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Soziale Praxis - eine taugliche Orientierung für Studien?

Soziale Praxis - eine taugliche Orientierung für Studien?

1. Fragestellung

1.1 Die praktische Seite der Frage

Ein Bildungsweg, der mit einem Diplom DHEPS abschließt, tut gut daran, sich Gedanken darüber zu machen, was mit "Sozialer Praxis" gemeint ist. Dies aus drei naheliegenden Gründen:

a) für die Selektion von Kandidaten, die für einen solchen Bildungsweg 1prädestiniert sind, denen ein solcher zu empfehlen ist und die dann sinnvollerweise auch zu ihm zugelassen werden können
b) für die inhaltliche Gestaltung des Ausbildungsweges: Gegenstand der Studien, Methoden, Niveau der theoretischen Ausarbeitung, Verhältnis von theoretischer Darstellung und praktischer Intervention im realen Geschehen
c) für die Legitimation eines solchen Ausbildungsganges in der universitären und außeruniversitären Öffentlichkeit (Anerkennung, Zugang zu materiellen Mitteln)

1.2 Die theoretische Seite der Frage

Die beiden Komponenten "Praxis" und "sozial" sind ebenso Teil der Umgangssprache wie auch Teil des Repertoires der wissenschaftlichen Sprache. Umgangssprachlich wird indiziert, daß es sich um Studien handelt, die im Gegensatz zu anderen herkömmlichen Studien einen stärkeren Praxisbezug aufzuweisen haben, und das mag den Ansprüchen einer ersten Verständigung genügen; auf der Ebene eines wissenschaftlichen Diskurses geht es um eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, theoretischer Exaktheit und praktischer Effizienz in der sozialen Realität. Wo ersteres, die umgangssprachliche Verständigung problemlos zu gelingen scheint, stellen sich letzterem, einer exakten Fixierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, auch unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, bekanntlich erhebliche Schwierigkeiten. Wo nun das Spezifikum eines Studiums liegt, das sich der Forschung und der Aktion verpflichtet, also der Theoriebildung und der Praxis zugleich, ist vorerst nicht auszumachen. Dennoch sind es vor allem die oben genannten drei Problembereiche, die es als notwendig erscheinen lassen, sich diesen Schwierigkeiten zu stellen.

2. Antwortmöglichkeiten

a) Im Sinne des Versuchs einer positiven Bestimmung von "sozialer Praxis" wäre es möglich, zunächst einmal bei der bisherigen Verwendung der Begriffe "Praxis" und "sozial" in der Geschichte der Wissenschaft anzusetzen. Dies wäre wahrscheinlich etwas weitführend und ließe allenfalls die Frage offen, ob sich allein aus dem Rückgriff auf historische Sprachverwendungsweisen Kriterien ableiten lassen, die letztlich wiederum zu einer theoretischen Bestimmung des Praktischen führen.

b) Ein anderer Zugang zu einer Klärung - gleichsam ex negativo - könnte in der Abgrenzung der beiden Ausdrücke von ihrem jeweiligen Gegenteil bestehen. Zunächst einmal Abgrenzung der Praxis von Theorie, dann aber auch des Sozialen vom Gegenteil von sozial, sei es, man verstehe darunter a-sozial, anti-sozial, sozialindifferent oder nicht-sozial im Sinne von individuell, auf Einzelpersonen bezogen. Dabei stellt sich die Frage, ob theoretische Festlegung, was Theorie ist, als ein theoretischer oder praktischer Akt zu betrachten ist, oder anders formuliert, ob und inwiefern eine solche Festlegung nicht auch als ein soziales Tun einzustufen ist.

Es scheint also, daß sowohl einer positiven Bestimmung des Praktischen wie auch seiner negativen durch Abgrenzung von Theoretischem Grenzen gesetzt sind: Die positive Bestimmung der Praxis wäre über theoretisches Tun zu leisten, die negative Bestimmung setzte einen Prozeß der Theoretisierung von Theorie voraus, also eine bewußt zielgerichtete Tätigkeit von mitunter beträchtlicher praktischer Bedeutung wenn sie nicht selbst als ein praktischer Akt anzusehen ist (J.Ritsert, 1976).

