Fachkenntnisse im Rahmen von Vorlesungen, sondern beschäftigt sich in seinen wöchentlichen 2 4 stündigen Lehrveranstaltungen mit seinen gerade laufenden eigenen Forschungen. Daher werden an der E.P.E.H. an sich nur Studierende mit abgeschlossenem Universitätsstudium zugelassen, die über universitäres Grundwissen bereits verfügen. Der Teilnehmer an diesem Lehrbetrieb ist gehalten, in seinem eigenen einschlägigen Forschungsbereich zu arbeiten und über den Fortschritt seiner Studien Mitteilung zu machen.

Die Studienrichtlinien der E.P.H.E. eröffnen aber auch Möglichkeiten, für jene Personen, die nicht die formalen Voraussetzungen für ein Hochschul oder postuniversitäres Studium mitbringen. Eine diesbezügliche Klausel der E.P.H.E. lautet: ,,Diese Einrichtung (sc. E.P.H.E. zeigt von vornherein mehrere originelle Züge ihre Lehrangebote, die sich auf Ergebnisse persönlicher Arbeiten stützen, sind ausgerichtet auf die Ausbildung von Forschern; daher besteht eine ständige Verbindung zwischen Forschung und Lehre. Die E.P.H.E. zeichnet sich darüber hinaus durch liberale Handhabung ihrer Strukturen, ihrer Vorschriften und Aufnahmebedingungen aus.(3)

Erwachsene, die keine Universität absolviert haben und auch nicht absolvieren können, finden unter zwei Bedingungen Aufnahme:
a) Der Studiendirektor muß die Forschungskapazität des Kandidaten feststellen und von der Studiendirektion eine Genehmigung einholen.

b) Einem Minimum an Präsenz bei Lehrveranstaltungen muß einem Optimum von persönlicher Forschung entsprechen, die wenigstens in einer Diplomarbeit ihren Niederschlag finden soll. Ein darauffolgendes Doktorat wird von der jeweils entsprechenden Universität anerkannt und ausgestellt.

Mit diesen Studienrichtlinien ist es also möglich, Forschungsbereiche und Forschungsmethoden, die an traditionellen Universitäten nicht beheimatet sind, aber auch Personen, die keinen Zugang zur Universität haben, Hochschulanerkennung zu verschaffen.


2. Das ,,Collège Coopératif"

Als Direktor des Collège Coopératif und des Centre de Recherche Cooperative an der Ecole Pratique des Hautes Etudes vertrat Desroche von Anfang an (1960) 3 Gebiete der Soziologie in Forschung und Lehre:

Genossenschaftliche (Kooperative) Vereinigungen und Entwicklung, utopisch-religiöse Ideenbildungen und Entwicklung, Erwachsenenbildung und Entwicklung.

Desroche's eigene Schwerpunkte lagen ursprünglich im Studium des Marxismus, in der Erforschung der nordamerikanischen religiösen Gruppe der Shakers, in Religionssoziologie des Marxismus und verschiedener Frühformen des Sozialismus.(4)

Von 1960 bis 1980 waren an seinem Collège 1070 Studierende inskribiert, von denen etwa 33% (351) mit einem Diplom (224) oder einem Doktorat (127) abgeschlossen haben. Ungefähr 200 Personen haben ohne Inskription an seinem Collège mehr oder weniger lange studiert.(5)

Die Forschungsthemen seiner Schüler, von denen die meisten langjährige Lebens und Berufserfahrungen hinter sich haben, gliedern sich auf:
in Untersuchungen über Genossenschaften im eigentlichen Sinn (Produktions, Konsum-D Handelsgenossenschaften in Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie und Banken) und alternative Modelle der Erwachsenenbildung besonders im ländlichen Bereich.
in regionale wirtschaftliche, sozioökonomische, sozio-kulturelle ländliche Entwicklungsprobleme in Afrika, Lateinamerika, im Nahen und Fernen Osten unter Berücksichtigung endogener Entwicklungsimpulse.
- in anthropologische und soziologische Studien von Mikrogesellschaften im sozialen Wandel, besonders auf dörflicher Ebene.
in religionssoziologische Untersuchungen messianischer Bewegungen und religiöser Gruppen in Europa und Übersee, insofern diese als Sozialutopien für sozialwirtschaftliche Organisationsformen und politische Bewegungen von Bedeutung waren und sind.
- in Forschungen über den Frühsozialismus in England, Frankreich und Deutschland und dessen Einflüsse auf Marx und Engels.

