Otto Nigsch 1994 / 95
Anmerkung 20. 6. 97: Diesen Text habe ich
eingereicht zuerst bei der "Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie" und dann bei der
"Österreichischen Zeitschrift für
Soziologie". Er ist von der erstgenannten abgelehnt, von der letzteren
mit der Ersuchen um
Überarbeitung zurückgeschickt worden. Das habe ich nicht mehr
gemacht, weil ich nicht
mehr wollte. Vielleicht können andere dieses Thema kompetenter
behandeln. Die
Ablehnungen stützten sich z.T. darauf, daß der Beitrag
nichts Neues zur Auseinandersetzung
um die Prämissen des Ökonomischen Denkansatzes enthalte. Mein
Ausgangspunkt war
jedoch, daß man dazu nichts Neues sagen kann. Denn Axiome, die
letztlich metaphysische
Aussagen sind, kann ich akzeptieren oder ablehnen, jedoch nicht
argumentativ widerlegen
1. Die flüchtigen Grenzen der Soziologie
Die Tatsache ist unübersehbar, daß in den
letzten Jahren die Frage der Soziologie nach sich
selbst wieder einmal verstärkt in den Vordergrund getreten ist.
Die Form ist dabei variabel.
Einmal steht die Sorge nach einem Ausweg aus der sogenannten Krise im
Vordergrund, ein
anderes Mal die Suche nach einem Gegenstand, der ihr anscheinend
abhanden gekommen
oder doch zumindest fraglich geworden ist (so Bude 1988, S. 14). Auf
derselben Linie einer
Verunsicherung im Selbstverständnis scheint das Generalthema des
14. Österreichischen
Kongresses für Soziologie in Innsbruck 1995 zu liegen: "Die
Soziologie im Konzert der
Wissenschaften. - Zur Identität einer Disziplin".
Möglichkeiten, Ursachen dieser Verunsicherung zu
benennen, gibt es mehrere. Das Spektrum
reicht vom Befund der Normalität des Krisenhaften bis zur Annahme,
es handle sich dabei
um eine vorübergehende Erscheinung, von der These der
Selbstverschuldung bis zur
Annahme struktureller Widrigkeiten im gesellschaftlichen Umfeld, von
der Annahme eines
generellen Geltungsverlustes jener Wissenschaften, die den
performativen Imperativen des
Szientismus nicht entsprechen können oder wollen bis zur
Vermutung, daß die
Arbeitsbereiche der Soziologie von Nachbardisziplinen okkupiert und
gleichzeitig damit auch
deren bisherige Funktionen übernommen werden sollten.
Im folgenden soll es vor allem um die letztgenannte der
aufgezählten Möglichkeiten gehen.
Die Zusammenhänge, die damit angesprochen werden, lassen sich am
Begriff eines
"Imperialismus der Ökonomie" festmachen, der die Bemühungen
und Tendenzen anspricht,
ökonomische Prämissen und Methoden auch auf
nichtökonomische Bereiche auszuweiten.
Wird dem nicht entgegengetreten, so führt dies vorerst zu einer
Relativierung, dann aber zur
Negation der Berechtigung anderer, alternativer bzw. konkurrierender
sozialwissenschaftlicher Perspektiven, insbesondere der soziologischen
und politologischen.
Die weiteren Konsequenzen sind nicht nur Verschiebungen der Akzente im
wissenschaftlichen Feld, sondern gleichzeitig, was weit gravierender
ist, ein Realitätsverlust
gegenüber sozialen Ungerechtigkeiten, vorbehaltlose Akzeptanz der
Zweidrittelgesellschaft,
Legitimation von gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion, nicht mehr
diskutierte
Koexistenz von Reichtum und Armut, von Prosperität und
Verwahrlosung (Otto 1993, S.
473). Also insgesamt eindeutige Tendenzen der Entwicklung in eine
Richtung, die offenen
Auges und anscheinend auch guten Gewissens von nur einer Minorität
gewollt, doch von
einer Majorität zugelassen zu werden scheint. Die sozialen und
politischen Konsequenzen
derartiger Verhältnisse, die sich abzuzeichnen beginnen, scheinen
in hohem Maße bedrohlich
zu sein. Es wäre daher ein folgenschweres Versäumnis, die
Entdifferenzierung der
theoretischen Betrachtungsweisen, als unproblematisch zur Kenntnis zu
nehmen.
2. Der Imperialismus der Ökonomie
Als hinlänglich bekannte Beispiele für eine
Ausdehnung der ökonomischen Perspektive sei
zunächst auf die Arbeiten J. M. Buchanans und G. S. Beckers
verwiesen. Ersterer hat
versucht, mit seiner "political choice theory" die ökonomische
Methode zur Erklärung der
Prozesse im politischen Bereich anzuwenden, letzterer will sie auf
Sozialbereiche wie
Familie u.a. ausdehnen und ist für seine Bemühungen vor erst
kurzer Zeit mit der Verleihung
des Nobelpreises ausgezeichnet worden.1
Die These, die Ökonomie sei eine "imperialistische"
Sozialwissenschaft, ist in dieser
Formulierung erst jüngeren Datums, und wird von P. J. Buckley und
M. Casson (1993, S.
1035) vertreten. Diesen beiden englischen Ökonomen zufolge ist
ihre Disziplin, die
Ökonomie, eine Methode der Analyse und nicht ein besonderer
Gegenstandsbereich für
Untersuchungen. Das Spezifikum der Methode wird darin gesehen, zwei
zentrale
Grundannahmen - individuelle Optimierung und Gleichgewicht - mit
verschiedenen Reihen
besonderer Zusatzannahmen auf verschiedene Bereiche anzuwenden, also
keineswegs nur auf
das Marktsystem selbst, sondern auch auf die soziale und politische
Umwelt, in die jenes
eingebettet ist. Soziale und psychologische Erkenntnisse können
bei der Spezifizierung
interdependenter Präferenzen, die im Zentrum aller Versuche
stehen, institutionelles
Verhalten in rationalen Begriffen zu fassen, berücksichtigt
werden.
Nach Buckley und Casson liegt die Stärke
ökonomischer Theorien darin, vereinfachende
Modelle bilden zu können, während andere theoretische
Systeme, die in einem zu engen
Entsprechungsverhältnis zur komplexen sozialen Realität
stehen, zu kompliziert seien, um
noch irgendwie nützlich zu sein. Doch Simplifizierung, die immer
auch potentiell
Bedeutsames beiseite liegenlassen müsse, sei eine offene Einladung
zur Kritik. Dennoch
gelinge es der ökonomischen Theorie immer wieder, jede Kritik zu
überleben, und zwar aus
folgenden Gründen:
Der erste Grund, den die beiden Autoren angeben, beruft
sich darauf, daß die Kritik kein
besseres, bestenfalls ein komplizierteres oder überhaupt kein
System als Alternative
anzubieten vermöge. Die Attraktivität der ökonomischen
Theorie beruhe auf der Eleganz und
der Einfachheit der zugrundeliegenden Logik, keineswegs aber in der
Perfektion der
mathematischen Formulierungen. In Anbetracht der Schwierigkeit
abstrakten Denkens
bevorzugten die Leute Grundannahmen, die einfach und geradlinig sind.
Überdies gebe die
Tatsache, daß den Menschen Rationalität unterstellt wird,
den Ergebnissen der Theorie den
Anstrich innerer Notwendigkeit. Damit stehe man offensichtlich vor
einem Paradox:
Während die Menschen tatsächlich von nur beschränkter
Rationalität seien, sei ihnen die
Annahme von Nutzen, daß andere Menschen völlig rational
seien, wenn sie ihr Verhalten
interpretieren. Die Rationalitätsunterstellung der Ökonomen
sei also keineswegs ein Stück
fehlgeleiteter Psychologie, sondern eine wirksame Antwort auf das
praktische Bedürfnis,
soziales Verhalten in einfachen Begriffen zu erklären.
Ein zweiter Grund für die hohe
Resistenzfähigkeit ökonomischer Theorie gegen jede Art von
Kritik sehen Buckley und Casson (1993, S. 1036) darin, daß sie
weit beweglicher sei, als ihre
Kritiker annehmen. Die Kritik richte sich immer auf ein nicht fest
fixiertes Ziel, da die
Theorie ständig an bereits vorgetragene Kritik angepaßt
werde. Dies lasse sich an folgenden
Beispielen illustrieren: Als die frühen amerikanischen
Institutionalisten die Annahme
vollständiger Konkurrenz kritisierten, sei die Monopoltheorie
entwickelt, eine frühere
Theorie des Oligopols, die auf Cournot zurückgehe, wiederentdeckt
und verfeinert worden.
Als Reaktion auf die Kritik an der Annahme uneingeschränkter
Gewißheit wurde die Theorie
der Ungewißheit aufgestellt, der Kritik der jüngeren
Institutionalisten an der Behandlung der
Firma als "black box" folgte die Entwicklung der Theorie der
Transaktionskosten,
zunehmende Betonung geschäftlicher Strategien führte dazu,
den Konkurrenzprozeß mit
spieltheoretischen Mitteln zu analysieren.
Diese Beispiele seien völlig unvereinbar mit einer
Sichtweise, welche die ökonomische
Theorie für streng und dogmatisch halte. Denn ihre Grundannahmen
seien sehr wohl
kompatibel mit einer großen Bandbreite menschlichen Verhaltens,
nicht nur des
ökonomischen, sondern auch der politischen und sozialen Felder.
Die großen Möglichkeiten
der Annahme besonderer Randbedingungen gebe der Theorie einen "enormen
Überlebenswert". Denn Falsifikationen von Voraussagen tangierten
nie die wesentlichen
beiden Grundannahmen, sondern seien lediglich eine Einladung, die
besonderen
Bedingungen, die mit ihnen verbunden sind, zu verfeinern. Die
Grundannahmen selbst seien
kaum oder überhaupt nicht aussagekräftig, ihr Nutzen liege
vielmehr darin, von anderen
besonderen Annahmen Bedeutungsgehalte abzuziehen.