Dies deutet darauf hin, daß zwischen Praxis und Theorie ein komplementäres Verhältnis besteht zumindest insofern, als sich weder das eine noch das andere für sich allein ohne zumindest implizite Bezugnahme auf das andere bestimmen läßt. Dabei ist auch ausgesagt, daß bei Unklarheiten im Praxisbegriff auch der Theoriebegriff nicht hinlänglich geklärt ist.

c) Wenn schon der Bezug auf die Geschichte der Begriffe Praxis und Theorie sich als kein rasch und unmittelbar zielführender Weg zur Klärung ihres Verhältnisses erweist, so mag es vielleicht nützlich sein, diese Auisdrücke zunächst einmal als black box zu betrachten und ihrem Stellenwert für die moderne Gesellschaft der Gegenwart nachzugehen. Dabei

zeigt sich, daß weder kopfloser Aktionismus noch konsequenzlose Gedankenspielereien hoch im Kurs und daher in der Realität auch nur selten anzutreffen sind. Was die gegenwärtigen modernen Gesellschaften jedoch besonders charakterisiert, das sind jene Arten von Theorien, die einen engen Bezug zu technischer Anwendbarkeit haben.

Die Geschichte des modernen Fortschritts versteht sich als Fortschritt jener Rationalität, die sich äußert in einer enormen Steigerung der theoretischen Tätigkeiten bei gleichzeitiger Erhöhung des gesamtgesellschaftlichen Aktivitätsniveaus, ohne daß jedoch irgendjemand von einem ausgeglichenen Theorie-Praxis-Verhältnis spräche. Demnach ist vermutlich nicht jede Aktivität als Praxis einzustufen, oder anders formuliert: Praxis muß ein Tun mit besonderen Merkmalen sein, die es noch herauszustellen gilt.

d) Die enorme Intensivierung von theoretischen und nichttheoretischen Tätigkeiten hängt engstens mit der arbeitsteiligen Organisation der Tätigkeiten zusammen: Auf der einen Seite sind die Kopfarbeiter, also jene, die Forschung betreiben und Theorien produzieren, ohne sie anzuwenden, auf der anderen aber die Handarbeiter, also die Anwender, die tätig sind, ohne daß sie genau um die näheren Bedingungen ihrer Aktivität Bescheid wüßten. Von beiden Seiten machen sich Stimmen bemerkbar, die auch auf die Nachteile einer solchen Arbeitsteilung hinweisen: Theorie weiß nichts von ihrer Anwendung und ihren Konsequenzen, und Aktivitäten wissen nicht um ihre theoretischen und theoretisierbaren Zusammenhänge. Die Gefahr ist naheliegend, daß derart arbeitsteilige Differenzierung zur Verselbständigung der jeweiligen Bereiche führt: Theorien werden dann um ihrer selbst willen produziert, ohne Rücksicht auf Anwendbarkeiten und Prüfbarkeit in der Gegenüberstellung mit der Realität, und Aktivitäten werden gesetzt und aufrechterhalten, weil sie weder um ihre Alternativen noch um ihre grundsätzliche Zweck- und Sinnhaftigkeit Bescheid wissen.

Eine Antwort auf die Frage, worin sich Studien mit dem Akzent auf "sozialer Praxis" von herkömmlichen universitären Studien unterscheiden, entzieht sich also vorschnellen Definitionsbemühungen. Eine Antwort ist vielmehr abzuleiten aus der Verfassung traditioneller universitärer Studien, die engstens mit der arbeitsteiligen Produktion von Wissen und dessen technischer Anwendung und Verwertung zusammenhängt. Die unterscheidenden Merkmale eines neuartigen Studientyps dürften wohl erst dann deutlicher hervortreten, wenn es gelingt, sichtbar zu machen, daß es mehrere Varianten kognitiver Tätigkeiten gibt wie auch ebenso unterschiedliche Arten zielgerichteten Tuns.



