Otto Nigsch
(in: Schweizerische Zeitschrift für
Soziologie/Revue Suisse de sociologie 20 (1994) 1, 207 -
238)
1. Heiligenbilder im Wechselrahmen
Hinter der Rede von den "Riesen der Soziologie" steht
anscheinend das Anliegen, erste Plätze
in der Ahnengalerie dieser noch jungen Wissenschaft zu verteilen. Man
könnte in einer
derartigen Stilisierung auch eine Form von Hagiographie in einer
Disziplin erkennen, die sich
ansonsten dem Gedanken des Abbaues von Mystifikationen, der Kritik von
Ideologien und
der Säkularisierung von Glaubenssystemen verpflichtet weiß.
Soferne Heiligenverehrung und
Ahnenkult hier wie auch andernorts - in religiösen oder
politischen Zusammenhängen
beispielsweise - Vorbildhaftes und Maßgebliches herausstellen,
könnte dies einer Disziplin,
die sich in periodischen Intervallen sowohl von außen wie auch
von innen in Frage gestellt
sieht, einen gewissen Rückhalt geben. Weniger naheliegend ist eine
Umkehrung dieses
Gedankens, daß nämlich ungelöste Konflikte und
Widersprüchliches bei den Früheren, auf
die Bezug genommen wird, auch auf beträchtliche Distanzen hin
erhebliche Fernwirkungen
zeitigen und damit auch als Ursache von Verunsicherung wirksam werden
können.
Nach weit verbreiteter Überzeugung ist das Bild von
den "Riesen" der Fachdisziplin auf
Robert K.Mertons (1980) Studie "Auf den Schultern der Riesen"
zurückzuführen. Weniger
bekannt ist, daß anscheinend bereits 1934 Robert Michels die
"beiden zeitgenössischen
Riesen" Vilfredo Pareto und Max Weber damit befaßt sah, sich mit
der Problematik der
Gesellschaft wissenschaftlich auseinanderzusetzen (s. Eisermann 1988,
2), ohne dabei auf
bereits einigermaßen zuverlässige Vorarbeiten
zurückgreifen zu können. Mit Vilfredo Pareto
und Max Weber beginnt also nach Robert Michels die moderne Wissenschaft
von der
Gesellschaft, anders geartete Bemühungen scheinen ihm von
nachgeordneter Bedeutung zu
sein. Sonderbarerweise figuriert Pareto jedoch nicht im Gruppenbild der
"soziologischen
Riesen" bei Merton. Sein Heiligenbild setzte sich zusammen aus Max
Weber, Emile
Durkheim und Georg Simmel. Nicht daß Merton Pareto nicht gekannt
hätte. Ganz im
Gegenteil, Merton gehörte einige Zeit in Harvard zum
berühmten Pareto-Zirkel, doch hat er,
wie Gottfried Eisermann (a.a.O.) bemerkt, auf Pareto vergessen, "da er
vielleicht zu dieser
Zeit wieder einmal in Amerika als 'unbequem' galt". Spätere
Interpretationen der
Traditionsbildung (Collins 1985, 878) weisen auch Karl Marx einen
prominenten Platz zu.
Wenn dies die Annahme rechtfertigt, daß Beatifizierungen nicht nur in religiösen, parteipolitischen u.a., sondern auch in wissenschaftlichen Kontexten das Resultat einer Hochstilisierung einer Person und ihres Werkes sind, so ist mit der Anerkennung der Größe einer Gestalt1 durchaus auch Bedeutsames ausgesagt
__________________________________
1) vgl. dazu auch Patricia A. Taylor (1987, 143), die auf weitere soziale Aspekte (Systemstabilisierung, soziale Kontrolle) der Heldenverehrung hinweist
über die Situation und das mentale
Koordinatensystem der Anerkennenden selbst. Weiter
oben wurde für die Art des Zusammenhanges zwischen einer als
"Riese" mystifizierten Figur
und den Bedingungen des den Mythos Produzierenden das etwas unscharfe
Kriterium der
"Unbequemlichkeit" ins Spiel gebracht. Was immer damit gemeint sein
mag, so läuft die
Berücksichtigung dieses Kriteriums doch darauf hinaus, daß
die Referenz auf Analysen und
Interpretationen einer früheren Gestalt zweckdienlich für die
Analyse und Interpretation der
Gegenwart gehalten wird, soferne die Vergangenheit zur Legitimation der
Gegenwart
herangezogen wird.