Von der herkömmlichen Ökonomie distanzieren
sich die beiden Ökonomen insofern, als sie
ihr vorwerfen, in der Anwendung ihrer Ideen zu vorsichtig und mit zu
wenig
Vorstellungsvermögen vorgegangen zu sein. Viel zu viel Gewicht sei
auf die Erklärung von
Marktprozessen gelegt worden, statt sich mehr auf nicht-marktrelevantes
Verhalten zu
beziehen (Buckley/Casson 1993, S. 1038). Die Ursache dieses
Versäumnisses sei darin zu
sehen, daß die Ökonomie eine konservative Profession sei,
was dazu führe, daß sie die
Beweglichkeit ihrer Grundannahmen erst dann ausnütze, wenn sie
unter Druck gerate. Eine
solche Bedrohung ergebe sich in der Gegenwart durch die sich
vertiefende Evidenz, daß
kulturelle Faktoren Schlüsselgrößen des
ökonomischen Erfolgs seien. Die Reaktion darauf
könne nicht sein, Kultur per se zu analysieren, sondern in guter
alter Tradition von Details
und Peripherem zu abstrahieren und sich nur auf wesentliche Elemente zu
konzentrieren.
Die Stoßrichtung derartiger Argumentationen geht
ohne Zweifel auf eine Vereinheitlichung
der Sozialwissenschaft unter dem rationalistischen Diktat der
Ökonomie. Doch der Erfolg
eines solchen Imperialismus verlange mehr als nur die Ausdehnung der
Anwendungsbereiche
konventioneller Modelle auf neue Bereiche; eine Innovation in Richtung
neuer Modelle oder
zumindest eine signifikante Modifizierung der bestehenden sei
unerläßlich. Als
unverrückbare Größe gelte letztlich nur die Tatsache,
daß das Verhalten der Menschen dem
Prinzip der Optimierung untersteht.
Mit der Ausweitung der Ziele der ökonomischen
Methode wird sich nach Buckley und
Casson herausstellen, daß die ökonomische Theorie viel mehr
zu leisten in der Lage ist, als
ihr "selbsternannte" Methodologen der Sozialwissenschaft zuzugestehen
bereit waren. So sei
man der Verwirklichung des alten Traumes einer vereinheitlichten
Sozialwissenschaft näher,
als die meisten glaubten. Dies zu erreichen hänge keineswegs davon
ab, bisher unbekannte
Grundaxiome neu entdecken zu müssen, sondern vielmehr daran, die
beiden Grundprinzipien
der konventionellen Ökonomie, eben die Annahme der
Rationalität und des Gleichgewichts,
auch auf andere Bereiche anzuwenden. Für die zeitgenössische
Ökonomie bedeute dies eine
Reduzierung der ausschließlichen Betonung der Marktperspektive,
an deren Stelle müsse die
Einsicht treten, daß auch nicht-marktbedingte Mechanismen wie
z.B. die kulturelle
Manipulation in ökonomische Begriffe gefaßt werden
können. Mit der zu erwartenden
Einsicht der Ökonomen, daß in vielen Fällen der Markt
keineswegs der beste
Koordinationsmechanismus sei, müßten sie auch zugestehen,
gleichsam als Nebeneffekt des
ökonomischen Imperialismus, daß bei vielen politisch
bedeutsamen Aussagen (policy issues)
die Nicht-Ökonomen doch letztlich recht gehabt hätten.
Die ausführliche Wiedergabe dessen, was expandieren
soll in andere Bereiche, läßt sich damit
rechtfertigen, daß hier mit anscheinend guter Begründung und
explizit jene Ziele und Mittel
einer Vereinheitlichung der Sozialwissenschaft unter der Patronanz der
Ökonomie angegeben
worden sind, die sich sonst häufig nur in mehr impliziter Art
manifestieren. Dieser
Imperialismus ist weder neu noch ist er unwidersprochen geblieben, wie
sich den
Auseinandersetzungen zwischen den jüngeren Institutionalisten und
der ökonomischen
Orthodoxie in den frühen dreißiger Jahren in Amerika
entnehmen läßt. Die Konsequenzen
aus dieser Konfliktsituation für die Neufassung eines
soziologischen Programmes bei Parsons
(vgl. Camic 1992, S. 439) sind keineswegs als unerheblich abzutun.
3. Differenzierung und Entdifferenzierung
3.1 Die Metapher des Imperialismus
Wenn von Imperialismus die Rede ist, so ist damit ein
Bestreben der Ausweitung des eigenen
Territoriums angesprochen, wie es im Ablauf der Geschichte immer wieder
zu beobachten
gewesen ist. Römer, Inkas, Araber und Mongolen haben in
früherer, Spanier, Portugiesen,
Engländer, Franzosen und schließlich auch die Deutschen
haben in jüngerer Zeit versucht,
ihren territorialen Einfluß auszuweiten. Imperialismus ist das
Expansionsbestreben einer
weiter entwickelten Gesellschaft auf Kosten einer anderen, die als
rückständig betrachtet
wird, läuft auf die Aneignung fremden Territoriums hinaus. Die
Form der Annexion muß
keineswegs immer explizit und mit brachialer Gewalt durchgesetzt sein,
sondern kann auch
mehr impliziter Art sein, wie z.B. der Einfluß der Vereinigten
Staaten in weiten Teilen
Südamerikas, ja sogar über Freundschaftsverträge
umgesetzt werden, wie es der Praxis der
ehemaligen Sowjetunion entsprochen hat.
Inwiefern ist die Metapher vom Imperialismus geeignet,
Grenzverschiebungen zwischen
einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen verständlich zu machen?
Widerspricht diese
Vorstellung, daß eine akademische Disziplin die Arbeitsfelder
anderer Disziplinen zu
okkupieren sucht, nicht dem Ideal der Interdisziplinarität, das
eine Kooperation
unterschiedlicher Perspektiven als wünschenswert und
zielführend propagiert? Führt die
Aberkennung der Eigenständigkeit alternativer Sichtweisen nicht
notwendigerweise zu einer
Beschränkung der Diversität wissenschaftlicher Felder mit
einer eindeutigen Tendenz zur
Monopolbildung einzelner partikulärer Theoriegebäude und der
damit verbundenen
methodischen Vorgangsweisen?
Zweifel daran, ob die Metapher des Imperialismus dazu
geeignet ist, das Verhältnis der
Ökonomie zu den anderen Sozialwissenschaften adäquat zu
beschreiben, können sich
zumindest auf einen etablierten common sense berufen, der Toleranz und
Bereitschaft zur
Kooperation im Sinne der Interdisziplinarität unterstellt.
3.2 Differenzierung wissenschaftlicher Arbeitsbereiche
Im Bezug auf die hier angeschnittene Diskussion eines
Imperialismus der Ökonomie ist
zunächst auf zwei Tatsachen hinzuweisen: Erstens einmal das Faktum
der historischen
Kontingenz der Abgrenzung wissenschaftlicher Arbeitsbereiche, und
zweitens die Tatsache,
auf die neuerdings Pierre Bourdieu mit Nachdruck hingewiesen hat,
daß nicht nur innerhalb
dieser Felder, sondern auch zwischen ihnen bestehende
Konkurrenzverhältnisse als
dynamische Kräfte wirksam sind.
Die historische Kontingenz ist leicht durch den Verweis
auf die Wissenschaftsgeschichte zu
illustrieren. Für den Fortschritt der Wissenschaften und ihr
weiteres Wachstum war es nicht
unerheblich, daß als Träger dieses Fortschrittes jeweils
andere Erkenntnisarten bzw.
Disziplinen eine vorübergehende Vorrangstellung vor anderen
beanspruchen konnten. Galt
im Mittelalter die Philosophie als 'ancilla theologiae', so hat sich
die Magd seit der frühen
Neuzeit über ihre ehemalige Herrin erhoben, sich von ihr
emanzipiert, bis dann beide mit
dem Erfolg der experimentierenden Naturwissenschaften in die Nähe
unterschiedlich
ausgeprägter Bedeutungslosigkeit gerieten. Wird die
wissenschaftliche Relevanz der ersteren,
der Theologie, den neu geltenden Wissenschaftskriterien entsprechend,
in Abrede gestellt, so
überlebt letztere, die Philosophie, zumindest als amputierte, in
der Gestalt der
Wissenschaftstheorie. Ende des 19. Jhdts. schien es hilfreich zu sein,
mit der Unterscheidung
von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften eine neue Ordnung zum
Ausdruck zu
bringen, während Ende des 20 Jhdts. die Einsicht an Boden zu
gewinnen scheint, die
Geisteswissenschaften seien eine Angelegenheit, auf die leicht
verzichtet werden könne, weil
ihre "Nützlichkeit" schwer nachzuweisen ist.
Mit dem quantitativen Wachstum der Wissenschaften war
auch das Ende der
Universalgelehrten und Generalisten gekommen. An ihre Stelle traten nun
die Spezialisten
ihres Faches, die in zunehmendem Maße genug damit zu tun hatten,
ihr eigenes Territorium
zu überblicken. Die zunehmende Spezialisierung ist als Kehrseite
der unumgänglichen
Arbeitsteilung zu begreifen, die sich auch im wissenschaftlichen
Bereich durchgesetzt hat.
Die Entstehung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Ende des 18.
Jhdts. paßt genau in
diese Szenerie. Ihr Mutterboden ist dort zu suchen, wo früher
schon die Frage nach der
gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Neugestaltung gestellt worden war:
vor allem im
Bereich der Philosophie, der Geschichte, der Rechts- und
Staatswissenschaften.
