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Université Coopérative und
der Modellversuch "Projektstudium" in Linz

Edeltraud Ranftl

Université Coopérative Internationale und der Modellversuch ,,Projektstudium" in Linz

In diesem Beitrag werden zunächst die Grundideen und das Bildungsmodell der Université Coopérative Internationale (U.C.I.) kurz dargestellt. Des weiteren wird der Versuch, dieses Modell in den österreichischen Kontext zu übertragen, aufgezeigt und die praktische Umsetzung der Idee im Modellversuch ,,Projektstudium" in Linz beschrieben, vom Entwurf ,,Studium Irregulare für berufsbezogene Sozialwissenschaften" zum Abschluss der Studien mit einem ,,Diplom der Höheren Studien der Sozialen Praxis" der Universität Straßburg.

Leitideen und Bildungsmodell der U.C.I.

Die U.C.I. wurde 1976 gegründet und ist ebenso wie Open University und Fernuniversität bzw. -studien für bildungswillige Erwachsene konzipiert. Sie ist eine Netzwerkuniversität mit Studiengruppen von unterschiedlicher Größe in circa zwanzig Ländern, vorwiegend in Afrika und Lateinamerika. Zentralen sind in Paris und Québec. Die U.C.I. ist eine saisonnaire Universität extra muros und veranstaltet jährlich vier Programme, und zwar im Winter in Afrika, im Frühjahr in Frankreich, im Sommer in Lateinamerika und im Herbst in Kanada.

Die Grundidee des Bildungsweges der U.C.I. ist eine recherche-action, auf der ein Studienmodell für Erwachsene aufbaut. Leute, die im Leben stehen, so die Ausgangsüberlegung, bringen einiges an beruflicher und/oder lebenspraktischer Erfahrung mit, die in herkömmlichen Studiengängen kaum relevante Beachtung findet; noch können die an unseren Universitäten üblichen Studieninhalte direkt in die Praxis umgesetzt werden. Ein Studium kann nur dann auf das praktische Leben ausgerichtet sein, wenn das Leben selbst zum Ausgangspunkt und zum Inhalt der Studien gewählt wird.

Die praktischen Erfahrungen der Erwachsenen werden hier als Wissen anerkannt und nicht wie in herkömmlichen Universitätsstudien als bedeutungslos erachtet. Dies impliziert, dass auch in der Lehre das Prinzip Erfahrung und Selbststeuerung der Studierenden Vorrang haben. Eine grundsätzliche Orientierung an den Bedürfnissen der Personen, die Aktions-Forschung betreiben, ist unumgänglich. Die Aktionsforschung ist hier eine pädagogische Methode der nicht traditionellen Wissens- und Kompetenzaneignung, die für das Konzept des lebenslangen bzw. lebensbegleitenden Lernens eine gewisse pädagogische Innovation darstellt. Sie ist ein Prozeß, der entlang eines Lebens verläuft (Aktion) und welcher durch persönliche Forschung und Unterricht, der an die jeweiligen individuellen Erfordernisse und Bedürfnisse angepasst ist, vervollständigt wird (= Forschung).

Eine Autobiographie, die eine wissenschaftliche Arbeit eines Lebens und keine bloße Lebensgeschichte ist, ist Basis und Motor dieser Aktionsforschung. Sie gibt dem Konzept die Dynamik und ist Voraussetzung für die Projektfindung. Das eigene Leben zu reflektieren und zu hinterfragen ist unumgänglich, wenn ein Studienprojekt zu entwerfen ist, das den Fähigkeiten, Bedingungen und Bedürfnissen der Person entspricht. Das aus den offenen Fragen und Problemen des Erwachsenen und seines Milieus abgeleitete Projekt ist Kristallisationspunkt des Studiums und als recherche-action zu konzipieren. Die Aktion, das Handeln wird forschend begleitet, wobei die Forschung auf die Aktion und umgekehrt, die Aktion auf die Forschung wirkt. Oder um mit Kurt Lewin zu sprechen: eine Forschung über die Aktion, die selbst die Aktion modifizieren kann(1).