Bei Durchsicht der Vielzahl von Diplomen und Dissertationen fällt auf, daß eigentliche politische Themen, die internationale, nationale oder regionale Machtverhältnisse analysieren, kaum behandelt werden.(6) Ein Grund hierfür dürfte im intellektuellen Lebensweg von Desroche zu finden sein, der in Abgrenzung zur katholischen sozialen Bewegung der Nachkriegszeit in Frankreich sich vom militanten Marxismus einer differenzierteren Gesellschaftsanalyse zugewendet hat, wobei er immer sein besonderes Augenmerk auf eigenständige gesellschaftliche Zusammenschlüsse von unten gelegt hat (development from below). Diese endogenen Entwicklungsimpulse vermögen seiner Ansicht nach je nach ihrer organisatorischen Kraft die etablierten Machtstrukturen zu erodieren und gesellschaftliche Verhältnisse evolutionär zu verändern. Seine Weigerung einer globalen und offenen politischen

Analyse soll die Zusammenarbeit mit Menschen, die in verschiedenen politischen Systemen leben müssen, erleichtern und diese vor einer offenen politischen Konfrontation bewahren, die in Anbetracht der staatlichen Machtkonzentration nur zum Nachteil der Betroffenen ausgehen würde. Dies gilt besonders für seine Schüler in Lateinamerika und Afrika, von denen 70 % (245 von 351) der Diplome und Dissertationen ländliche Sozial und Wirtschaftsprobleme behandeln.

Die liberalen Studienbedingungen der E.P.E.H. erlauben es Desroche, nicht nur die Forschungsinhalte den Bedürfnissen seiner Schüler anzupassen und daher thematisch den Wünschen von Erwachsenen zu entsprechen, sondern auch methodisch und pädagogisch den Grundsätzen einer solchen Bildung möglichst freien Raum zu lassen.

Spontane und reflektierende Kreativität als wichtigste Impuls für wissenschaftliche Arbeit wird nach seiner Ansicht dann geweckt, wenn das Forschungsprojekt persönlich erlebte Erfahrungen und Interessen beruflicher und gesellschaftlicher Art etwa in Verwaltung, Gewerkschaften, Unternehmungen, sozialen und Bildungsinstitutionen, in Vereinen und Genossenschaften mit sozialwirtschaftlichen Zielsetzungen zum Inhalt hat.
,,Was Du aus Dir selbst tun kannst, tue es bis zu den äußersten Grenzen der Autodidaktik".

Seine Studenten, die hauptsächlich über die südliche Hemisphäre verstreut sind, und nach ihrer Inskription an der E.H.E.S.S. häufig nur kurzfristig am Collège präsent sein können, ermuntert er, sich auf genossenschaftlicher (kooperativer) Basis nach Themen und geographischer Nähe zusammenzuschließen, um die Ressourcen an Material (Lokale, Dokumentation) und Personen für sich und füreinander optimal nutzbar machen zu können. ,,Helft einander das zu tun, was der einzelne alleine nicht schaffen kann."

Für ein persönliches Forschungsprojekt nach dem Grundsatz möglichst großer Selbstbestimmung und Selbstlenkung sollen Orientierung, Unterstützung und Beratung durch Fachleute nur in dem Ausmaß in Anspruch genommen werden, als die Betreffenden diese für eine fruchtbare Weiterarbeit tatsächlich benötigen. Fachliche Assistenz soll in einer im sokratisch verstandenen Sinn von Mäeutik gewährt werden und den autonomen Prozeß der Forschungsarbeit erleichtern. ,,Was ihr nicht gemeinsam vollbringen könnt, fordert, daß es für euch und von oben getan werde, aber nur, damit ihr selbst Herr dieser Forderung werdet."