Die Differenzierung im Wissenschaftsbereich ist jedoch
kein linear ablaufender Prozeß, der
zur Markierung klarer Grenzen führt. Zwar gibt es offensichtlich
Bereiche, die prima vista
buchstäblich nichts miteinander zu tun haben. Daneben aber auch
solche, wo die Abgrenzung
der Territorien ungenau bleibt und Grenzüberschreitungen
unvermeidlich sind. Neuerdings
wird auch darauf hingewiesen, daß Fortschritte in einer Disziplin
oft dann realisiert werden,
wenn bestimmte Elemente aus völlig andersgearteten Disziplinen
übernommen werden. Dies
deutet darauf hin, neben den Prozessen der Differenzierung stets auch
mit der Möglichkeit
konvergierender Prozesse zu rechnen ist. H. van der Loo und W. van
Rejen (1992, S. 116)
bezeichnen dies als das "Paradox der Differenzierung", womit sie an die
seit Durkheim
bekannte Tatsache erinnern, daß fortschreitende Arbeitsteilung
auch neue Formen der
Zusammenarbeit entstehen läßt. In den Denkfiguren von der
'Einheit der Wissenschaft' und
der 'Interdisziplinarität' wird wohl in Resten dieses Wissen
tradiert, daß es letztlich
unzulänglich und nicht zielführend ist, sich
ausschließlich auf die eigene Fachperspektive zu
beschränken.
Die Einsicht, daß übertriebene Arbeitsteilung
kontraproduktiv ist, greift heute auch dort um
sich, wo es um die Gestaltung der elementaren Arbeitsvorgänge
geht. Zerlegung in einzelne
Arbeitsschritte, die Elementarisierung der Prozesse mit nachfolgender
Re-Kombination des
zuvor Getrennten, das Prinzip des Taylorismus, verliert im
Produktionsbereich seine über
lange Zeit unbestrittene Bedeutung. Die Chiffre des Post-Taylorismus
steht für den Versuch,
der steigenden Komplexität der Produktionbedingungen durch
komplexer strukturierte
Qualifikationsprofile der Beschäftigten und neue Strukturen der
Kooperation Rechnung zu
tragen.
Auch im wissenschaftlichen Bereich gibt es
hinlänglich bekannte Fälle, wo einseitige
Fachperspektiven an ihre Grenzen stoßen. Beispielsweise stellen
sich heute in der Medizin
Fragen ethischer Art, die innerhalb der eigenen Fachgrenzen nicht
beantwortbar sind.
Ähnliches gilt für technische Großprojekte, deren
Realisierung daran scheitern kann, daß die
damit verbundenen Konsequenzen in anderen Bereichen inakzeptabel sein
können. Im Begriff
des 'Juristenmonopols' wurde die Tatsache kritisiert, daß
Angehörige der iuridischen Zunft
aus dem Wissen um eine exakte Abwicklung von Verfahren
ungerechtfertigterweise auch
schon die Kompetenz ableiten, über inhaltliche Belange dessen, was
behandelt wird, befinden
zu können.
Beim Streit um Zuständigkeiten können nicht
nur rein wissenschaftliche, sondern auch
erwerbsbezogene Aspekte eine wichtige Rolle spielen. Darauf deuten die
langwierigen
Auseinandersetzungen zwischen Medizinern bzw. Psychotherapeuten um eine
gesetzliche
Regelung der jeweiligen Tätigkeitsbereiche hin. Daß eine
solche Regelung nur willkürlich
verordnet werden kann, ergibt sich daraus, daß der Mensch eben
eine psychosomatische
Einheit ist, wo Ursächlichkeiten und damit verbundene
Zuständigkeiten schwer abschätzbar,
wenn nicht überhaupt definitiv unklar bleiben müssen. Dies
erinnert daran, daß die jeweiligen
fachspezifischen Abgrenzungen auf analytischen Unterscheidungen
beruhen, denen in der
Realität nur komplexe Wirklichkeiten gegenüberstehen,
für welche derartige
Unterscheidungen ein äußerliches Moment bleiben müssen.
So unerläßlich die
Ausdifferenzierung fachspezifischer Perspektiven, die Konstitution
unterschiedlicher
Formalobjekte ist, so stoßen sie auf Grenzen, führen zu
kontraproduktiven Effekten, wenn die
Unterscheidungen auch in den materialen Objektbereich übertragen
werden.
3.3 Differenzierung in Soziales und Ökonomisches
Genau so wenig wie Körperliches vom Psychischen
lassen sich Ökonomisches und Soziales
trennscharf auseinanderlegen. Zwar rühmt sich die
Nationalökonomie, als älteste der
Sozialwissenschaften auch deren Krone zu sein, und überdies jene,
welche die exakteste sei,
also dem Ideal naturwissenschaftlich fundierter Vorgangsweise am
nächsten komme, doch
sind neben der Betonung der Differenzen zwischen Ökonomie und
Soziologie immer auch
Überschneidungen anerkannt worden. Die gegenwärtig
registrierbaren Anzeichen für
Versuche, die Markierungen der Grenzen zu verschieben, deuten darauf
hin, daß sich die
Wirtschaftswissenschaften heute nicht mehr damit begnügen,
lediglich ihre Exzellenz zu
betonen. Offensichtlich geht es um mehr. Es handelt sich wohl um eine
Reaktion darauf, daß
im praktischen Wirtschaftsleben die enorme Bedeutung des menschlichen
Faktors immer
klarer hervortritt und in den Begriffen wie Humankapital, human
ressources, ihren
Niederschlag findet. Die Notwendigkeit, auf diese Situation zu
reagieren, ergibt sich daraus,
daß eine enge ökonomistische Perspektive der komplexen
Entwicklungsdynamik nicht mehr
gerecht zu werden vermag. Es ist daher keineswegs unverständlich,
daß sich die
Wirtschaftswissenschaften seit einiger Zeit um soziale Aspekte des
Wirtschaftens bereits
vermehrt zu kümmern begonnen haben. Bedeutsam ist jedoch die Form,
in der dies geschieht.
Die Form kann eine doppelte sein. Explizit und
theoretisch argumentierend einerseits,
implizit und praktisch vorgehend andererseits. Ersteres ist mehr der
Nationalökonomie
zuzuordnen, die ihren Imperialismus auch theoretisch zu fundieren
sucht, letzteres der
Betriebswirtschaftslehre, die stillschweigend Soziologie zur
Sozialtechnologie umdeutet und
deren Relevanz unterminiert, wie es sich in den
lehrplanmäßigen Veränderungen des
Stellenwertes soziologischen Fächer niederschlägt. Für
beide Formen der Aneignung des
sozialen Sektors ist charakteristisch, daß der soziologischen
Perspektive ihre kritische Spitze
abgebrochen, also ein wesentliches Element, das sich kurzfristigen
Verwertungsinteressen
nicht fügt, amputiert wird. Was übrig bleibt, ist eine
technologische Sichtweise sozialer
Belange. Wo dann konkrete Interventionen möglich und notwendig
sind, reduzieren sich
diese auf sozialtechnokratische Maßnahmen von außen und von
oben. Human ressources und
Humankapital sind dann nur noch Ressourcen und Kapital einer neuen Art,
vor das Neue
wird allerdings ein altbekanntes Vorzeichen gesetzt.
Das Bild vom Imperialismus der Ökonomie bringt also
offensichtlich
Verschiebungstendenzen der etablierten Grenzen zwischen benachbarten
Disziplinen zum
Ausdruck, deren Konsequenzen von beträchtlicher Tragweite sein
können, sollte es sich dabei
um mehr als nur vorübergehende Fluktuationen handeln. Auf der
institutionell -
organisatorischen Ebene würde damit zweifellos eine Verschiebung
von Ressourcen
verbunden sein, auf der Ebene der Lehrpläne eine Eliminierung der
Soziologie aus dem
Curriculum auszubildender Wirtschaftswissenschaftler. Mit einer solchen
Negation der
Notwendigkeit und Nützlichkeit von perspektivenerweiternder
Reflexion sind aber auch
beträchtliche Risiken verbunden, weil die Nicht-Thematisierung
sozialer Defizite, aber auch
gegebener Entwicklungsmöglichkeiten zur Kumulierung von
Konfliktpotentialen führt, die
letztlich die prekäre Stabilität der politischen Systeme
unterminieren wird. Und
epistemologisch bedeutet der Imperialismus einer bestimmten
singulären Betrachtungsweise,
hier eben die der individuellen ökonomischen Rationalität,
eine einseitige Entdifferenzierung
der Perspektiven, die Preisgabe eines einmal erreichten Niveaus der
Bearbeitung vom
Komplexität.
Buckley und Casson bringen dies klar zum Ausdruck:
Erfolgreiche Modellbildung in den
Sozialwissenschaften setzt angstfreie Bereitschaft zur Simplifizierung
voraus und eine
entsprechende Distanz zur sozialen Realität selbst. Die logische
Transparenz des Systems
beruht auf der Unterscheidung in Grundannahmen (Axiome), die niemals
direkt überprüft
werden, und zusätzlichen Randbedingungen, die sehr wohl variabel
sind und je nach Bedarf
modifiziert werden können. Grundannahmen gibt es lediglich zwei:
Das
Optimierungsverhalten der Individuen und das Gleichgewicht des daraus
resultierenden
Systems, das gegensätzliche Kräfte letztlich doch zum
versöhnenden Ausgleich bringt.
Zweck dieser Unterscheidung in Axiome und Randbedingungen ist nach
Buckley und Casson
(1993, S. 1037) die Immunisierung der allgemeinen Prinzipien gegen
spezielle Kritik. Die
Grundannahmen werden also nicht überprüft, keinem Test
unterzogen, sondern vorausgesetzt.
3.4 Die Rationalitätsprämisse als Entdifferenzierungspfad
Die erste Grundannahme der Ökonomie, das
Optimierungsverhalten der Individuen,
präsentiert sich für gewöhnlich in der Unterstellung
einer anscheinend unproblematischen
Rationalität. Sich rational zu verhalten heißt, seinen
eigenen Nutzen zu maximieren. H. A.
Simon (1991) präzisierte das Rationalitätskonzept im Begriff
der 'bounded rationality',
welcher der Tatsache Rechnung tragen soll, daß die kognitiven
Fähigkeiten der Subjekte in
anbetracht dessen, daß die Zukunft nie eindeutig planbar ist,
begrenzt sein müssen. Verhalten
kann dementsprechend nur beschränkt rational sein. Neben dem
Maximierungskalkül der
(Neo)Klassik und der 'bounded rationality' Simons unterscheidet O. E.
Williamson (1981, S.