Den Studierenden wird kein Unterricht zum Konsumieren vorgeschlagen, sondern sie werden dazu angehalten, eine Forschung zu produzieren. Jede/r soll sein praktisches Wissen entdecken, reflektieren, systematisieren und analysieren, um so vom einfachen Gespräch, von der Erzählung zu einer wissenschaftlichen Beschreibung und theoretischen Bearbeitung eines Projektes zu kommen, so einen Beitrag zur eigenen persönlichen Bildung und zur Weiterentwicklung der Praxis liefern.

Ausgangspunkt des Studiums sind Probleme der beruflichen und sozialen Praxis. Ein Beitrag zur Handhabung dieser Probleme ist das Ziel. Diese direkte Rückbindung ans öffentliche Leben erfordert permanente Suche nach Transfermöglichkeiten des theoretischen Wissens in die Praxis und somit eine Verankerung in der Gemeinschaft. Université Coopérative Internationale - kooperativ weist darauf hin, daß sowohl Lernende als auch ,,Lehrende" in Form einer Assoziation bzw. Genossenschaft organisiert sind. Die Wurzeln der Idee einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden gehen zurück auf Sokrates. D.h. das Modell enthält sowohl Elemente der alten ,,universitas" und entspricht gleichzeitig auch den zukunftsorientierten Empfehlungen der UNESCO für Erwachsenenbildung (Nigsch 1985, 5. 7): „Auszugehen ist vom Leben, von der beruflichen Erfahrung. dem sozialen Universum, das der Erwachsene in sich trägt, damit er selbst daraus die für ihn zweckmäßige universitäre Bildung ableite."

Im folgenden sind nochmals die wichtigsten Ideen des an Aktionsforschung orientierten Modells universitärer Erwachsenenbildung zusammengefasst: Verbindung von Forschung und Aktion, Theorie zum Zwecke einer effizienteren Praxis, lebensbegleitendes Lernen (Studium neben/mit Beruf), problembezogene Wissensaneignung und selbständige Organisation und Aufarbeitung des erforderlichen Lernstoffes, soziales Lernen in einer kooperativen Gruppe, Überprüfung und Weiterentwicklung der verfügbaren Theorie anhand der Praxis (Realität).

Gestützt auf Empfehlungen der UNESCO (Kenya 1977) ist die Inskription an keine Formalqualifikationen wie Matura, Studienberechtigungs- oder Berufsreifeprüfung gebunden. Prüfungen herkömmlicher Art, die auf Wiedergabe bzw. Verarbeitung kognitiven Wissens beschränkt sind, entfallen. Ergebnis des Studiums ist eine Forschungsarbeit im Umfang von mindestens 200 Seiten, die Gegenstand einer kommissionellen Abschlussprüfung, einer Art öffentlicher Verteidigung der Arbeit, ist. Selbstkontrolle tritt an die Stelle von Fremdkontrolle.

Die wissenschaftliche Arbeit und die neuen Kompetenzen, die durch die spezifische Verbindung von Forschung und Aktion, Theorie und Praxis erworben werden, werden bei der U.C.I. und den Collèges Coopératifs in Frankreich, die jeweils einen Vertrag mit einer Universität haben, mit der Verleihung eines Diploms am Ende des Studiums honoriert: dem ,,Diplôme des Hautes Etudes de la Pratique Sociale" - D.H.E.P.S. (Diplom der Höheren Studien der sozialen Praxis).

Versuch der Übernahme des Blldungsmodells der U.C.I. in den österreichischen Kontext und Gründung einer Studiengruppe

Seit Mitte der 70er Jahre wurden von Sozialwissenschaftlern der Universität Linz die Entwicklungen auf dem Gebiet der Aktionsforschung aufmerksam verfolgt und diskutiert. Die Weiterbildungsveranstaltung 1982 im Fachbereich Soziologie stand unter dem Thema ,,Aktivierende Sozialforschung als Bildungs- und Entwicklungsprozess". 1983 kam H. Desroche (2), der Hauptinitiator des oben beschriebenen Bildungsmodells, zu einem Vortrag nach Linz. Die Ideen und das Konzept der Université Coopérative Internationale wurden nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass einige Universitätslehrer an Arbeitssitzungen dieser Organisation teilnahmen, ausführlich diskutiert. Im Herbst 1985 kam es zur Gründung einer Studiengruppe (interessierte, berufstätige Erwachsene (3) und einige Hochschullehrer/innen) in Linz, die entschlossen war, o.a. Bildungskonzept auf österreichische Verhältnisse zu adaptieren.