3. Vom Collège Cooperatif zum Interuniversitären Genossenschaftsinstitut (Institut Coopératif Interuniversitaire I.C.I.)

Desroche als profunder Kenner der Initiatoren der französischen Genossenschaftsbewegungen, von denen Charles Fourier eine herausragende Stellung einnimmt, beschäftigt sich schon lange mit dem Gedanken, Lehrer an französischen Universitäten kooperativ zu organisieren, ähnlich Produktionsgenossenschaftern, die materielle Güter erzeugen und verkaufen. Der Zusammenschluß dieser Universitätslehrer, schon 1921 von Charles Gide, einem bekannten französischen Genossenschaftstheoretiker vorgeschlagen, soll der gemeinsamen Anstrengung dienen, an französischen Universitäten eine Studienrichtung zu gründen, die es Erwachsenen erlaubt, ohne akademische Voraussetzungen ihre langjährigen Berufserfahrungen selbst ,wissenschaftlich evaluieren und ein Diplom erlangen zu können.

Bis 1982 ist es Desroche gelungen, an 10 französischen Universitäten über Beschluß des jeweiligen zuständigen wissenschaftlichen Rates eine Studienrichtung in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu schaffen, die nach 3 Jahren ein Diplom der Höheren Studien in sozialer Praxis (Diplôme des Hautes Etudes en Pratique Sociale D.H.E.P.S.) jenen Personen verleiht, die nicht professionell in der Forschung, aber professionell im sozialen und wirtschaftlichen Leben stehen, das sie nach Art der Aktionsforschung individuell oder in Gruppen wissenschaftlich reflektieren, ohne deshalb ihr Arbeitsmilieu verlassen zu müssen. 1500 Erwachsene werden so in ihrer Selbstweiterbildung von dieser freiwilligen Vereinigung von Universitätslehrern betreut.

Wie sehr die Bemühungen von Desroche einem allgemeinen Anliegen der französischen Regierung entsprechen, zeigt eine Aussendung des Unterrichtsministeriums vom 12. März 1982, wodurch ein neues Orientierungsgesetz für Hochschule vorbereitet werden soll. Diesem Dokument ist eine Enquete über alle Forschungsaktivitäten außerhalb offizieller Institutionen vorausgegangen, um jene Personen und Gruppen zu erfassen, die weder den Status noch die Funktion des beruflichen Forschers einnehmen, aber während einer bestimmten Zeit systematisch ihre berufliche Tätigkeit oder ihr soziales Leben untersucht haben. Durch eine solche Erhebung sollen sozialwissenschaftliche Forschungen von Privatpersonen staatliche Förderungen materieller und geistiger Art erhalten, ohne ihre Selbständigkeit dadurch zu verlieren.

Was enthält dieses ein neues Universitätsorientierungsgesetz vorbereitende Dokument an Anregungen für eine Öffnung der Universität im Hinblick auf Erwachsenenbildung, wie es Desroche schon lange vorschwebt und wie er es mit seinen Kollegen des Interuniversitären Genossenschaftsinstituts bereits verwirklicht?

Das Hochschulwesen soll einen Beitrag leisten im Kampf gegen soziale Ungleichheit, in dem es die Bedürfnisse nach Bildung und Information der größten Zahl befriedigt.
- Die Ausbildung muß gleichzeitig das kulturelle Niveau der ganzen Bevölkerung heben und den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Sektoren Persönlichkeiten mit Unternehmer geist bereitstellen, die fähig sind, an einer Gesamtentwicklungspolitik des Landes teilzunehmen.
- Im Hinblick auf die Strukturen der Hochschulen muß eine Aussöhnung stattfinden zwischen Universitäten und höheren berufsbildenden Lehranstalten
Durch eine größere Öffnung von Lehre und Forschung für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Belange soll die Universität mitwirken im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
- Die Qualität der vorbereitenden und weiterführenden Ausbildung soll ständig verbessert werden.
Es soll eine Unterrichtsform vorgeschlagen werden, die dem Unterwiesenen erlaubt, Kenntnisse, Arbeitsmethoden und Informationen zu erlangen, die notwendig sind für seine Orientierung in Beruf und Gesellschaft.