548) eine 'organic' oder 'process rationality' als weitere
Abschwächung der
Rationalitätsannahme. Gleichzeitig bringt Williamson auch jene
Möglichkeiten der
Nutzenmaximierung ins Spiel, die unter Außerachtlassung der
üblichen Spielregeln der
Fairness auf Arglist, Täuschung und Betrug beruhen. Wer auf diese
Art und Weise seine
ökonomische Position optimiert, der handelt also nicht rational,
sondern opportunistisch oder
kriminell. Der Begriff der Rationalität umfaßt demnach
egoistische, opportunistische,
korrupte oder nicht erkannte kriminelle Verhaltensweisen. Die Kategorie
der Rationalität
degeneriert somit zur inhaltslosen, aber immer verwendbaren Leerformel.
Nach D. N. McCloskey (1991, S. 85) hat diese Entwicklung
mit Samuelsons einflußreicher
Harvard - Dissertation über "Die Grundlagen der
Wirtschaftsanalyse" (1947) begonnen.
McCloskey bezeichnet diese Arbeit als ein Glanzstück des
französischen Rationalismus, das
jedoch keine ökonomischen Fakten enthält. Seine Adressaten
waren daher vor allem die
Ökonometriker, eine neue Gilde der Mathematiker im Gewande der
englischen Empiristen.
Die Samuelson folgenden Ökonomen erlagen dann dem Blendwerk einer
vermeintlichen
Koppelung von Rationalismus und Empirismus in der Hoffnung, daß
auf diesem Wege die
Wirtschaftswissenschaft den Rang einer Sozialwissenschaft, die den
Gesetzen der Physik
unterworfen ist, erreichen könnte. Doch hätten dabei die
Ökonomen die intellektuellen Werte
des Faches Mathematik übernommen, keineswegs aber jene der Physik,
der Elektrotechnik
oder der Biochemie. Mit den verschiedenartigen Wertbezügen ist die
Tatsache gemeint, daß
für die Physik Beweise dann ihre Bedeutung verlieren, wenn sie
für die Welt belanglos sind.
Hinsichtlich der zweiten Grundannahme, dem
Gleichgewicht, sind Buckley und Casson dazu
bereit, dabei gewisse Abstriche hinzunehmen. Sie weisen darauf hin,
daß für zahlreiche
Ökonomen die Allgemeine Gleichgewichtstheorie das krönende
Schlußstück ist, und zwar
wegen ihrer Newtonschen Eigenschaft, die gegensätzlichen
Kräfte von Angebot und
Nachfrage auf harmonische Weise zu verbinden. Doch leide diese Annahme
an der
Schwäche, wenig dazu sagen zu können, wie ein Gleichgewicht
erreicht werde. Die beiden
Autoren verweisen darauf, daß Gleichgewichtszustände
über Lernprozesse erreicht werden,
die jedoch mit Kosten verbunden sind. Dies bedeutet dann gleichzeitig,
daß über
unterschiedliche, weil unterschiedlich kostspielige Lernprozesse
hinsichtlich ihrer
Wünschbarkeit rational entschieden werden muß.
Das Gleichgewichtsaxiom orientiert sich am
Vorbildcharakter eines mechanistischen
Weltbildes, das in den 30er Jahren von Vertretern einer heterodoxen
Ökonomie erneut in
Frage gestellt worden ist. Sie orientierten sich am Konzept der offenen
Systeme, der
Einbettung der Wissenschaft in die Umwelt, der Asymmetrie der Zeit und
der globalen
Irreversibilität ökonomischer Prozesse. K. Boulding hat daher
den Begriff des Gleichgewichts
und der 'unsichtbaren Hand' bereits damals im Sinne des Begriffes der
Selbstorganisation
interpretiert und sich dabei explizit auf A. Smith berufen, weil er in
ihm den ersten
postnewtonschen Denker gesehen hat, der bei seiner langfristigen
Betrachtung gerade die
nichtgleichgewichtigen kumulativen Aspekte theoretisch herausgestellt
habe (vgl. Dopfer
1993, S. 19).2
Wenn vom Imperialismus der Ökonomie die Rede ist,
so bezieht sich diese Metapher auf den
orthodoxen mainstream der Neoklassik. Diese Position hat in den letzten
beiden Jahrzehnten
offensichtlich an Bedeutung gewonnen, ungeachtet der gleichzeitig
laufenden Diskussionen
um Rationalität versus Irrationalität im Rahmen der
Kontroversen zwischen den Apologeten
der Moderne und den Vertretern der Postmoderne. Die Übertragung
des Modells der
"rationalen" Handlungswahl ist als Versuch zu betrachten3,
den Geltungsbereich dieser
artifiziellen und lebensfremden Konzeption noch zu erweitern, deren
Überlebenspotential vor
allem der Vorliebe für Simplifizierungen und Distanz zur konkreten
Realität, unscharf
gefaßten Grundbegriffen in einem antiquierten mechanistischen
Bezugsrahmen zugeschrieben
wird.
In den Kontroversen, die zur Zeit ausgefochten werden,
nehmen die bekannten Argumente
um das Pro und Contra utilitaristischer Konzeptionen (vgl. Trapp 1986,
Srjubar 1992) wieder
einen breiten Raum ein. Die Töne der Diskussion selbst scheinen
jedoch lauter zu werden und
erneut in die Nähe einer Neuauflage früherer Methodenstreite
zu weisen, in denen es letztlich
ebenfalls um das Selbstverständnis des Faches gegangen ist. Dies
soll im Folgenden illustriert
werden durch die Wiedergabe einiger kritischer Einwände gegen die
Rational - Choice -
Theorie (RC), die unlängst M. Miller (1994) geäußert
hat. Die Verteidigung der
angegriffenen Position durch H. Esser vermag wenig zu überzeugen
und scheint nach dem
Muster hoher Flexibilität bei gleichzeitiger Unbeirrbarkeit im
Wesentlichen gestrickt zu sein,
von dem auch schon bei Buckley/Casson (s. oben, S. 2) die Rede war.
Doch ist daraus nicht
der Schluß zu ziehen, die RC - Theorie könne, was ihre
Rezeption betrifft, nur wenig
Sympathien für sich mobilisieren. Derartige Gedanken
erübrigen sich in anbetracht der
großen Zustimmung, die Colemans neues Meisterwerk über die
"Grundlagen der
Sozialtheorie" nicht nur, aber besonders auch in der Bundesrepublik
Deutschland gefunden
hat. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß sich künftige
Theoriearbeit auf die
Auseinandersetzungen um die RC - Theorie beschränken und darin
erschöpfen müßte. Denn
gerade durch die Negation des diesen Kontroversen zugrundeliegenden
Gegensatzes ergeben
sich neue Möglichkeiten, wie sich bei einigen Neuansätzen in
den französischen
Sozialwissenschaften zeigt. Im Hintergrund steht der nun folgenden
kurzen Darstellung
exemplarischer Kritik an der RC - Theorie, der Kritik dieser Kritik und
des Hinweises auf
Alternativen jenseits der aufgezeigten Konfliktlinien steht die Frage,
welche
Programmvorschläge geeignet sind, die flüchtigen Grenzen der
Soziologie schärfer zu
konturieren statt einer Verflüchtigung der Soziologie Vorschub zu
leisten.
4. Reaktionen auf den Imperialismus
4.1 Dezidierte Ablehnung
Seine kritischen Anmerkungen zur Rational - Choice -
Theorie rückt M. Miller (1994, S. 5) in
die Perspektive einer "Ellbogenmentalität und ihre theoretische
Apotheose". Dabei geht es
zunächst um die Vorgangsweise Beckers, soziale Phänomene
verschiedenster Art durch die
ökonomischen Kalküle der beteiligten Akteure für
hinlänglich erklärbar zu halten. Die
Einwände Millers beziehen sich nicht auf die beschriebenen
Phänomene, die Mechanik der
banalen und kalten Kalküle, sondern auf den universalistischen
Erklärungsanspruch der
"neuen ökonomischen Sozialtheorien", der ihre Vertreter zu
unkritischen Ideologen eines
falsch verstandenen Liberalismus in Wirtschaft und Gesellschaft mache:
Alle sind Egoisten,
sollen es auch sein, denn dies führt langfristig zum Wohlergehen
aller, wie dies alle
utilitaristischen Sozialtheorien seit den schottischen Moralphilosophen
vertreten hätten. Im
Anschluß daran stellt Miller die Frage nach den
Erklärungsgrenzen der neuen ökonomischen
Sozialtheorie und ihrer Grundlagentheorie, der Theorie der rationalen
Wahlhandlungen, und
ob dabei nicht Trivialität und platter Empirismus mit
soziologischer Aufklärung verwechselt
wird.
Das Triviale besteht für Miller offensichtlich in
der Annahme, daß jemand jeweils dann
rational handelt, wenn er das tut, wovon er glaubt, daß es
für ihn am besten ist. Die Frage,
was jedoch das Beste ist, entzieht sich der rationalen Beantwortung.
Daher beschränke sich
das theoretische Interesse auf die konditionalen Imperative, die sich
auf die Mittel, nie aber
auf die Handlungszwecke selbst beziehen können. Bei
Entscheidungssituationen seien daher
nur die folgenden drei Aspekte zu beachten: Die Menge von
wählbaren Handlungen, die
Folgen dieser Handlungen, und schließlich die
Präferenzstrukturen der Handelnden, die es
erlauben, Rangordnungen der Wünschbarkeit zu erstellen. Diese
Annahmen der
Standardversion über die Vorgegebenheit der Präferenzen
würden nur von wenigen Vetretern
der RC-Theorie als nicht selbstverständlich betrachtet, was dann
zur Frage der Rationalität
der Präferenzen führt, ohne damit schon gleich eine Theorie
der Moral entwerfen zu wollen.