Nach einigen Überlegungen, Nachforschungen und Diskussionen über die gesetzlichen Möglichkeiten, ein an Aktionsforschung ausgerichtetes Studium aufzubauen, wurden 1986 einige Entwürfe für ein Studium Irregulare ausgearbeitet und mit Experten des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung diskutiert und daraufhin überprüft, ob sie der Gesetzeslage ent- oder widersprechen. Das Ergebnis dieser Arbeiten war ein Entwurf für einen Antrag auf ,,Studium irregulare für berufsbezogene Sozialwissenschaften", der sich ganz im Rahmen der österreichischen Studiengesetze bewegt. Für die Genehmigung eines Studiums Irregulare ist der Bundesminister für Wissenschaft und Forschung zuständig. Von ministerieller Seite wurde die Studiengruppe jedoch zurückverwiesen auf die Ebene der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Johannes Kepler Universität Linz. Wie bereits seit einigen Jahren (z.B. Weiterbildungsveranstaltung 1982) wurde auch jetzt versucht, dem Studienmodell der U.C.I. und auch dem Entwurf ,,Studium irregulare" durch viele Gespräche und Veranstaltungen (4) größere Bekanntheit zu verschaffen. Die Ressentiments, Vorbehalte und Vorurteile waren bei einigen Professoren sehr groß; die Idee eines Aktion und Forschung verbindenden Studiums wurde zwar von vielen Lehrenden begrüßt, aber: ,,das ist ja Untergrunduniversität ..", „so könnte doch den SOWI-Studienzweigen die Klientel weggenommen werden" und ähnliche Bedenken wurden laut.

Mehr als ein Jahr war vergangen, die Studierenden hatten die Auflagen eines Studium Irregulare (Berufsreifeprüfung, Erwerb von Seminarscheinen, zwei Diplomprüfungen usw.) akzeptiert und verfolgten diesen Weg auch, doch gleichzeitig schien das Projekt ins Hintertreffen zu gelangen, und die Aussichten auf Genehmigung dieses Konzepts waren nicht besonders gut. Für die Projektstudent/inn/en war dieser Weg des Studium Irregulare doch etwas weiter weg von dem, was an der U.C.I. in Frankreich gemacht wurde. Es galt rasch einen institutionellen Rahmen zu finden, sodaß die Gruppe weiterarbeiten konnte. Dabei war darauf zu achten, dass die Projektarbeit nicht zu kurz kam. Nach Abwägen aller Vor- und Nachteile eines Studium Irregulare, einer Inskription an der Fernuniversität oder an der Université Coopérative Internationale beschloss die Gruppe, Kontakte mit der Genossenschaftsuniversität Paris und der „Université des Sciences Humaines" in Straßburg aufzunehmen, um zu klären, ob dort grundsätzlich eine Möglichkeit für die Linzer Projektstudent/inn/en besteht, ihre Studien abzuschließen.

Straßburg wurde deshalb ins Auge gefasst, da dort (wie an ca. 10 anderen Universitäten in Frankreich) das Bildungskonzept der U.C.I. im Studiengang ,,Diplôme des Hautes Etudes de la Pratique Sociale" verwirklicht wird, der Generalsekretär des D.H.E.P.S., G. Pigault, bereits zu einigen Arbeitstreffen nach Linz kam und die Projektstudent/inn/en eine Reise nach Straßburg unternommen hatten, um vor Ort mit Personen, die ein derartiges Diplom vorbereitet bzw. abgeschlossen hatten, zu diskutieren und offene Fragen zu klären.