In einem Schreiben vom 3.6.1982 an das Unterrichtsministerium nehmen Desroche und seine ,,Genossen" vom Interuniversitären Genossenschaftsinstitut Stellung zu dieser Aussendung. Sie erinnern zuerst an ihre mehrjährige gemeinsame Erfahrung, die auf diese Ziele der Hochschulbildung hinweist. Im Schreiben des Ministeriums finden sie 10 Forderungen, mit denen sie über- einstimmen und nach welchen die universitäre Ausbildung in Zukunft gestaltet werden müßte:
1) Verknüpfung der Hochschulinstitute
2) Demokratisierung des Hochschulstudiums
3) Berufliche Umsetzbarkeit
4) Regionale Einbindung und Engagement in der Gesellschaft
5) Ausweitung in Richtung ständiger Weiterbildung
6) Zusammenarbeit in Dialog
7) Selbstweiterbildung mit Unterstützung von Fachleuten
8) Praktizierbare Zusammenarbeit mehrerer Fachrichtungen
9) Besondere Aktionsforschung
10) Gegebenenfalls Selbstfinanzierung

,,Diese Forderungen verwirklichen wir gerade in unseren Versuchen .... Unsere Art und Weise, die Lehraufträge durchzuführen finden wir in ihren Worten bestätigt... .,,, schreiben Desroche und seine Kollegen. Sie wollen nicht, dass diese Kreativität, die sie miteinander teilen, marginalisiert bleibe und drücken den Wunsch aus nach Institutionalisierung in einer Ecole Réseau des Hautes Etudes des Pratiques Scciales (E.R.H.E.P.S.), in die das französische Netz dieses Interuniversitären Genossenschaftsinstituts eingebunden werden soll, wie auch die Fernbildungsveranstaltungen in Sozialwirtschaft auf der nördlichen und südlichen Hemisphäre - gemeint sind die Veranstaltungen der Internationalen Genossenschaftsuniversität.(7)

Dieses Interuniversitäre Genossenschaftsinstitut vielleicht müßte man besser sagen: Kooperationsinstitut besitzt als Verein Statuten, wovon ein kurzer Auszug aus den ersten zwei Artikeln dessen Sinn und Zweck erläutern soll.

Art. 1: ,,Das allgemeine Ziel besteht in der Verquickung von Lehre und universitärer Forschung, von Aktion und Praxis, in intersektorieller, interregionaler, interdisziplinärer und internationaler Zusammenarbeit im Bereich der Weiterbildung und besonders der ständigen Fortbildung der Erwachsenen."

Art. 2: ,,Diese freiwillige Vereinigung nimmt sich als unmittelbares und besonderes Ziel vor:
1. Eine Organisation zu bilden für aktive und angewandte Forschungen in den Sozial und Wirtschaftswissenschaften mit Hilfe und zum Nutzen der Praktiker von endogenen Entwicklungen.
2. Weiterbildungsinstitutionen durch Förderung einer ständigen Forschung auszuweiten, sodaß die Akteure von Erfahrungen, Versuchen, Erneuerungen und in diesem Sinn von Unternehmungen die Autoren der Bearbeitung von solchen Erfahrungen werden. Diese von Fachpersonal unterstützte Selbstbildung basiert weniger auf dem Konsumieren von Lehrinhalten als im Hervorbringen von Forschungen in gemeinsamer Kreativität.
3. Das Zusammenwirken von Personen, die ihre beruflichen Erfahrungen wissenschaftlich aufbereiten, soll zu einer universitären und. interuniversitären Einrichtung ausgestaltet werden, die frei, offen, dezentralisiert, verbindlich, operational und genossenschaftlich von den Mitgliedern und Vertragspartnern geleitet wird.
4. In institutionalisierender Form sollen diese Versuche weitergeführt werden, bis eine optimale Institutionalisierung erreicht werden kann in einem Institut für Höhere Studien der Sozialen Praxis (Ecole des Hautes Etudes de la Pratique Sociale), das sich auf nationale und internationale Anerkennung stützt.(8)