Im Verweis auf J. Elster unterscheidet Miller dann zwischen der
substantiellen Rationalität
von Überzeugungen, die sich auf die Relation zwischen
Überzeugung und verfügbarer
empirischer Evidenz bezieht, und der substantiellen Rationalität
von Präferenzen, die den
Grad an Autonomie bzw. Selbstbestimmung bei der Entstehung von
Präferenzen betrifft. Da
Autonomie im Hinblick auf die Entstehungen von Präferenzen
bestenfalls als eine
Residualkategorie anzusehen sei, fehlt nach Miller "ein wohldefiniertes
('positives') Konzept
eines rationalen Handelns. Daran ändere letztlich auch Simons
Begriff einer "bounded
rationality" nichts. Da die Rationalitätssemantik aus der
subjektiven Perspektive des
Nutzenmaximierers entwickelt worden sei, bleibe die Bedeutung von
Rationalität radikal
subjektiv und damit auch höchst trivial: Rationalität ist der
Glaube des Akteurs, das zu tun,
was für ihn am besten ist.
In einem nächsten Argumentationsschritt stellt
Miller (1994, S. 7) dem Entwurf Hobbes einer
Verteilung von Rechten und Pflichten die These Mandevilles
gegenüber, daß private Laster
öffentliche Wohlfahrt bedingen. Doch Mandevilles Konzept sei nicht
als Gegenthese zu
Hobbes zu betrachten, da es sich nur darauf beziehe, daß private
Laster nur für den
Aufschwung der Ökonomie zweckdienlich sei, nicht aber, daß
daraus eine normative
Ordnung entstehe. Die soziologische Aufklärung der
utilitaristischen Theorie hat sich nach
Miller von Anfang an darauf beschränkt, das Entstehen von
Kooperation und einer normativ
geregelten Ordnung aus dem eigennützigen Verhalten der einzelnen
Individuen herzuleiten.
In den Augen Durkheims sei dies jedoch keine soziologische
Aufklärung, sondern
soziologische Alchemie. Denn aus dem Zusammentreffen rationaler
Egoisten entstehe weder
moralische Ordnung noch allgemeine Wohlfahrt, sondern kollektive
Irrationalität. Ziele, an
denen alle Akteure interessiert seien, ließen sich nur suboptimal
realisieren, eine Einsicht, an
der auch die breite Literatur zum Prisonners - Dilemma nichts
geändert habe.
Im Anschluß daran führt Miller ein Beispiel
aus dem Jahre 1990 vor, als räuberische
Spekulanten aus dem Westen Deutschlands mit Unterstützung der
Bürgermeisterin des
Dorfes unter Vortäuschung falscher Tatsachen die Einwohner einer
ehemaligen kleinen DDR
- Gemeinde um ihren neu erworbenen Besitz an Grund und Boden prellten.
Aus der
Perspektive der Spekulanten und der Bürgermeisterin also durchaus
eine rationale
Vorgangsweise zum Nachteil der Dorfgemeinschaft. Im Anschluß
daran die Frage, ob dies so
sein müsse und der Verweis auf die Feststellung von M. Serres,
daß es eben keine
Handlungssysteme ohne Parasiten gebe. Worüber sich jedoch M.
Serres unklar sei, nämlich
ob das Parasitentum das Funktionieren des Ganzen beeinträchtige
oder umgekehrt sich
auswirke und die Dynamik des Systems gar beschleunige, finde in der
ökonomischen
Sozialtheorie eine optimistische Antwort, die auch durch die Arbeiten
Axelrods über "Die
Evolution der Kooperation" gestützt werde. Hier sieht Miller das
einzig Neue an den
RC-Theorien der Gegenwart, daß sie nämlich noch eine
spieltheoretische Version ihres
Scheiterns liefere. Das Scheitern bestehe dabei darin, daß eine
endogene Erklärung der
Entstehung von Kooperation nicht gelinge, und utilitaristische
Lernprozesse nur bei
Machtungleichgewicht der Akteure möglich seien. Bei
Machtungleichgewicht hingegen
werde soziale Ungleichheit und einseitige Ausbeutung reproduziert. Doch
für rationale
Egoisten, die am Erhalt und der Ausweitung ihrer Privilegien
höchstes Interesse hätten, sei
die Instrumentalisierung normativer Kontroversen ein zieführendes
Mittel, ihre "rationalen"
Manöver zu verschleiern.
Was damit gemeint ist, illustriert Miller an der
Kategorie des "praktischen Sinns" bei
Bourdieu. Der praktische Sinn bezeichne hier den dem ökonomischen
Kalkül inhärenten
Zwang, normative Lernprozesse zu blockieren bzw. zu idealisieren. Er
folge einerseits der
Logik von Nutzen und Kosten, trage dabei der Tatsache der
kalkulierenden Momente in jeder
Sozialbeziehung Rechnung, gleichzeitig sei er aber aus demselben
Nutzenkalkül heraus
darauf aus, die zwangsläufige Tendenz,
Herrschaftsverhältnisse und soziale Ungleichheit zu
etablieren, unsichtbar werden zu lassen. Dieser praktische Sinn sei
insofern erfolgreich, wenn
er gleichzeitig Anerkennung und Verkennung der objektiven Gegebenheiten
impliziere; dies
sei jeweils dann der Fall, wenn es gelinge, die "objektive Wahrheit der
nackten Interessen in
kulturelle Macht umzuwandeln und dann durch Rückverwandlung
kultureller Legitimation in
ökonomische Macht unkenntlich zu machen. Dies führt dann zum
ernüchternden Schluß, daß
es nicht nur keine Evolution der Kooperation gibt, sondern bestenfalls
eine maskierte
Pervertierung von Kooperationsstrukturen" (Miller 1994, S. 12).
Abschließende Überlegungen Millers laufen
darauf hinaus, daß sich soziale Handlungen
keineswegs hinreichend als Resultat der Nutzenmaximierung beschreiben
lassen, denn
Präferenzen würden erst dann wirksam, nachdem sie den Filter
sozialer Normen passiert
haben. Und ebensowenig ließen sich soziale Normen auf
Nutzenmaximierung reduzieren,
denn die Bedeutung von Optimierung sei immer von einem sozialen oder
kulturellen Konsens
abhängig, dessen Rationalität sich innerhalb der
Rationalitätssemantik des RC- Ansatzes
nicht mehr bestimmen lasse.
Dieses Verdikt Millers trifft auch Colemans
dreibändige "Grundlagen der Sozialtheorie", die
nicht nur unter den Anhängern der RC-Theorie in Deutschland als
das seit Parsons "Structure
of Social Action" (1937) wahrscheinlich bedeutendste theoretische Werk
hochgelobt worden
sei. Denn auch Colemans komplexe Theorie sozialer Normen begreife diese
letztlich als
Resultate von Optimierungsvorgängen, wobei durchaus zugestanden
werde, daß
Machtungleichgewichte, also der unterschiedliche Zugang zur
Verfügung über
Handlungsressourcen, eine beträchtliche Rolle spielen. Für
die Mächtigen, welche Konsens in
ihrem Sinne durchzusetzen vermögen, entsprächen die Normen
dann allerdings dem
Optimierungspostulat. Bei Coleman also "findet die Ellbogengesellschaft
ganz unverblümt
ihre theoretische Apotheose" (Miller 1994, S. 14), sodaß
eigentlich er den Nobelpreis
verdient hätte.
4.2 Kritik der Kritik und Affirmation
Die Replik H. Essers auf die Kritik an der RC-Theorie
findet sich, unmittelbar an den Beitrag
Millers anschließend, im selben Heft der "Sozialen Welt". Ob die
Redaktion der Zeitschrift
damit nur die Kritik nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen wollte
oder mit der
Besorgung einer ad hoc Antwort andere Ziele verfolgte, ist für den
Außenstehenden schwer
zu eruieren. Vielleicht ist die gleichzeitig publizierte Kritik der
Kritik als Indiz dafür zu
werten, daß RC-Theorien zur Zeit in einem Ausmaß aktuell
geworden sind, das jeden
Zeitverlust bei der Intensivierung der Diskussion als Versäumnis
erscheinen läßt. Diese
Einschätzung wird gestützt durch die Massierung zustimmender
Rezensionen in der
"Soziologischen Revue" anläßlich des Erscheinens der dritten
Bandes von Colemans
Sozialtheorie in deutscher Übersetzung.
Die Erwiderung Essers auf Millers 10-seitiges Papier
bzw. "Pamphlet" gibt sich auf 16
Seiten alle erdenkliche Mühe, die vorgebrachten Argumente
zurückzuweisen und dem
Agressor Unkenntnis, mangelndes Verständnis und unzulängliche
Lektüre der von ihm
kritisierten Arbeiten zu unterstellen. Der Titel "Von der subjektiven
Vernunft der Menschen
und den Problemen der kritischen Theorie damit" indiziert auch die
Position, von der aus
verteidigt und neu angegriffen wird: subjektive Vernunft müsse
sein, weil die Kritische
Theorie, d.h. insbes. Habermas, seit dem legendären
Positivismusstreit vor 25 Jahren die
Antwort schuldig geblieben sei, wie sich die von ihr gedachte
"objektive Rationalität" der
Gesellschaft eigentlich begründen lasse4.
Essers Kommentar versteht sich nicht primär als
eine Replik auf Miller, sondern auch als eine
Erläuterung zu einigen im Ansatz selbst 'seit langem
geklärten Einzelheiten', die jedoch nicht
verstanden worden seien. Dies gilt auch für viele andere
Reaktionen, die "den inzwischen
schon etwas längeren Weg der Entwicklung des
Rational-choice-Ansatzes in der Soziologie
als eine stetige - und jetzt wieder etwas schrillere - Begleitmusik
säumen" (Esser 1994, S.
18). Zwei Argumentationslinien scheinen also in ständiger
Wiederholung ihrer
Beweisführung einander gegenüberzustehen, ohne daß die
eine die andere zu überzeugen
vermöchte oder auch nur dazu, die Gegenseite besser zu verstehen,
behilflich sein könnte.