3. Typologie menschlicher Aktivitäten

Die eingangs gestellten Fragen bezüglich "sozialer Praxis" beziehen sich auf die Steuerung der Zulassung, die Durchführung und öffentliche Anerkennung einer Art wissenschaftlicher Studien mit (noch) ungewohnter Akzentsetzung. Dabei geht es zweifellos um die Kriterien, wie die genannten Tätigkeiten am besten auszuführen sind. Eine Tätigkeit "besser" zu verrichten kann nur heißen, sie zielführender zu verrichten. Dabei ist jedoch zu beachten, daß dies eine nachträgliche Reflexion eines Tuns ist, das bereits vorher gesetzt worden ist. Jenem Wissen nachzugehen, das dieses der expliziten Reflexion vorausgehende Tun steuert, scheint eine Möglichkeit zu sein, einer vorschnellen Entgegensetzung von Theorie und Praxis den Boden zu entziehen, da auch vorreflexives Tun weder dumm ist noch jeglicher kognitiven Orientierung entbehrt.

Wenn es jedoch nur darum ginge, artikulierbare Kriterien für die Optimierung der genannten Tätigkeiten zu finden, so wäre wenig gewonnen für den Versuch, das Verhältnis von Theorie und Praxis und so letztlich den Praxisbegriff neu zu bestimmen. Denn Theorie würde wiederum nur jenes Wissen zu liefern haben, damit das Tun sich an entsprechenden Orientierungen ausrichten kann. Es würde nicht sichtbar werden, daß dem Tun eine Orientierung, ein bestimmtes Wissen imman1ent ist, das keineswegs als theoretisches zu betrachten ist.

3.1 Theoretische Aktivitäten, oder: Varianten kognitiver Tätigkeit

Bei Aristoteles, der sich als erster mit der Differenzierung von Typen befaßte, finden sich verschiedene Anhaltspunkte für eine Auseinandersetzung mit dem Stellenwert von Theorie und theoretischer Aktivität. Zunächst einmal (vgl. Nikomach. Ethik) im Zusammenhang mit der Frage, wie der Mensch sein höchstes Lebenssziel, das Glück, realisieren könne. Dabei unterscheidet Aristoteles vier Grundweisen der Lebensführung (O.Höffe 1979, S.29): das auf Genuß, auf Gelderwerb, auf Politik und auf Theorie gerichtete Leben. Die beiden ersten scheidet er als unzweckmäßig aus, weil sie einmal den Trieben und Leidenschaften, also der Unvernunft unterworfen sind, dann aber weil das, was lediglich Mittel zur Lebensvorsorge sein kann, selbst zum letzten Lebenszweck erhöht wird. So bleiben nur zwei Formen vorbildlichen Menschseins, die sich in der Realisierung der politischen Natur und der Vernunftnatur konkretisieren. Die politische Vernunft orientiert sich an der Klugheit, die theoretische Vernunft hingegen ist auf den Erwerb von Weisheit ausgerichtet.



An anderen Stellen seines Werkes entwickelt Aristoteles eine gestufte Folge von Wissensformen. Diese hat folgende Gestalt (O. Höffe 1979, 25):

Wahrnehmung - aisthesis
Erinnerung - mneme
Erfahrung - empeiria
Kunst und Wissenschaft - techne und episteme
Weisheit - philosophia

Alles Wissen verdankt sich dem logos, der die Dinge in verschiedenen Formen zur Erscheinung bringt. Die unveränderlichen, notwendigen Dinge zeigen sich im
Geist - nous
Wissenschaft - episteme
Weisheit - sophia,

die veränderlichen, nichtnotwendig seienden Dinge hingegen in der
Kunst - techne u.
Klugheit - phronesis

W.Welsch unterscheidet bei diesen verschiedenen Typen des Wissens Fundamentaldifferenzen und Binnendifferenzen. Fundamentaldifferenzen bestehen, soferne sich Wissenstypen auf unveränderliche, notwendige oder veränderliche, nicht notwendig seiende Dinge beziehen. Die Unterschiede zwischen den Wissenstypen innerhalb dieser übergeordneten Strukturierung hingegen sind lediglich als Binnendifferenzen zu betrachten, wo es Übergänge, Verbindungen und Kooperation zwischen den einzelnen Typen gibt (W. Welsch 1988, S.283). Wo fundamentale Differenzen vorliegen, sind jedoch Übergänge und Zusammenwirken weder denkbar noch wünschbar.