Vielleicht ist es für den Leser instruktiv, wenn am Beispiel des Burgunder Genossenschaftszentrums für Aktions- und Entwicklungsforschung in Dijon die Strukturen einer universitären Erwachsenenweiterbildung aufgezeigt werden.

Zwischen der Höheren Nationalen Lehranstalt für Angewandte Agronomische Wissenschaften (Ecole Nationale Supérieure de Sciences Agronomiques, E.N.S.S.A.A.) und der Universität von Dijon gibt es einen Vertrag, worin auszugsweise steht:

,,Die E.N.S.S.A.A. und die Universität von Dijon haben ihre Bemühungen und Einrichtungen vereinigt, um einen Weiterbildungsstudiengang für Erwachsene im Berufsleben zu organisieren im Sinne einer Aktionsforschung."



Das Genossenschaftszentrum mit einem l0-köpfigen Aufsichtsrat ist an den Lehrstuhl für Erwachsenenbildung der E.N.S.S.A.A. angeschlossen. Eine Universitätsstelle für Weiterbildung ist mit 3 Personen für die Durchführung der Verwaltungsaufgaben betraut. Der wissenschaftliche Rat, der für Zuerkennung der Diplome für Höhere Studien der Sozialen Praxis zuständig ist, und setzt sich aus Professoren der Universität der E.N.S.S.A.A. zusammen, die an der dreijährigen Ausbildung mitwirken.

Ein Studienjahr (November bis Oktober) wird in l0 Arbeitssitzungen von je 2 Tagen (6 Stunden pro Tag) aufgeteilt, dazu kommen jährlich 2 - 3 Seminare von etwa je 3 Tagen. Während im ersten Studienjahr hauptsächlich methodische Fragen der Aktionsforschung auf dem Programm stehen, werden in den beiden folgenden Studienjahren die persönlichen und kollektiven Berufserfahrungen wissenschaftlich aufgearbeitet, wobei jeder Teilnehmer von Anfang an sein Forschungsthema gewählt hat und von einem Studienleiter begleitet wird.

Diese 3jährigen Studien werden von Erwachsenen sehr unterschiedlicher Berufe besucht. Unter 42 Inskribierten des Studienjahres 81/82 finden sich landwirtschaftliche Berater, Agraringenieure, Industriefacharbeiter, Erwachsenenbildner in verschiedenen Institutionen, Bibliothekare, Lehrer, Sozialarbeiter, Kinderkrankenschwestern, aber auch Direktoren und Personalchefs.

Ein gewisser weiblicher Überhang unter den Studierenden (25 : 17) dürfte darauf hinweisen, dass diese Art von Weiterbildung besonders einem Bedürfnis der Frauen entspricht, die dadurch eher mit einem beruflichen und sozialen Aufstieg rechnen können.

Das Studium wird zur Hauptsache vom Arbeitgeber finanziert. Bei der Durchsicht der Funktionen der wissenschaftlichen Betreuer fällt jedoch auf, dass unter 24 Lehrbeauftragten nur 4 Professoren sind, dagegen 14 Assistenten.(9)


4. Vom Interuniversitären Genossenschaftsinstitut zur Internationalen Genossenschaftsuniversität (Université Cooperative Internationale U.C.I.)

Der Gedanke des Interuniversitären Genossenschaftsinstituts, nämlich die beruflichen und sozialen Erfahrungen von Erwachsenen selber in gemeinsamer Kreativität und nach Methoden der Aktionsforschung mit Unterstützung von Fachleuten auf arbeiten und durch ein universitäres Diplom (mit Möglichkeit zum Weiterstudium) honorieren zu lassen, diese Grundidee stand auch Pate bei der Gründung der sog. Internationalen Genossenschaftsuniversität.