Mit der Universität Straßburg wurde schließlich folgende Regelung getroffen:

Die einzelnen Mitglieder der Studiengruppe Linz inskribieren im letzten Jahr ihres D.H.E.P.S.-Studienganges an der Université des Sciences Humaines de Strasbourg". (Der Präsident und der Vizepräsident der Universität, wie auch der D.H.E.P.S.-Generalsekretär haben hierfür ihre Zustimmung erteilt.) Die weiteren Arbeiten können in Linz durchgeführt werden, zumal die Studiendirektoren (directeur d'études) vom Bildungsrat (Conseil de Formation) der Universität Straßburg anerkannt werden. Die öffentliche Diskussion bzw. ,,Verteidigung" der Abschlussarbeit kann ebenfalls in Linz vor einer Kommission stattfinden. Mindestens ein Mitglied dieser Prüfungskommission ist ein Professor der Universität Straßburg, der dort auch mit der Formation D.H.E.P.S. betraut ist. Die schriftliche wissenschaftliche Projektarbeit sowie ihre ,,Verteidigung" können in deutscher Sprache erfolgen. Das Abschlussdiplom der Linzer Projektstudent/inn/en ist ein Universitätsdiplom der Universität Straßburg. Somit wird dieses Diplom, wie alle D.H.E.P.S. in Frankreich, von der ,,Université Coopérative lnternationale" und der ,,Association Coopérative Internationale" - A.C.I. (5) anerkannt.

In Österreich wird dieser Alternative zu einem herkömmlichen Studium große Skepsis entgegengebracht. Dass das französische Modell des ,,Diplôme des Hautes Etudes de la Pratique Sociale" im deutschsprachigen Raum insgesamt wenig bekannt ist und derzeit kein großes positives Interesse erweckt, dürfte wohl weniger mit sprachlichen Schwierigkeiten als vielmehr mit einer unterschiedlichen universitären Tradition zu tun haben. Viele Vorurteile beziehen sich auf die Meß- und Kontrollierbarkeit der individuellen Arbeiten, weshalb es angebracht scheint, die von den Studierenden geforderten Leistungen etwas klarer darzustellen.

Studiendauer, geforderte und kontrollierbare Leistungen an der U.C.I.

Da die Inskription an keine Titel oder Diplome geknüpft ist, die Teilnehmer/innen "nur" über eine mindestens fünfjährige Praxis verfügen müssen, vorerst noch ein paar Worte hierzu. ,,In Anerkennung des Wertes eigener Erfahrungen schreiben manche Studiengänge Praktika vor, andere beschränken sich auf rein kognitiven Informationstransfer ... Die akademische Ehrung außergewöhnlicher praktischer Leistungen, sei es in der Verleihung des Professorentitels durch den Bundespräsidenten(was derzeit - Feb. 1988 - international wohl nicht zu großer Anerkennung verhelfen dürfte - d. Verf.), sei es eines Ehrendoktorates einer Universität, ist nur unter der Voraussetzung sinnvoll, daß damit die besondere Bedeutung der Praxis für die Theorie oder gar ihre Ebenbürtigkeit herausgestrichen sein soll." (Nigsch 1985, 5. 7) Entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung der Wissenschaft sind nicht immer von den Universitäten ausgegangen.

Vor der Zulassung zum D.H.E.P.S. durch eine Kommission muß ein Arbeitsgegenstand, der in bezug zur reinen Praxis steht, und ein begründeter Bildungsplan präsentiert werden, ausführliche Besprechungen mit einem Studiendirektor, der einen Kandidaten befürwortet, müssen stattgefunden haben. Das Thema der Aktionsforschung sowie ein Arbeitsplan müssen vorgelegt werden.

Der Studiengang selbst erstreckt sich über mindestens drei Jahre, wobei jährlich Arbeiten im Ausmaß von 360 Stunden nachzuweisen sind. Es sind dies zu Je einem Drittel:

- Arbeit in Gruppen (Studientage, lntensivsitzungen, Seminare, interuniversitäre Arbeitssitzungen),
- individuelle Arbeit (Teilnahme an Untersuchungen, Ausarbeiten von Material, redaktionelle Arbeit),
- Arbeit unter Anleitung des Studiendirektors bzw. Projektbetreuers (travail dirigé).