Bringt man diese verschiedenen Formen des Wissens mit den menschlichen Fähigkeiten in Verbindung, die dabei ins Spiel kommen, so tritt unvermittelt ein Unterschied zwischen Theoretischem und Praktischem hervor. Ersteres hat es mit Unveränderlichem zu tun, wie beispielsweise der Mathematik in ihrer strengen Exaktheit, letzteres hingegen mit der Gewinnung von Glück, dem Gelingen des Lebens, der Auseinandersetzung mit Veränderlichem und Situationsabhängigem. Das Wissen der praktischen Vernunft weist demnach eine andere Struktur auf: es ist nicht deduktiv, sondern situativ, darauf ausgerichtet, in bestimmten Umständen das Richtige zu finden: die Feldherrenkunst im Kriege, die Heilkunst bei Krankheit, die Pädagogik in der Erziehung. Das situative Wissensvermögen ist bei Aristoteles die phronesis, die sich nicht auf die Postulate der Exaktheit einläßt, wie es das theoretische Wissen verlangt, sondern auf scheinbare Ungenauigkeit bei situativer Bestimmung des einzelnen und der richtigen Anwendung im Einzelfall.

Im Gegensatz zur traditionellen Philosophie, die praktische Fragen im herkömmlichen Stile der theoretischen Vernunft behandelte, hatte Aristoteles jedoch einen fundamentalen Unterschied markiert, indem er die phronesis als aisthesis, also als Wahrnehmung bezeichnete. Richtet sich Wissen auf das Allgemeine, so die Wahrnehmung auf das einzelne, dem der Status eines letzten Prinzips zuzuerkennen ist. Im theoretischen Bereich ist der nous das Gegenteil von aisthesis, im praktischen hingegen kommt der aisthesis die Wertigkeit des nous zu (W. Welsch 1988, S.281).

Übergänge zwischen theoretischer und praktischer Vernunft gibt es in dieser Sichtweise nur in der Form illegitimer Übergriffe. Den rationalen Differenzen liegen regionale zugrunde und daher gerät zum philosophischen Skandal, wenn im Namen der theoretischen Vernunft über die Praxis verfügt wird. Nach Welsch (1988, S.283) ist der Gebildete daran zu erkennen, daß er weiß, welcher Genauigkeit es in welchem Feld bedarf und ist das Anliegen, die Rationalität der Lebenswelt vor den Imperativen der mathematischen Rationalität zu schützen, in der Neuzeitkritik verstärkt aktuell und bedrängend gegenwärtig.

Auch I. Kant setzt eine strikte Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft voraus. Doch im Gegensatz zu Pascal, für den es keine Verbindung zwischen den Ordnungen gibt, sucht Kant (s. W. Welsch S.291) Übergänge zwischen den drei Formen der Vernunft: dem Verstand (=theoretische Vernunft), der Vernunft (= praktische Vernunft) und der Urteilskraft (= ästhetische bzw. teleologische Vernunft). In seinem Bemühen, Übergänge zu finden, geht Kant nach Welsch über Aristoteles hinaus, will also die Vielheit bewahren, ohne die Vernunft (hier übergeordnet: alle drei Formen der Vernunft) preiszugeben.

Daher können heute verschiedene Denker bei Kant anknüpfen (W.Welsch 1988, S.293), doch jeweils von einem anderen Ansatz aus: die Postmodernisten französischer Provenienz, die sich auf den Vielheitstheoretiker beziehen, für den Grenzüberschreitung eine transzendentale Illusion ist, und auch die Modernisten deutscher Provenienz, die den

Systemphilosophen favorisieren, der über den Differenzen den systematischen Zusammenhang betont.

Diese aristotelischen Einteilungen haben im einzelnen längst ihre ausschließliche Gültigkeit verloren. Geblieben aber sind die verwendeten Begriffe, allerdings mit geänderten Bedeutungen. Für das Theorie-Praxis-Verhältnis scheint wichtig festzuhalten, daß Wissen nicht schlechthin Theorie ist und daß Wissen sich in verschiedenen Formen zeigt, je nachdem, welchen Quellen es sich verdankt und auf welche Ziele es gerichtet ist. Theorie ist für Aristoteles jene Aktivität, bei der Ziel (ergon) und Vollzug (energeia) zusammenfallen, also Tätigkeit um ihrer selbst willen, daher auch Praxis in ihrer höchsten Form. Das praktisch-politische Handeln ist ebenfalls Praxis, doch enthält dieses auch poietische Momente, ist auf Ziele ausgerichtet, die außerhalb des Vollzuges selbst liegen. Das Wissen der theoretischen Vernunft wird mit der Weisheit in Verbindung gebracht, das der politisch-praktischen mit der Klugheit.