In den Ausführungen Essers läßt sich folgende Strukturierung erkennen: Zunächst eine Einleitung unter dem Titel "Über Nobelpreise", worin das besondere Verdienst Beckers herausgestellt wird und dann die Angabe jener fünf Punkte, in denen die gravierendsten Fehldeutungen zum Ausdruck kommen und daher nach Richtigstellung rufen. Es sind dies
a) das Problem der "Objektivität" der Rationalität des Handelns
b) die Behauptung, daß der RC-Ansatz nichts zur Erklärung von Präferenzen beitragen könne
c) die Annahmen, wonach der RC-Ansatz zwingend von einer Verbindung des rationalen Handelns und der Entstehung sozialer Wohlfahrt ausgehen müsse
d) die Behauptung, daß die Erklärung der Entstehung von Kooperation immer ein "Machtgleichgewicht" und daher immer schon einen moralischen Rahmen voraussetze
e) und die Erklärung der Entstehung von Normen aus
"rationalen" Erwägungen.
Beckers Grundhypothese wird hier als sehr einfach bezeichnet, doch anders als bei Miller dargestellt: Die Menschen stehen allerlei Restriktionen, objektiven Knappheiten gegenüber und suchen daher nach besseren Alternativen. Becker orientiere sich an der Idee eines an den relativen Knappheiten - und insofern problembezogenen und deshalb "vernünftigen" Handelns der Menschen im Alltag. Die Plausibilität derartiger Überlegungen sucht Esser mit einem Verweis auf K. Marx zu demonstrieren: Die materiellen Bedingungen, nicht ein subjektiv "hochmoralisches Bewußtsein oder der fragile Konsens eines sprachlich (!) herbeigeführten Motivs zur Verständigung" (Esser 1994, S. 16) seien es, die die sozialen Prozesse letztlich vorantreiben. Doch nicht diese Affinität zu Marx, sondern die Theorie-Integration mache Beckers Leistung so wichtig: mit einer theoretischen Grundidee sowohl das im engeren Sinne wirtschaftliche wie auch ganz verschiedene Bereiche nicht-wirtschaftlichen Handelns (und dessen kollektive Folgen) zu erklären. Im Anschluß daran legt Esser sein Credo über den wissenschaftlichen Fortschritt dar: dieser
"besteht ja gerade nicht in der
Vervielfältigung der 'Paradigmen' und im Hin- und Herwenden
aller möglichen Ansichten über ein Thema. Sondern: in dem
Finden von theoretischen
Erklärungen, die die Buntheiten der Welt als Spezialfälle
eines möglichst übergreifenden
Modells erkennbar werden lassen. Newton wurde deshalb mit
Recht so berühmt, weil mit der
Gravitationstheorie die Fallgeschwindigkeit von Gegenständen
und die Bahnen der Planeten
aus einer Theorie erklärbar wurden. Und Albert Einstein
ist fast noch bekannter geworden,
weil er zeigte, daß das System von Newton seinerseits
ein Spezialfall einer noch
allgemeineren Theorie ist. Wissenschaft ist die Erklärung des
Komplexen durch das Einfache
- und nicht umgekehrt. Und moralische Empörung, daß nicht
sein darf, was in den Prämissen
des einen oder anderen Ansatzes als unverrückbares Dogma immer
schon bereits feststeht,
hat in der wissenschaftlichen Beurteilung einer Theorie keinen
systematischen Platz" (Esser
1994, 17).
Beim Streit um die RC-Theorien geht es also nicht nur um
die mehr oder weniger größere
Leistungsfähigkeit eines Paradigmas gegenüber einem anderen.
Gegenstand der
Auseinandersetzung ist im Kern auch ein Verständnis von
Wissenschaft, das die Erklärung
des Komplexen durch das Einfache verlangt5, und gegenteilige
Positionen des Festhaltens an
unverrückbaren Dogmen bezichtigt.
Die Art und Weise, wie Esser die Kritik richtigstellt
und durch belehrende Erläuterungen
ergänzt, hier ausführlicher darzustellen, erübrigt sich
insofern, als nach übereinstimmender
Ansicht der beiden hier erwähnten Kontrahenten keinerlei neue
Argumente die bereits seit
längerem andauernde Diskussion zu beleben vermögen. Dennoch
soll hier auf einige
offensichtliche Ungereimtheiten auf seiten des Defensors Esser
hingewiesen werden, als
Illustration dafür, daß sich Komplexes letztlich doch nicht,
wie zunächst eingefordert,
problemlos durch Reduktion auf Einfaches erklären läßt.
Im Abschnitt über "Objektive Rationalität"
konzediert Esser, daß 'in der Tat' grundsätzlich
zutrifft, "was Miller über diese Einseitigkeit des
Rationalitätsbegriffes sagt: Die RC-Theorie will nur
erklären, wovon es abhängt,
daß Akteure in einer Situation so und nicht anders handeln";
und einige Sätze weiter heißt
es: "Insofern trifft es in der Tat zu, was Miller wohl
sagen will: Die RC-Theorie ist keine Moraltheorie, sie ist keine
kritische Theorie der
Gesellschaft - und sie will es auch nicht sein" (Esser 1994,
S. 19). Einmal heißt es, die
RC-Theorie will nur erklären, und kurz darauf, "sie ist
also eine deskriptive, mithin
grundsätzlich fallible Theorie über die empirischen Regeln
der Handlungsselektion und über
die Prozesse der Aggregation der Effekte des Handelns zu kollektiven -
erfreulicher und
weniger erfreulicher Art". Dies schließe nicht aus, an die
deskriptiven Analysen Reflexionen
über das zu knüpfen, was für die Menschen gut ist oder
nicht, wie dies Coleman tue.
Hinsichtlich des Einwandes vorfixierter Präferenzen
ist es "ohne Zweifel richtig, daß die neoklassische
Ökonomie die Präferenzen
der Menschen als wohlgeordnet, als fixiert und als
extern vorgegeben (und die Erwartungen als sicher) angesehen hat - und
damit ein empirisch
unzutreffendes model of man angenommen hat" (Esser 1994, 20). In der
soziologischen
RC-Theorie seien diese Annahmen jedoch nicht enthalten: Denn die
Akteure könnten lernen,
ihre Umwelt zu bewerten und sogar ihre Situation in einer gewissen
Unabhängigkeit von
objektiv vorhandenen Restriktionen zu definieren. Im Prinzip bleibe
Becker weitgehend noch
bei den Annahmen des neoklassischen homo oeconomicus, doch habe gerade
er für eine
"soziologische" Wendung der Ökonomie und für die
Erklärung von Präferenzen einen ganz
zentralen Gedanken entwickelt: "Die Menschen haben alle einige wenige,
ganz allgemeine
Bedürfnisse, von deren Erfüllung sie sozial und physisch
abhängig sind und über die sich
nicht mehr streiten läßt" (Esser 1994, S. 21).
Bedürfnisse werden über Zwischenprodukte
erfüllt, die Becker als commodities bezeichnet, wie dies
beispielsweise Kinder in vielen Ehen
seien. Die Arten der commodities änderten sich mit den relativen
Knappheiten, aber auch mit
der institutionellen Struktur der Gesellschaft.
Präferenzen als institutionell erzeugte ließen
sich dann auch als Interessen bezeichnen, die sich mit den materiellen
Grundlagen des
sozialen Lebens veränderten - "so wie dies Karl Marx auch
gesehen hat" (a.a.O.). In
Parenthese ist dazu anzumerken, daß Marx wahrscheinlich "die Wahl
der Präferenzen, die
nach den gleichen Regeln gewählt werden, nach denen dann auf Grund
dieser Präferenzen
wiederum ein Handeln gewählt wird" (a.a.O.), als das falsche
Bewußtsein des falschen
Bewußtseins bezeichnet hätte.
Eine Verlängerung der Reihe der partiellen
Zugeständnisse an die von Miller vorgebrachte
Kritik und der Beispiele von Erklärungen, was RC-Theorie ist und
nicht ist - wobei der
Bezugsrahmen beliebig gewechselt wird -, scheint wenig zielführend
zu sein. Dies umso
mehr, als die häufige Verwendung von Ausdrücken wie
'weitergehend', 'vielleicht', 'strikt'
egoistische Handeln und egoistisches Handeln im weiteren Sinne, 'nie
grundsätzlich',
'wenigstens prinzipiell nicht' u. a. als Hinweise für einen
Sprachgebrauch zu deuten sind, der
Festlegungen vermeiden und den logischen Spielraum der Aussagen
erweitern will. Auf der
Höhe des Positivismusstreites hatte E. Topitsch in diesem
Zusammenhang von
Immunisierungsstrategie gesprochen und als Beispiel dafür,
daß derselbe Satz bald
sachhaltige Aussage, bald unwiderlegbare Leerformel sein kann,
zufälligerweise auf die
Auseinandersetzungen um den Utilitarismus verwiesen: "Die Behauptung,
daß die Menschen
stets aus Eigeninteresse handeln, kann entweder tautologisch formuliert
werden und ist dann
unwiderleglich, aber leer, oder sie kann als sachliche Aussage
auftreten, ist dann aber
widerlegbar und im übrigen falsch" (Topitsch 1968, S. 26).
Die Richtigstellungen und ausführlichen
Erläuterungen Essers zu Einzelheiten, die er für 'im
Ansatz' selbst als längst geklärt hält, bleiben also
offensichtlich hinter ihren selbstgesteckten
Zielen zurück. Wer nicht schon vor ihrer Lektüre zu den
Anhängern der RC-Theorie gehörte,
wird durch die vorgetragene Argumentation Essers sicherlich auch nicht
davon überzeugt
werden können, daß er in diesem Ansatz einer weitreichenden
theoretischen Innovation
gegenübersteht, die den Sozialwissenschaften völlig neue
Horizonte erschließen könnte.
Umso erstaunlicher ist es, daß trotz verschiedener
Abstriche im einzelnen in drei gleichzeitig
(in der "Soziologischen Revue") veröffentlichten Besprechungen das
'Opus magnum', wie
Coleman sein neues Werk nennt, als großes Ereignis gefeiert und
damit auch der RC -
Theorie ein prominenter Platz zugewiesen wird. Am deutlichsten J.