Der Anstoß dazu kam vom Internationalen Genossenschaftsverband (Association Coopérative Internationale: A.C.I.), der in einem Schreiben vom Mai 1978 ein diesbezügliches Diskussionspapier Desroche unterbreitet hatte mit der Bitte, auf der 26. Konferenz des Internationalen Genossenschaftsverbandes in Paris im September 1976 einen entsprechenden Vorschlag zu bringen. Aus diesem Brief geht hervor, daß durch eine zu gründende Internationale Genossenschaftsuniversität Forschungen und Studien auf dem höchsten akademischen Niveau über genossenschaftliche Philosophie, Entwicklung und Wirksamkeit der genossenschaftlichen Unternehmungen und deren Bedeutung bei der Lösung der großen Probleme für das Überleben der Menschheit durchgeführt werden sollen. Zielgruppen für solche

Studien sind Postgraduierte und Verantwortliche in genossenschaftlichen Organisationen, sowie Mitglieder internationaler Organisationen, die für ihre Tätigkeit eine Genossenschaftsausbildung benötigen. Nach Programm, Adressaten und durch die angestrebte administrative und lokale Nähe zu einer berühmten Universität unterscheidet sich dieser Vorschlag kaum von einem klassischen Universitätsinstitut.(10)

Im Gegensatz zu diesem Modell entwickeln Desroche und seine Mitarbeiter eine Alternative, die im ersten Artikel des Gründungsdokuments der Internationalen Genossenschaftsuniversität vom Mai 1977 festgehalten wird: ,,Die angestrebte Universität ist eine genossenschaftliche (cooperative) Universität, d.h. eine Universität mit solidarischen Kreativitäten nach Methoden der Aktionsforschung, dezentralisiert in ihren Programmen extra muros, frei und offen und setzt die Perspektiven permanenter Weiterbildung in der Optik ständiger Forschung fort." (11)

Die Aufforderung des Internationalen Genossenschaftsverbandes machte, wie Desroche selbst sagt, aus der Gelegenheit einen Dieb .(12) In der bündigen Formel: Universität für Erwachsene mit kreativer Aktionsforschung der praktischen Arbeit und praktischen Lebensbedingungen, sollen die Erfahrungen des Interuniversitären Genossenschaftsinstituts auf die internationale Ebene ausgeweitet werden.

4.1. Eine Universität für Erwachsene - Empfehlungen internationaler Organisationen.



Desroche kann sich bei seinen Bemühungen um Öffnung der Universität für Erwachsene auf wichtige Empfehlungen internationaler Organisationen berufen.

4.1.1. Richtlinien des leitenden Komitees für Weiterbildung beim Europarat

,,Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, während des ganzen Lebens lernen zu können."

,,Die Bildung muß von zeitlichen undräumlichen Zwängen befreit werden durch erweiterte Mittel für Fernunterricht und Selbstbildung."

,,Jedem Studierenden (ob jung oder erwachsen) sollen Möglichkeiten geboten werden, Bildungsfortschritte nach seinem eigenen Rhythmus machen zu können."

,,Es soll ein ständiges Beratungs, Orientierungs und Unterstützungssystem eingerichtet werden. Das Tun soll gefördert und das Lernen bloßer Kenntnisse ersetzt werden durch Übernahme von Aufgaben."

,,Das Vielwissen soll vertieft werden durch begrenzte, aber fachübergreifende Bereiche."

,,Für die Erwachsenen sollen Möglichkeiten geschaffen werden, ihre allgemeine berufliche Bildung von jedem beliebigen allgemeinen oder beruflichen Niveau aus wieder aufnehmen zu können."