3.2 Praktische Aktivitäten, oder : Arten zielgerichteten Tuns

Wenn hier von "praktischen" Aktivitäten die Rede ist, dann vorerst wieder nur in jenem höchst unscharfen Sinn, der vor allem einem Gegensatz zu Theorie Rechnung tragen soll. Wenn darunter ein Wissenssystem ü b e r Dinge verstanden wird, so wird bereits wieder ein spezifisch neuzeitlicher Theoriebegriff unterstellt, der Praxis zu Anwendung von Theorie verkümmern läßt. Damit sind die Akzente grundsätzlich wieder anders gesetzt als bei Aristoteles, für den praktisch-politisches Handeln kreatives Tun ist und Theorie auch ihr Ziel in sich selbst haben, mit Praxis identisch sein kann.

Ebenfalls unter Bezugnahme auf Aristotels unterscheidet H. Arendt (1981, S.14) drei Grundtätigkeiten eines aktiven Lebens: Arbeit, Herstellen und Handeln. Dabei sichert Arbeit das Lebensnotwendige für das Individuum und das Weiterleben der Gattung, das Herstellen ist auf die Errichtung einer künstlichen Welt gerichtet, die dem flüchtigen Dasein einen gewissen Bestand und Dauer gibt, und das Handeln schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte. Arbeit und Herstellen dienen dem für die Menschen Notwendigen und Nützlichen, Handeln hingegen ist die im eigentlichen Sinne politische Tätigkeit.

In einer solchen Sichtweise spiegelt sich die Tatsache, daß das späte Mittelalter die Akzente bereits anders gesetzt hatte als die Antike. Die theoretische Lebensform wurde als vita contemplativa verstanden, die vita activa hingegen umfaßte alle Tätigkeiten, die der Muße entgegengesetzt waren. Vita activa ist dabei jedoch keineswegs als deckungsgleich mit der politischen Lebensform im aristotelischen Sinne zu betrachten.

Mit Beginn der Neuzeit kam es wieder zu einer Verschiebung in der Gewichtung der Tätigkeiten: An die Stelle der früheren Hochschätzung der theoretischen Lebensform gegenüber der vita activa trat nun eine Aufwertung jener Tätigkeiten, die unmittelbar auf das Notwendige und Nützliche gerichtet waren: der Arbeit und des Herstellens. Sogenannte Theorie verstand sich als Rekonstruktion der Gesetze, denen das Geschehen der Natur gehorcht. Die Natur galt es zu erkennen, um die Verfügungsmacht des Menschen über sie zu vergrößern.

Praktische Tätigkeiten unterscheiden sich von theoretischen, wie schon diesen wenigen Beispielen zu entnehmen ist, nicht dadurch, daß ihnen jeder Bezug zu Wissen oder theorieähnlichen Momenten völlig fehlt. Der Unterschied ist vielmehr darin zu sehen, daß es sich um Aktivitäten handelt, die auf die Realisierung bestimmter externer Ziele bzw. Zwecke gerichtet sind. Aktivitäten des Typs Arbeiten und Herstellen bezwecken die Sicherstellung des Lebensnotwendigen und die Errrichtung einer künstlichen Welt, Aktivitäten des Typs Handeln und Tun hingegen richten sich hingegen auf die kreative Gestaltung der politisch-sozialen Verhältnisse bzw. auf die Selbstverwirklichung des tätigen Subjektes selbst. Arbeiten und Herstellen bedienen sich des technischen Wissens über Natur und deren Gesetze, Handeln und Tun aber sind der kreativen Gestaltung der menschlichen Gegebenheiten zugeordnet.