Weiß (1994, S. 285 ):
"Colemans Buch ist ein Ereignis und ein großer Glücksfall
für die gegenwärtige Soziologie,
zumal die deutsche". Grund des überschwänglichen Lobes ist
die Einschätzung dieses
Werkes als "einen höchst intelligenten und inspirierenden Versuch,
die theoretische
Erklärungskraft und, in eins damit, den politisch-praktischen
Nutzen der Soziologie zu
demonstrieren". Damit sollen sich neue Möglichkeiten ergeben, die
in den letzten Jahren
heruntergewirtschaftete Aufklärungsfunktion der Soziologie zu
erfüllen und somit auch den
Gebildeten unter ihren Verächtern6 ihre
Unverzichtbarkeit vor Augen zu führen.
Nach G. Büschges (1990, S. 273) hat Coleman mit
seinen Grundlagen "ein Standardwerk
geschaffen, das die Leistungsfähigkeit einer
strukturell-individualistisch orientierten, dem
Rational-choice-Ansatz verpflichteten Soziologie überzeugend
aufweist und zu ihrer
Weiterentwicklung eine Fülle von Anregungen und
Anknüpfungspunkten bietet. Er hat damit
bewiesen, daß die Anwendung allgemeiner Individualtheorien in den
Sozialwissenschaften
nicht zwangsläufig mit dem Verlust relevanter soziologischer
Explananda verknüpft sein
muß. Wenn die Grundlagen vertraute soziologische
Kategorien oft vermissen lassen, so liegt
dies daran, daß die damit angesprochenen Sachverhalte und
Probleme auf eine neue, der
heutigen geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit eher
angemessenen Weise angegangen
werden".
Für die Verfasser der dritten Besprechung, J.
Friedrichs und J. Kühnel (1994, S. 279), ergibt
sich die Einzigartigkeit, aber auch die Komplexität der
Sozialtheorie Colemans daraus, daß es
sich dabei um die Summe zahlreicher vorangegangener theoretischer und
empirischer
Arbeiten handelt. "Es ist eines der ganz wenigen Werke in der
soziologischen Literatur, in
dem eine soziologische Theorie entwickelt wird, diese zudem immer
wieder durch
empirische Beispiele erläutert oder neu belegt wird - und das
zudem einen mathematischen
Teil hat, in dem die Überlegungen in formalisierter Form
dargestellt werden. Insofern ist es
sogar ein einzigartiges Unterfangen". Die Bedeutung der Arbeit
läßt sich den beiden
Rezensenten zufolge auch an der Vielzahl von Besprechungen und
Diskussionen erkennen,
die sie seit ihrem Erscheinen im Jahre 1990 ausgelöst haben.
4.3 Alternative theoretische Möglichkeiten
Die bisherige Diskussion deutet darauf hin, daß
die RC - Theorie in der Gegenwart
offensichtlich an Boden gewinnt. Der Zuwachs an Bedeutung der
RC-Theorie kann leicht den
Eindruck erwecken, daß es nun, durchaus dem Zeitgeist
entsprechend und dem
allgegenwärtigen Diktat ökonomischer Betrachtungsweise
gehorchend, nur noch die beiden
Möglichkeiten gebe, das innovative Potential dieser neuen
Theoriekonzeption als neuen Hit
vorbehaltlos anzuerkennen oder sich mit einem Festhalten an dazu
gegensätzlichen
Positionen ins theoretische und damit auch soziale Abseits zu
manövrieren. Denn der
methodologische Individualismus hat ja auch bisher schon die Geister
geschieden, als
Ferment der Lagerbildung gewirkt. Denn hinter dem Gegensatz der
konfligierenden Ansätze
verbergen sich anscheinend unüberwindbare Dichotomien wie
individualistisch -
kollektivistisch, atomistisch - holistisch, utilitaristisch -
normativistisch oder ökonomisch -
soziologisch.
Das Theorieprogramm einer pragmatischen Wende in den
französischen
Sozialwissenschaften (vgl. Wagner 1990, S. 466) hält derartige
Gegenüberstellungen für
unfruchtbar und sucht sie dadurch zu unterlaufen, daß ihnen der
Stellenwert übermäßig
formalisierter, realitätsfremder Abstraktionen zugewiesen wird.
Doch die Existenz derartiger
Konstruktionen wird als Indiz dafür gewertet, daß ihnen in
der Realität durchaus ein Moment
entspricht, das der Untersuchung wert ist. Sie sind weder positive
Realität noch gültige
wissenschaftliche Gesetze, sondern eher als 'gemeinsame höhere
Prinzipien' für die
Begründung sozialen Handelns anzusehen.
Wagner (1990, S. 465) versucht, die Stoßrichtung
dieser neue Theoriestömung im Rahmen
der französischen Tradition an Hand folgender Schwerpunkte zu
verdeutlichen: zunächst
durch die Art der Kritik an und der Distanzierung von den
konventionellen
sozialwissenschaftlichen Theorien, dann über eine Reaktualisierung
der Handlungstheorie,
und schließlich über eine Reformulierung des Begriffes des
Institutionellen, das dem Denken
und Handeln der Individuen einen verbindlichen gemeinsamen Rahmen
vorgibt.
Bezugspunkte der Distanzierung sind Funktionalismus,
Strukturalismus und auch die
neoklassische Ökonomie und ihre jeweiligen sozialen Metaphysiken,
welche die Zugänge zur
Realität eher verschütten als eröffnen. Als Wegbereiter
dieser Entwicklung werden P.
Bourdieu, A. Touraine, aber auch die institutionalistische Tradition in
der französischen
Wirtschaftswissenschaft genannt. Also Ablehnung jeder Art von
Determinismus,
Rationalismus sowie Evolutionismus und Hinwendung zur Analyse konkreter
Prozesse wie z.
B. den sozialen Auseinandersetzungen um die Bewertung von
Vorgängen, der historischen
Umbrüche von sozialen Kategorien (z.B. Arbeitslosigkeit) und
Konventionen oder Typen von
Regeln der Einigung. Die disziplinären Kodifizierungen werden
damit relativiert, was
Möglichkeiten eröffnet, soziales Handeln in begrifflich
offenerer Weise im Hinblick auf
Formen der Einigung und Koordination zu untersuchen.
Ausgangspunkt der Reformulierung der Handlungstheorie
ist eine Analyse vergangener und
gegenwärtiger sozialer Praxis, in deren Mitte nicht die
künstlich isolierte Handlung, sondern
die Situation als Ganze in ihrer Zeitlichkeit, Offenheit der
Interpretation und der
Notwendigkeit, sie als eine gemeinsame zu bestimmen, steht. Mit einer
solchen Erweiterung
von Elementen, die in der Nähe des symbolischen Interaktionismus
bzw. der
Ethnomethodologie stehen, lassen sich räumlich und zeitlich weit
auseinanderliegende
soziale Phänomene in die Analyse miteinbeziehen. Soziales Handeln
erweist sich dann als
eine Form der Verständigung bzw. als eine Situation, die Einigung
und Kooperation durch
interpretative und transformative Arbeit der beteiligten Akteure
erfordert. Mit einer derartigen
Fokussierung der empirischen Forschung auf die Variabilität der
Einigungserfordernisse von
Situationen, auf die interpretative Tätigkeit der Beteiligten und
die Pluralität von Ergebnissen
läßt sich der Entstehung von Konventionen in einem zeitlich
und räumlich weit ausgedehnten
Horizont auf eine neue Art nachgehen.
Damit ist auch der Weg offen für eine Dynamisierung
des Institutionsbegriffes, in dem
Durkheim die kollektiven Denk- und Handlungsweisen zu fassen suchte.
Die Erweiterung des
bisherigen Verständnisses des Institutionellen als
verhaltensdeterminierender Kontext setzt an
bei der Unterscheidung zweier unterschiedlicher Typen von Situationen:
Einerseits
Situationen der Stabilität, gekennzeichnet durch wechselseitige
Anpassung und Koordination
der Meinungen über die Anerkennung einer gemeinsamen Ordnung im
Sinne des
herkömmlichen Verständnisses des Institutionellen.
Andererseits aber Situationen der
Unruhe, gekennzeichnet durch Auseinandersetzungen darüber, worum
es letztlich geht, in
denen Ungewißheit und kritischer Zweifel die jeweilige Szene
dominiert. Im Gegensatz zum
herkömmlichen Verständnis von Sozialwissenschaft
konzentrieren die neuen Ansätze ihr
Interesse auf den zweitgenannten Typus von Situation als den
konzeptionell offeneren und
daher auch generelleren. Die Wege zu Situationen des erstgenannten Typs
führen über die
letztlich immer unsichere 'Arbeit der Annäherung' an gemeinsame
Übereinkünfte. Der
Handlungsbegriff, der einem derartigen Forschungsprogramm
zugrundeliegt, sucht daher
schon im Ansatz der 'Ungewißheit über die Möglichkeit
von Koordination' Rechnung zu
tragen.
Nach Wagner (1990, S. 474) ist diese neue
Forschungsperspektive aus thematisch vielfältigen
und multidisziplinären Zusammenhängen entwickelt worden.
Obwohl sie den Intentionen
anderer neuer Ansätze bei Bourdieu, Touraine, Giddens, Joas u. a.
nahekommt, lassen sich
von der Problematisierung der Situativität des Handelns her neue
Zugänge zur Wahrnehmung
einer Pluralität von Möglichkeiten der Entstehung von
Institutionen finden. Ausgehend von
Forschungen über Situationen sozialer Auseinandersetzungen und
historische
Weichenstellungen eröffnen sich somit Chancen für "eine
gemeinsame Reformulierung von
Grundfragestellungen der Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und
politischen Philosophie"
(Wagner a.a.O.).
Im Zusammenhang mit Kontroversen um die
Unverzichtbarkeit bzw. Unvertretbarkeit der RC
- Theorie auf andere Ansätze hinzuweisen kann nur insofern
sinnvoll sein, als damit klar
wird, wie von anderen Grundlagen ausgehend sich andere Perspektiven und
Arbeitsmöglichkeiten ergeben. Für die neuen Bestrebungen im
Französischen Bereich, aber
keineswegs nur für sie, erweisen sich die konventionellen
Ansätze der Sozialwissenschaften
als unzureichend für eine Auseinandersetzung mit brennenden
Gegenwartsproblemen wie
Beschäftigungskrise und Arbeitslosigkeit sowie deren
Begleitphänomenen. Es ist
offensichtlich völlig abwegig, sie nur soziologisch oder nur
ökonomisch definieren zu wollen.