,,So wenig wie möglich sollen Studium und Arbeit getrennt werden. Die Interessen der Studierenden und deren Motivationen finden sich nicht nur in der Schule, sondern fast immer draußen; daher die Wichtigkeit, wenn man sich auf ihre Motivationen stützen will, die Tatsachen und Dinge des täglichen Lebens kennenzulernen.(13)

4.1.2. Die OECD (Organisation for Economic Cooporation and Developement = Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) sagt in ihrem Bericht von 1974 über die Weiterbildung:

,,Man muß die Erwachsenenbildung als integrierenden Bestandteil des allgemeinen Bildungssystems betrachten und nicht nur als Nebensache, die im Nachhinein für besondere Personenkategorien eingerichtet wurde, die in ihrer Ausbildung gescheitert sind oder Liebhaberei für Hochschule oder kulturelle Fragen hegen."

,,Man soll nicht nur erklären, dass die Erwachsenenbildung wichtig sei, man muß ihr auch die Mittel geben, operationell eine erwachsene öffentliche Institution zu werden." (14)

4.1.3. Die UNESCO-Dokumente bezüglich der Erwachsenenbildung sind fast unüberschaubar. Die wichtigsten Texte stammen aus den Jahren 1972 und 1977.

Im EdgarFaurebericht (1972) heißt es:

,,Die Strategien einer linearen Expansion können nicht mehr gerechtfertigt werden, weder im Hinblick auf die Ergebnisse noch auf die Methodologie. Sobald ein Bildungssystem sich auf eine grosse Zahl anwenden läßt,muß man die Strategien ändern, muß man vom Quantitativen zum Qualitativen übergehen, von der Nachahmung und Reproduktion zur Erforschung von Innovationen, von uniformen Vorgangsweisen zu diversifizierten Alternativen."

Und: ,,Das gegenwärtige Jahrzehnt sollte geprägt sein durch die Einführung von Strategien für Bildungsalternativen."(15)

Schließlich einige Sätze aus den Empfehlungen der 19. UNESCO-Konferenz von Nairobi 1976 über die Entwicklung der Erwachsenenbildung:

,,Der Zugang der Erwachsenen zur Bildung in der Perspektive ständiger Weiterbildung macht einen wesentlichen Aspekt des Rechts auf Bildung aus."

,,Durch die ständige Wechselwirkung von Aktion und Reflexion ist der Mensch in einem solchen Bildungsprozess Motor seiner eigenen Bildung."

,,Man muß dabei anerkennen, Dass jeder Erwachsene auf Grund seiner erlebten Erfahrung Träger einer Kultur ist, die ihm erlaubt, gleichzeitig Unterwiesener und Unterweisender zu sein im Bildungsprozess, an dem er teilnimmt."



,,Man muß die Elemente und die Ressourcen für die Erstellung der Inhalte einer verwirklichbaren Erwachsenenbildung aus der Erfahrung schöpfen, die von der Arbeit vermittelt wird."

,,Die Beziehungen zwischen dem Erwachsenen im Weiterbildungsstadium und dem Erwachsenenbildner müssen auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung und der Zusammenarbeit erfolgen."(16)

Diese internationalen Empfehlungen werden gekrönt durch die Worte des Direktors der UNESCO, M'Bow, der anlässlich seiner Ernennung zum Ehrendoktor der Universität Uppsala u.a. sagte: ,,Eine der neuen Funktionen der Universität besteht in der Teilnahme an kollektiven Aufgaben, in der Bereitschaft, ebenso viel von der Bevölkerung zu lernen, als von wissenschaftlichen Studien... deshalb muß die Universität auf ihre Stellung als Zitadelle oder als hinter hohen Mauern verschanzte Garnison verzichten, auf die sie manchmal gepocht hat, wo eine kleine Zahl von Besitzern von Wissen sich isolierten, indem sie den Anschein gaben, sich zu weigern, die Kenntnisse, die ihre Macht begründeten, zu teilen." (17)

Der liberale Studienrahmen an der Ecole pratique des Hautes Etudes (E.P.H.E.), die Erfahrungen mit dem Interuniversitären Genossenschaftsinstitut (I.C.I.), die Anregungen und Empfehlungen internationaler Organisationen zur Erwachsenenbildung, zusammen mit zahlreichen Kontakten zu ausländischen Universitäten führten Desroche zur Gründung einer Nord-Süd-Universität für Erwachsenenbildung auf kooperativer Basis.