Bei seiner Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Tun weist C. Castoriadis (1978, S.121 f) die Unterstellung, ohne vollständige Theorie gebe es kein bewußtes Handeln, entschieden zurück. Denn die geschichtliche Welt sei die Welt des menschlichen T U N S , das in einer Beziehung zum Willen stehe, die der Klärung bedürfe. An Hand der beiden Grenzfälle "Reflexhandeln" und "Technik", also des vollkommen unbewußten Reagierens und der rein rationalen Tätigkeit stellt er die Natur des Tuns als das heraus, was Geschichte konstituiert und in der Praxis Neues hervorbringt. Theorie ist nur ein Ausschnitt, ein besonders geartetes Tun: der Versuch, die Welt zu denken, ohne zu wissen, was Denken eigentlich genau heißt. Denn Realität ist weder totale Ordnung noch totale Unordnung, entspricht weder dem Ideal der exakten Geometrie noch dem Chaos, sondern ist das Produkt schöpferischer Gestaltung. Praxis ist jenes Tun, das auf die Förderung der Autonomie des oder der anderen gerichtet ist, sie stützt sich auf ein Wissen, läßt aber auch selbst stets neues Wissen auftauchen, "weil sie die Welt in einer besonderen und zugleich allgemeinen Sprache zum Sprechen bringt" (C. Castoriadis 1978, S.130).

Im "Traktat über die Klugheit", einer Reinterpretation der thomistischen Tugendlehre, unterscheidet J. Pieper (1955, S.62) zwei Grundformen des menschlichen Wirkens: das Tun (agere) und das Machen (facere). Dabei sind das "Werk" des Machens die sachhaften Gebilde künstlerischer und technischer Gestaltung, das Werk des Tuns hingegen wir selber. Die Vollendung des Tun-Könnens ist die Klugheit, die Vollendung des Machen-Könnens hingegen die "Kunst" (im Sinne des Thomas v. A.). Kunst ist daher die "rechte Vernunft" des Machens (recta ratio facibilium), Klugheit aber die "rechte Vernunft" des Tuns (recta ratio agibilium).

Was mit dem Bereich des Praktischen als eines eigenständigen Aktivitätsbereiches angesprochen wird, versuchen die verschiedenen Autoren durch Abgrenzungen oder Kontrastierung deutlich zu machen: Handeln im Gegensatz zu Herstellen und Arbeiten, Tun im Gegensatz zu Machen, Praxis im Gegensatz zu reflexartigem Agieren oder Realisierung technischer Zweck-Mittel-Relationen. Praktische Aktivitäten sind nicht dadurch ausgezeichnet, daß ihnen der Bezug zum Wissen fehlte, sondern vielmehr dadurch, daß sie von einem Bewußtsein und der Absicht getragen sind, menschliche Verhältnisse und Geschichte schöpferisch und produktiv zu gestalten.

3.3 Zum Verhältnis von theoretischen und praktischen Aktivitäten

Weiter oben (p. ) wurde darauf hingewiesen, daß Berufungen auf Kant von unterschiedlichen Positionen aus möglich und an der Tagesordnung sind, daß bei Kant selbst das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft, also von Theorie und Praxis, wenn nicht ungeklärt geblieben, so doch unterschiedlich interpretierbar ist. Für G. Prauss (1983,S.9) hängt dies damit zusammen, daß die Philosophie Kants kein engültig ausgearbeiteter Lehrbestand ist, sondern eine Abfolge von Experimenten, von Vorstößen ins Unbekannte, sodaß die grundsätzlichen Fragen dieser Philosophie, trotz der unüberschaubaren Fülle an Literatur, nach wie vor offen sind. Dies gelte insbesondere für seine Moralphilosophie, den Notbehelf nach dem Scheitern des Planes für die Praktische Philosophie.

Denn in der ursprünglichen Konzeption hatte Kant seine Philosophie als ein einziges Werk geplant, wie einem Brief von 1772 an M. Herz zu entnehmen ist (vgl. G. Prauss 1983, S.147). Kant hoffte, den "ersten Teil" dieses Werkes, nämlich den "theoretischen", schon binnen drei Monaten fertigstellen zu können. Doch nahm dies zehn Jahre in Anspruch, bis 1781 eben nur dieser theoretische Teil erschien, und zwar unter dem Titel "Kritik der reinen Vernunft". Praktische Philosphie erscheint nur noch als reine Moral, die es mit dem Willen zu tun hat, von dem jedoch in der transzendentalen Philosophie zu abstrahieren sei. Die ursprünglich geplante Einheit fällt also in der Realisierung auseinander in Transzendentalphilosophie oder Theoretische Philosophie und in Moralphilosophie oder Praktische Philosophie. Die praktische Theorie bzw. eine Theorie der Willensfreiheit als solcher oder eine transzendentale Handlungstheorie blieb unentfaltet, weil Kant nicht in der Lage war, einen vom Moralgesetz unabhängigen Zugang zur Willensfreiheit zu finden.