An der Universität Straßburg, wo die Linzer Projektgruppe ihre Studien abschließen wird, ist D.H.E.P.S. in drei Phasen geteilt:

1. Phase: 18 Monate,

Elemente:
a) Autobiographie, Projektfindung, Arbeitsplan
Sammeln und Aufarbeiten von Literatur und Dokumentationsmaterial
Lesen und Bearbeiten dessen, was es zum Thema bereits gibt - dann Präzisierung des Projekts
Methodologische Vorgangsweise des Reflektierens und Strukturierens der Forschungsproblematik

b) Kooperative Arbeit, Tagungen der Projektgruppe

Evaluation:
- Jede/r zeichnet den Weg von der Themenfindung genau nach und erklärt, begründet diesen
- genaue Bibliographie, d.h. jene Literatur, die bearbeitet wurde und die noch zu bearbeiten ist
- Forschungsplan, den sich der/die Kandidat/in selbst für die zweite Phase setzt

2. Phase: 18 Monate

Spezifische Interventionen, die sich nach den Bedürfnissen und Erfordernissen der Teilnehmer/innen oder auch der ganzen Gruppe richten
Projektfortschrittskontrolle und Projektdiskussion jedes einzelnen Projekts in den Gruppensitzungen
Aufarbeiten von Wissensdefiziten

Evaluation:

Vor einer Kommission ist die logische Struktur des Aufbaus der wissenschaftlichen Arbeit zu präsentieren

3. Phase: 6 Monate

ist vorwiegend der Endredaktion der (200 Seiten) wissenschaftlichen Abhandlung des Projekts gewidmet. In Gruppentreffen werden verschiedene Elemente der bereits schriftlich vorliegenden Arbeit(steile) präsentiert und diskutiert. Weitere Inhalte: Methodologie der Produktion der Abschlußarbeit; Ganzheitlichkeit und ,,Harmonie" der Arbeiten

,, Soutenance finale"

Präsentation und ,,Verteidigung" der wissenschaftlichen Abhandlung des Projektes vor einer Kommission (6). Die Abschlußarbeit muß einen Überblick über das frei gewählte Thema geben, mindestens 200 Seiten umfassen und den Anforderungen an eine wissenschaftliche Publikation entsprechen. Darüber hinaus muß jede/r Kandidat/in ein Dossier vorlegen, das einen genauen Überblick über' Ausgangspunkt und Verlauf der Formation gibt (livret de parcours) (7). Diese Abschlussprüfung ist Grundlage für die Verleihung des ,,Diplôme des Hautes Etudes de la Pratique Sociale" .

Studienverlauf des Modellversuchs ,, Projektstudium" Linz

Die Linzer Projektgruppe orientiert sich stark am Lernmodell der U.C.I. Die wichtigsten Gestaltungsprinzipien des Studiums sind auch hier: Verbindung von Forschung und Aktion, Rückbindung des Projekts an die Praxis-Verbindung von Theorie und Praxis. Die Lerninhalte sind bestimmt von der Notwendigkeit, Erfahrungen zu analysieren und zu systematisieren; die Studierenden organisieren individuell oder als Gruppe den Lernstoff weitestgehend selbständig. Selbsttätigkeit, Eigeninitiative, Engagement und Flexibilität sind notwendige Bedingungen, um ein an Projekten orientiertes Studium zu absolvieren.

Einige Abweichungen zum französischen Modell ergaben sich jedoch vor allem aufgrund der Tatsache, dass einerseits sehr lange Zeit versucht wurde, einen institutionellen Rahmen für dieses Modell in Österreich zu finden, andererseits dadurch, dass die Linzer Gruppe die erste ist, die im deutschsprachigen Raum versucht, ein an Aktionsforschung orientiertes Studium zu verwirklichen. Wie oben angeführt, ist die Gesetzeslage in Österreich so, dass für die Aufnahme und den Abschluss eines ordentlichen Universitätsstudiums Matura, Berufsreifeprüfung oder Studienberechtigungsprüfung Voraussetzung ist . Jene Teilnehmer/innen der Gruppe, die diese Formalqualifikation nicht aufweisen konnten, haben sich (sofern sie nicht schon durch den langen Marsch durch die Institutionen entmutigt worden waren) daran gemacht, die Berufsreifeprüfung nachzuholen. Die Prüfungsvorbereitung ist gekennzeichnet von bloßer Wissensaneignung und hat sehr wenig bis gar nichts mit den konkreten Lebenslagen der Bewerber/innen zu tun. Prüfungsangst und zusätzlicher Zeitdruck der Berufstätigen, die auch noch mitten in einem konkreten Projekt stehen, verschärften die Situation sowohl für die einzelnen Mitglieder als auch für die Gruppe (8). Die Projektfortschritte entwickelten sich dadurch unterschiedlich zwischen den zum herkömmlichen Studium Berechtigten und jenen, die dies noch nicht waren.