Anmerkungen



1. ,,Coopérer, Coopération, Coopératif" bedeutet im weitesten Sinn ,,mitwirken, Mitwirkung, mitwirkend" und läßt einen größeren organisatorischen Spielraum offen als das deutsche Wort ,,Genossenschaft".

2. Vgl. Imhof, Arthur, E., Die Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris, in: Geschichte und Gesellschaft 1981/2, S. 286 293.

3. Zit. nach Desroche, Henri: ,,De l'éducation permanente a une recherche permanente en promotion d'adultes", in: Archives de Sciences Sociales de la Coopération et du Developpement

(A.S.S.C.O.D.), 52/53, 1980, S. 19.

4. Desroche, Henri, - Signification du marxisme, Paris 1949; Les Shakers americains, Paris 1955; Marxisme et religion, Paris 1962; Socialismes et sociologie religieuse, Paris 1965.

5. Aus: ,,Un réseau de parcours", in: A.S.S .C.O.D., 51/52,1980,S.34 ff

6. Desroche gehört nicht zu den marxistischen Theoretikern Frankreichs.

7. Aus: ,,Annexe II", ,,Annexe III", in: A.S.S.C.O.D., 61, 1982, S. 93 101.

8. Aus: A.S.S.C.O.D, 52/53, 1980, S. 31

9. Personenregister des Centre Coopératif de Recherche Action Développement de Bourgogne, Studienjahr 1981/82

10. Desroche, H., ,,Automne 78: Saison tournante en U.C.I." in: A.S.S.C.O.D., 4,1978, S. 12

11. Desroche, H., „De l'éducation permanente à une recherche permanente en promotion d'adultes", in: A.S.S.C.O.D., 52/53, 1980, S. 29

12. L'occasion était trop belle pour ne pas faire un larron et même une kyrielle de larrons dans un reséau francophonique ,du Nord au Sud et de l'Est à l'Ouest ...,, Desroche, H. :,, Autommne 78:Saison tournante en U.C.I.,", in: A.S.S.C.O.D. No. 46, 1978, S.12.

13. Schwartz, B., Education permanente, Fondement d'une politique éducative intégrée, Strasbourg, Conseil de l'Europe, 1971, S. 59. Education permanente, Strasbourg, Conseil de l'Europe, 1971, 400 S. Vgl. auch Furter, P., La planification et l'education permanente UNESCO, I.I.P.E. 1977, S.41 und S. 63 68.

14. Stratégie pour une formation continue, 1974. Tendances et problemes, 1975, Education et vie active dans la société moderne, 1975, vgl. auch Desroche, ,, ,D'Elite' ou ,De Masse'. Ambiguités des destins universitaires", in: A.S.S.C.O.D. 48, 1979, S. 102 10 6.

Possibilités de formation pour les adultes, Bd. 1, 1977; Band II, III, IV werden erscheinen.

15. Faure, E., Apprendere à être, UNESCOFayard, 1972, S.196 und 198.

Vgl. ,,Comprendre pour Agir", UNESCO 1977, bes. S. 203-248. Williams (Gareth), Vers l'Education permanente: un rôle nouveau pour les etablissements d'Enseignement Supérieur, UNESCO 1978

16. Recommandation sur le développement de l'éducation des adultes adoptée par la conférence générale à sa 19e session Nairobi, 26 Nôvembre 1976, Tiré à part, UNESCO 13 S.

Vgl. Desroche H., ,,La recherche et l'actiôn. Vers une nouvelle sociolôgie", in: A.S.S.C.O.D., 48, 1979, S. 107120.

17. Aus der Rede von Amadou - Mahtar M'Bow über die Rolle der Universitäten in den Entwicklungsländern, gehalten am 28. Dezember 1977, an der Universität Uppsala