Wichtig ist die Feststellung, daß Kant, in Anlehnung an J.J. Rousseau, das Praktische im Menschen in seinem Willen und seiner Freiheit zu begründen versuchte. Im Gegensatz zur Aristotelischen Philosophie, die Wollen und Handeln in so etwas wie Trieben, Neigungen, Begierden oder Bedürfnissen verwurzelt sah, ging es Kant im Ansatz darum, Wollen als Prinzip von Handeln aus dem Verhältnis eines Subjektes zu sich selbst abzuleiten, als Selbstbestimmung sichtbar zu machen. Doch eben dies, auch das Wollen als eine Sache der Vernunft darzustellen, gelang Kant ebensowenig wie der Nachweis, daß ein theoretisches Selbstverhältnis bereits auch ein praktisches sei. Denn Subjektivität ist für Kant Intentionalität, und als solche grundsätzlich Praktizität im Erkennen und im Handeln, in Theorie und Praxis. Doch die Aufgabe, diese Intentionalität in ihrer Vollstruktur zu entwickeln, hat nach G. Prauss (1983, S.16) Kant seinen Nachfolgern überlassen. Seit Kant ist jedoch diesbezüglich wenig geschehen, die allgemeine Handlungstheorie ein Stiefkind der philosophischen Forschung geblieben.



4. Zwischenbilanz oder Resume?

Eingangs wurden einige Fragen aufgeworfen, auf die sich, wie ersichtlich, keine knappen, raschen und eindeutigen Antworten geben lassen. Dies bedeutet aber keineswegs, die Bemühungen um Klärung als ergebnislos und vergeblich einstufen zu müssen. Doch sind diese Bemühungen hier nicht zu ihrem Ende zu bringen. Daher einige abschließende Überlegungen, die jedoch mehr den Charakter einer vorläufigen Zwischenbilanz haben denn einer definitiven Schlußfolgerung.

4.1 Zur theoretischen Seite
der Frage, inwiefern "Soziale Praxis" eine taugliche Orientierung für universitäre Studien sein kann, ist anzumerken, daß die Alltagssprache hier vorschnell eine Differenz unterstellt, die wenig Raum läßt für die Frage nach der Einheit von Theorie und Praxis, wie sie der wissenschaftliche Diskurs stellt. Für diesen sind zwei Denktraditionen von vorrangiger Bedeutung: die aristotelische und die kantische. Erstere betont die Differenz und die Eigenständigkeit der beiden Bereiche, betrachtet Theorie, soferne ihr Gegenstand das unveränderlich Seiende ist, als Form der Praxis, doch ist Theorie nicht die dem Einzelnen und Veränderlichen angemessene Wissensform. An deren Stelle tritt die phronesis, die Klugheit, das situationsgemäße Wissen, das seine Rationalität der aisthesis, der Wahrnehmung des einzelnen verdankt. Letztere, die kantische Tradition, bedeutet einen Bruch mit der aristotelischen, weil sie mit J.J. Rousseau nicht das animal rationale, sondern das animal liberum als ihren Ausgangspunkt betrachtet. Neueren Forschungen zufolge ist die Entfaltung einer Praktischen Philosophie bei Kant jedoch hinter seinen ursprünglichen Absichten zurückgeblieben, sodaß sein Werk unterschiedliche Interpretationen zuläßt, in der Grundtendenz jedoch Theoretisches und auch Praktisches von der Intentionalität der Subjektivität her zu bestimmen sucht. Damit ist sicher auch Kant von jenem scientifischen Theoriebegriff weit entfernt, der Rationalität logisch widerspruchsfreien Aussagensystemen vorbehält und alles Praktische in die Nähe des Irrationalen rückt.

4.2 Als praktische Seite
der Frage wurden angesprochen die Probleme der Zulassung zu, der Gestaltung und Legitimation von universitären Studien, die den Anspruch erheben, auf soziale Praxis ausgerichtet zu sein. Für Antworten lassen sich beiden hier angeführten Denktraditionen Anhaltspunkte und Argumente entnehmen.