Da es in Österreich noch keine Erfahrungen mit an Aktionsforschung orientierten Modellen der Erwachsenenbildung gab, wurden die im U.C.I.-Modell üblichen Eingangsvoraussetzungen wie Autobiographie und Projektfindung in Linz direkt in den Studiengang aufgenommen. Dies führt selbstverständlich zu einer Verlängerung der Studiendauer.

Etwas anders organisiert ist auch die inhaltliche Arbeit der Projektgruppe. Um die Anforderungen des ,,Studium Irregulare berufsbezogene Sozialwissenschaft" zu erfüllen, wurde vereinbart, dass fachspezifische schriftliche Seminararbeiten zu erbringen sind. Jetzt, wo klar ist, dass die bestehende Gruppe zwar nicht nach diesem Plan weiterarbeiten wird, bleibt aber die Erstellung von Einzelreferaten zum Teil aufrecht. Dies dort, wo die Themenstellung sehr nahe am Projekt formuliert ist und so bearbeitet werden kann.

Bedingt durch die sehr unterschiedlichen persönlichen Ausgangslagen und die auf die jeweiligen Probleme der beruflichen und sozialen Praxis zugeschnittenen Forschungen sind die Studien- bzw. Projektfortschritte der einzelnen Mitglieder der Aktionsforschungsgruppe sehr differierend. Die ersten werden im Sommer 1988 ihre Projektarbeiten zur Begutachtung vorlegen und sich im Herbst der ,,Soutenance" (Abschlussprüfung) stellen. Sie werden mit dem ,,,,Diplom der Höheren Studien der Sozialen Praxis" der Universität Straßburg ihre Projektstudien beenden.

Abschließende Bemerkungen

Beschleunigte Innovationsprozesse und veränderte gesellschaftliche Bedingungen machen Überlegungen notwendig, wie die Universitäten den neuen Anforderungen gerecht werden können. Auf der Konferenz ,,U 2000" Forschungs- und Hochschulpolitik in Europa bis zum Jahr 2000, trat H. Fischer für ,,eine offene Universität mit freiem Zugang" ein (Fischer 1983, 5. 13). Die Absolventen sollten befähigt werden, ,,ähnliche Fachgebiete und Probleme zu verstehen, zu erarbeiten, aber auch sich selbst weiterzubilden. Die dafür erforderlichen Fähigkeiten sind durch Wissensvermittlung allein nicht zu erwerben. Mut, Aufgeschlossenheit, Flexibilität, Engagement sind Komponenten, denen wir im Bildungssystem ... zu wenig Beachtung schenken" (Fischer 1983, 5. 13) . Ferner stellt der frühere Bundesminister für Wissenschaft und Forschung fest; ,,Wenn die Forschung echten Fortschritt bringen soll, muß sie auf zwei Beinen gehen: Sie muß einerseits auf die Gesellschaft beziehungsweise auf die Wirtschaft bezogen sein und andererseits auf den Menschen" (Fischer 1983, 5. 14). Studiengänge herkömmlichen Zuschnitts können diesen Anforderungen nicht entsprechen. Auch die SOWI-Studienreform tendiert eher in Richtung Verschulung. Solange die gesetzlich fixierten Studienbedingungen auf Abprüfen von kognitivem Wissen ausgerichtet sind, bleibt die geforderte Doppelorientierung der Bildung weitestgehend uneinlösbar .

Das oben dargestellte Modell und der Versuch des ,,Projektstudiums" zeigen, dass dies tatsächliche Alternativen zum traditionellen Hochschulstudium sind, die wert sind, weiter verfolgt zu werden, wenngleich auch nur auf eine bestimmte Personengruppe anwendbar. Die Konzepte entsprechen den wohl allgemein akzeptierten Postulaten einer Verbindung von Theorie und Praxis (hier sei der Versuch ,,Wissenschafter für die Wirtschaft" erwähnt), Öffnung der Universitäten sowie den Postulaten des lebenslangen (rasch veraltetes Wissen, Forderung nach Flexibilität ...) und sozialen Lernens.