Gesellschaft und Wirtschaft voneinander trennen zu wollen, muß in
die Irre führen, wenn
Beschäftigung zur gesellschaftlichen Institution geworden ist und
die Homogeniserung der
Lebensformen über das Lohnarbeitsverhältnis reguliert wird.
Für J. P. Laville (1994, S. 235)
führt, durchaus auf der Linie des oben skizzierten neuen
Theorieprogrammes, der Verlust der
Beschäftigung zu einer Beeinträchtigung der Beziehungs- und
Kooperationsfähigkeiten. Der
Weg zu gesellschaftlicher Exklusion ist dann nur noch kurz. Laville
verlangt daher eine
Re-Kontextualisierung der ökonomischen Sphäre sowie eine
Re-Aktualisierung der Reflexion
über das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft. Dies
könnten seines Erachtens die
ersten Schritte sein in Richtung einer Sozio-Ökonomie, in der ein
Gegensatz Zwischen dem
Ökonomischen und dem Sozialen hinfällig ist.
5. Die Ebenen der Diskussion
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß die
Auseinandersetzungen um die RC - Theorie
auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Es ist zweifellos von Nutzen
diese
auseinanderzuhalten, mag auch die Anzahl der Ebenen unvollständig
und ihre Anordnung
diskutabel sein.
Als unterste Ebene sei hier die handlungstheoretische
genannt. ob im Hinblick auf den
Gegensatz zwischen Verhalten und Handeln die RC - Theorie in der
Nähe der
Verhaltenstheorie anzusiedeln ist. Das ist sicher nicht der Fall, wenn
es ihr lediglich um eine
Ausweitung der beiden Grundannahmen der Ökonomie - individuelle
Optimierung und
Gleichgewicht - samt verschiedenen Reihen von Zusatzannahmen geht, wie
dies
Buckley/Casson darstellen. Esser behauptet zwar, daß diese
Annahmen in der soziologischen
RC - Theorie nicht enthalten seien, gibt aber zu, daß Becker noch
weitgehend bei den
Annahmen des neoklassischen homo oeconomicus bleibt.
Auf der Ebene des Theorieverständnisses
läßt sich am ehesten Klarheit gewinnen. Denn es
handelt sich um die bekannte nomologische Konzeption, die sich am
klassischen Modell der
Naturwissenschaften orientiert und im Verweis auf Newton verlangt, das
einzelne als
Spezialfall des Allgemeinen zu betrachten. Aufgabe der Theorie ist es
daher, Komplexes
durch das Einfache zu erklären. Coleman äußert sich an
verschiedenen Stellen seines Werkes
zu seiner Theoriekonzeption, zwar nicht so eindeutig reduktionistisch
wie Esser, von diesem
aber wohl nicht substantiell abweichend.
Auf der Ebene der zentralen Begriffe ist ein
beträchtlicher Mangel an Klarheit zu
konstatieren. Ob im angelsächsischen Sprachraum der Begriff einer
rationality zweckdienlich
ist, mag hier offen bleiben. Im deutschen ist er es sicher nicht. Kant
hatte jedenfalls bereits
zwischen Verstand, Vernunft und praktischem Urteilsvermögen
unterschieden. Gleichzeitig
verwendete er den Begriff Vernunft auch als Oberbegriff für die
erwähnten drei kognitiven
Teilvermögen und versteht unter Kritik nicht bösartige
Diffamierung, sondern vielmehr den
Beweis einer gründlichen Denkungsart. Vermutlich weckt der Begriff
Akteur, mit dem der
englische Begriff eines actor in Ermangelung einer besseren Alternative
übersetzt wird,
Assoziationen an den Akteursbegriff bei Touraine und Bourdieu, die
keineswegs
gerechtfertigt sind. Ähnliches gilt wohl auch für den Begriff
der Praxis. Von dieser Ebene
einer sorglosen Verwendung unscharfer Schlüsselbegriffe ist der
Weg nicht weit zur nächsten
Ebene.
Mit der Ebene der Metatheorie sind jene
Äußerungen gemeint, die über das Selbstverständnis
der RC - Theorie Aufschluß geben. Im Gegensatz "zur fast schon
verblichenen 'Kritischen'
Theorie, die sich gerade jetzt einmal wieder meldet" (Esser 1994, S.
18), sieht sich die RC -
Theorie weder als Moraltheorie noch als eine kritische Theorie. Sie
beschränkt sich darauf,
"die Bedingungen aufzuklären, unter denen die - wie auch immer
definierte - umfassende
Rationalität auch umgesetzt werden könnte" (Esser 1994, 30).
Auch nach Coleman (1994, S.
5) "können Fragen nach Moral und politischer Philosophie, die die
fundamentale Spannung
zwischen Mensch und Gesellschaft ansprechen, hier nicht gestellt
werden". Dessen
ungeachtet sieht A. Favell (1993, S. 610) im Projekt Colemans eine
Verbindung von
rigoroser Sozialtheorie mit moralischen Ambitionen, die sich
vorteilhafter Weise von anderen
Versuchen, eine Soziologie in normativer Art zu schreiben, abhebe. Die
unausgesprochenen
moralischen Implikationen dürften denn auch der Anlaß
dafür sein, Colemans neue Arbeit als
"Soziologische Aufklärung in praktischer Absicht" (Büschges
1994, S. 273) einzuordnen,
während P. Bourdieu (1994) die RC - Theorie im Kontext einer
Epoche der Restauration
angesiedelt sieht.
Mit einer ideologischen Ebene soll der Differenz
zwischen deklarierter und implizit
wirksamer Zielverfolgung Rechnung getragen werden. Dazu gehört die
von Miller
angekreidete Verschleierung von Machtungleichheit im Sinne der
Stabilisierung gegebener
Machtverhältnisse. Wahrscheinlich dient auch die ganze
Rationalitätssemantik insgesamt der
Verdeckung der Tatsache, daß Vernunft nicht gerade jene Kategorie
ist, mit der sich
kapitalistische Gesellschaften des ausgehenden 20. Jhdts am
adäquatesten beschreiben lassen.
Wenn zudem K. Marx bemüht wird, um die Unschuld der RC- Theorie
außer Zweifel zu
stellen, so kann dies wohl nur als opportunistische
Instrumentalisierung von der Sache nach
abgelehntem Gedankengut bezeichnet werden.
Schlußbemerkung
Eine Theorie, die das Komplexe auf Einfaches reduziert,
also die Vielfalt gesellschaftlicher
Phänomene allein von einer durchaus fragwürdigen
Rationalität her zu erklären sucht, muß,
mag sie auch von Teilen der soziologischen Zunft hoch gelobt werden,
nachdenklich
stimmen. Denn es bleibt durchaus offen, ob damit eine "soziologische"
Wendung der
Ökonomie eingeleitet wird, wie Esser (1994, S, 21) angibt, oder
nicht viel eher eine
"ökonomische" Wendung der Soziologie, womit der angesprochene
Imperialismus sein Ziel
erreicht hätte. Damit tritt aber das ein, was R. Sennet (1994)
gegen Schluß seiner
Bemerkungen "Zum Tod der Soziologie" betrüblich stimmt, "daß
unser Fach, indem es
feiwillig auf die kritische Tradition der Vergangenheit verzichtet, so
bewußtlos die
Gegenwart widerspiegelt".
Anmerkungen
S.2
1) Der Nobelpreis für Ökonomie hat mit den Intentionen A. Nobels nichts zu tun, ist also im Grunde kein Nobelpreis, denn es handelt sich dabei um den "Preis der Zentralbank Schwedens für die ökonomische Wissenschaft zum Andenken an Alfred Nobel". Dieser Nobelpreis verdankt seine Existenz nur einer geschickten Umbenennung eines Bankpreises, die deswegen möglich war, weil Auswahlverfahren und Dotierung analog zu den richtigen Nobelpreisen gestaltet worden sind. Unter dem derzeitigen Vorsitzenden des Komitees Assar Lindbeck wird die Auswahl der Kandidaten immer einseitiger, denn die Auszeichnung wird vorzugsweise nur solchen Universitätsprofessoren verliehen, die zu beweisen suchen, daß "die Marktkräfte allein alles ins Lot bringen" (Zank 1993, S. 38)
S. 10
2) Einen völlig konträren Standpunkt vertritt Erikson (1993, S. 259), der darauf hinweist, daß Newtons Theorie an der schottischen Universität zum selbstverständlichen Lehrstoff gehörte, und gerade Adam Smith es war, der sich bemühte, das Theoriemodell der newtonschen Astronomie für die theoretische Erfassung von Geschichte und Gesellschaft nutzbar zu machen
S.11
3) Für eine ausführliche neuere Diskussion der rational-choice-Theorie sei auf das Heft 1993/3 der "acta sociologica" verwiesen, insbesondere auf die Pro-Argumente bei Coleman (1993, S. 169), und die Auflistung von Gegenargumenten bei Elster (1993, S. 179)
S. 15
4) Zur Unangemessenheit einer solchen Forderung sei an Kants die "Kritik der reinen Vernunft" einleitende Feststellung erinnert, daß die menschliche Vernunft "durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann,....die sie aber auch nicht beantworten kann". Wenn dies heute noch gilt, so wird die Kritische Theorie weiterhin nicht alle Bedürfnisse nach einer überzeugenden Definition von objektiver Rationalität erfüllen können.
S. 16
5) Konzeptionen, die das klassische Wissenschaftsverständnis hinter sich lassen, unterscheiden Komplexität und Komplikation (vgl. Günther 1968, S. 336); zur Nicht-Reduzierbarkeit des Komplexen auf Einfaches vgl. z.B. E. Morin (1977, S. 83 ff)
S. 18
6) So auch schon Schleiermacher 1799, jedoch im Hinblick
auf die Religion
Literatur
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