Aristotelisch gedacht handelt es sich um Studien, deren Gegenstand soziale Situationen bzw. Problemkostellationen sind, die schöpferische Neugestaltung wenn nicht verlangen so doch zumindest zulassen. Für die Erkenntnis der Eigenart solcher Situationen ist weniger die Übertragung allgemeiner Theorien maßgeblich als vielmehr die aisthesis, die Wahrnehmung des je Besonderen, und Eingriffe der Neugestaltung verdanken ihr Gelingen nicht der Richtigkeit von Theorien, sondern dem klugen Agieren nach den Erfordernissen und Möglichkeiten der gegebenen Umstände.

Auch aus einer Anlehnung an Kant im hier skizzierten Sinne ergeben sich Möglichkeiten, praxisorientierte Studiengänge als vertretbar und wünschbar erscheinen zu lassen und Anhaltspunkte für ihre Konkretisierung zu finden. Voraussetzung ist allerdings, sich des Ansatzpunktes des frühen Kant zu erinnern, der eben die Freiheit als das den Menschen besonderns kennzeichnende Merkmal betonte. Diese Freiheit bedeutet Spontaneität sowohl im Erkennen wie auch im Tun, das Praktische ist auch hier nicht das ganz andere des Theoretischen, sodaß praxisorientierte Studien keinesfalls in die Nähe des A-Theoretischen, dem zureichende Rationalität abzusprechen ist, gerückt werden können.

Für eine Zulassung zu praxisorientierten Studien, die Forschung und Aktion als ihre gleichrangigen Ziele betrachten, ist deshalb die Vertrautheit und Nähe zu einem besonderen sozialen Feld zu fordern, das Bewußtsein um mögliche Veränderbarkeit und der Wille, Veränderungen auch durchzuführen. Die Gestaltung solcher Studiengänge als Realisierung von Forschung orientiert sich mehr an der Erforschung der Eigenart des Besonderen denn an Hypothesenprüfung und der Formulierung verallgemeinerbarer Aussagen. Theorie und Praxis sind in gleicher Weise Quelle von Erkenntnis, die darauf gerichtet ist, Wirklichkeit zur Sprache zu bringen, damit Veränderungen einzuleiten und neue Konstitutionsprozesse sozialer Realität durchzusetzen.

Herkömmliche universitäre Studien sind keineswegs so klar definiert und reguliert, daß sie nicht auch - mitunter in beträchtlichem Ausmaß - für aktionsorientierte Studien als unerläßlich geforderte Merkmale aufweisen können. Doch in der Regel handelt es sich bei ihnen um ein weitgehend standardisiertes Lernangebot mit einem hohem Anteil an allgemeinem Wissen.

Die Schwierigkeiten einer Legitimierung praxisorientierter Studiengänge liegen daher mehr darin, daß sie die Ansprüche der Tradition und die Selbstverständlichkeiten der Gegenwart in Frage stellen denn in einem argumentativen Notstand. Ein solcher kann nur auf dem Boden einer vorwissenschaftlichen Entgegensetzung von Theorie und Praxis entstehen, die sich allerdings bestens dafür verwenden läßt, die derzeit bestehenden Formen universitärer Studien als die allein vertretbaren erscheinen zu lassen. Damit aber bleiben jene aktiven Personen von höherer Bildung ausgeschlossen, die durch ihre Studien die Veränderung lokaler oder regionaler Verhältnisse vorantreiben wollen und daher für eine Transformation der Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zu leisten in der Lage sind. Die zunehmende Verbreitung praxisorientierter Studien mag daher für das bestehende universitäre System ein Anlaß sein, auch theoretische Forschung als Teil des gesellschaftlichen Tuns zu betrachten und darin eine Antwort auf aktuelle Erfordernisse sehen.



Literatur

Arendt H., Vita Aktiva oder vom tätigen Leben, München 1981
Heller A., Von einer Hermeneutik in den Sozialwissenschaften zu einer Hermeneutik der Sozialwissenschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1987) 3, 425-452
Höffe O., Ethik und Politik, Frankfurt 1979
Höffe O., Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München-Salzburg 1971
Pieper J., Traktat über die Klugheit, München 1955
Prauss O., Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt 1983
Ritsert J., Praktische Implikationen in Theorien, in: ders. (Hrsg.), Zur Wissenschaftslogik einer kritischen Soziologie, Frankfurt 1976
Welsch W., Unsere postmoderne Moderne, Frankfurt 1988