Wenngleich auch noch große Unklarheit über die Durchführung möglicher Schritte herrscht, die zu einer Anerkennung des ,,Diploms der Höheren Studien der Sozialen Praxis" durch österreichische Universitäten führen, hat sich bereits jetzt schon erwiesen, daß der Modellversuch ,,Projektstudium"" bei den einzelnen Kandidat/inn/en neben persönlicher Bildung zu größeren beruflichen Erfolgen geführt hat (z.B. Übertragung von qualifizierteren, verantwortungsvolleren Aufgaben, Angebot für berufliche Veränderung auch in Richtung ,,Akademikerposten", bessere Teamarbeit im Betrieb ...).

Anmerkungen:

(1) Im Konzept der recherche-action als Bildungsmodell für Erwachsene kommen die ,,Forscher/innen ,genau aus dem ,,Feld", das auch das ihre ist und welches sie bearbeiten wollen. Aktionsforschung wurde von H. Desroche ausgeweitet auf alle Forschung über ein Leben (i.w.S.), die eine Modifikation dieses Lebens bewirken kann und den Individuen erlaubt, sich zu verwirklichen.
(2) Die Université Coopérative Internationale ist eine Weiterentwicklung der Idee und Organisationsform der ,,Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris (sie gehört zur Sorbonne und hat u.a. auch einen Zweig für Sozialwissenschaften), an der Desroche mehrere Jahrzehnte als Professor tätig war. Aufgabe der E.P.H.E. ist es, Personen, die ein Studium abgeschlossen haben, durch starke Betonung praktischer Bezüge zu Forscher/inne/n auszubilden.
(3) Diese Erwachsenen kommen aus ganz verschiedenen Branchen, haben unterschiedliche berufliche Positionen, z.B. Hilfsarbeiter, Krankenschwester, techn. Zeichner, Sozialarbeiter/in usw.
(4) Der Vizepräsident der U.C.I., Guy Bedard (Kanada) hielt im Dezember 1986 einen Vortrag zu ,,Theorie und Praxis der Université Coopérative Internationale". Er war auch zu Arbeitssitzungen eingeladen.
(5) Dachorganisation der Netzwerkuniversität mit Sitz in London.
(6) Die Zusammensetzung dieser muß vom Präsidenten der Universität genehmigt werden. Sie besteht aus mindestens vier Personen, wobei im Falle ,,,,Projektstudium Linz" ein Professor der Universität Straßburg Mitglied dieser Kommission sein muß.
(7) Das Studienbuch ist vom Kandidaten/von der Kandidatin zu führen. Es gibt Aufschluss über den Verlauf der Studien und dient außerdem dazu, die Kommunikation zwischen Projektbetreuer/in und Kandidat/in einerseits und zwischen diesen und den universitären Instanzen andererseits festzuhalten. Im Studienbuch sind alle Arbeiten anzuführen.
(8) Einige Personen haben in dieser Phase die Gruppe verlassen. Das ursprüngliche Anliegen, ihre Praxis wissenschaftlich zu bearbeiten, hatte für sie nicht mehr viel mit dem zu tun, was jetzt gelernt werden sollte. (Subjektive Eigeninteressen am Lernen werden bei ,,Schein" -Studium und Prüfungsvorbereitung weitgehend ausgeklammert.) Es ist festzustellen, dass weit mehr Frauen als Männer ausgeschieden sind. Von ursprünglich 15 Interessenten sind jetzt noch sieben Personen (drei Frauen, vier Männer) im ,,Projektstudium" .

Literatur

Desroche, H. (1971), Apprentissage en Sciences Sociales et Education Permanente, Paris
Desroche, H. (1978), Apprentissage 2. Education Permanente et Créativités Solidaires, Paris
Fischer, H. (1983), Hochschul- und Forschungspolitik in Europa bis zum Jahre 2000, in: ibw, Wien
Hörburger, R. (1983), Die französischsprachige internationale Genossenschaftsuniversität, in: Schriftenreihe der Abteilung soziologische Theorie, Aktivierende Sozialforschung als Bildungs- und Entwicklungsprozeß, Linz
Nigsch, O. (1985), Université Coopérative Internationale. Neue Bildungswege für Erwachsene?, in: Universitäts-Nachrichten, Heft 6, Linz
Nigsch, O. (1986), Das Bildungsmodell der Université Coopérative Internationale und die Möglichkeit seines Transfers in den österreichischen Kontext, unveröff . Manuskript .