Damit verliert der Bezug auf einen Großen seinen
quasi-naturwüchsigen Charakter, hinter der
unterwürfigen Referenz vor den Riesen verbirgt sich die Frage,
welchen Gründen die
Verbeugung vor diesem und das Übergehen des anderen zuzuschreiben
ist. Da sich das, was
hier und jetzt warum getan wird, erfahrungsgemäß dem
reflektierenden Zugriff leicht
entzieht, ist es naheliegend, sich mit den Konjunkturen der
Hagiographie zu beschäftigen. Da
nicht Pareto, auch nicht Durkheim und Simmel, wohl aber Max Weber in
jedem der
Gruppenbilder von "Riesen" präsent ist und dem Genannten als
Ahnherrn der deutschen
Soziologie derzeit wieder vermehrtes Interesse entgegengebracht wird,
mag es angebracht
sein, der Geschichte dieser Stilisierung zum Erzvater der deutschen
Soziologie nachzugehen,
um damit exemplarisch herauszustellen, wie sehr historisch
Zufälliges bei der Konstitution
von heute allgemein Verbindlichem im Spiel gewesen ist.
2. Zur Konstruktion des Mythos vom Riesen am Beispiel von Max Weber
2.1 Die frühe Rezeption Max Webers im deutschsprachigen Raum
Bis zu Max Webers Tod, also noch zu seinen Lebzeiten,
ist außer der Dissertation von 1889
bei Levin Goldschmidt (über "Die Entwicklung des
Solidarhaftprinzips und des
Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaften aus den
Haushalts- und
Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten") und der
Habilitationsschrift von 1891
bei August Meitzen (über das Thema "Die römische
Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für
das Staats- und Privatrecht") keine seiner Arbeiten als Buch
erschienen, sein Gesamtwerk
also als Fragment zu betrachten (Eisermann 1988, 55). Meitzen war
Statistiker und
Agrarhistoriker, Goldschmidt hingegen Handelsrechtler. Die Arbeit
über die römische
Agrargeschichte stand überdies stark unter dem Einfluß von
Theodor Mommsen, dessen
Kritik an Max Webers Arbeit jedoch ihre grundsätzliche
Übereinstimmung bestätigte:
"Römische Agrargeschichte konnte nur auf Grund von iuristischen
und technischen Texten
(Handbücher für Feldmesser) geschrieben werden, damit die
verschiedenen Arten der
Landaneignung bestimmt werden konnten" (Momigliano 1977, 33). Unter dem
Einfluß von
Eduard Mayer, einem Wirtschafts- und Sozialhistoriker, gelang es Max
Weber einige Jahre
später, sich von Mommsens juristischer Betrachtungsweise zu
lösen und das Spektrum seiner
Forschungsinteressen zu erweitern.
Der Verweis auf Max Webers "Wirtschaft und Gesellschaft.
Grundriß der verstehenden
Soziologie", wie er sich häufig in Literaturverzeichnissen findet,
bezieht sich also nicht auf
eine von Weber verfaßte Monographie oder einen von ihm geplanten
Sammelband, sondern
ist eine posthum herausgegebene Kompilation verschiedener Arbeiten.
Dieser von Max
Webers Frau Marianne zuerst besorgten (1922 bzw. 1925)
Veröffentlichung nahm sich später
dann auch der Herausgeber der anderen Schriften Max Webers, Johannes
Winkelmann, an.
Doch trotz der Verdienste Winkelmanns um das Webersche Oeuvre
attestiert ihm Johannes
Weiß (1988, 570) einen editorischen Umgang mit "Wirtschaft und
Gesellschaft", der
problematisch und von schädlicher Wirkung sei, was die Wahrnehmung
und Beurteilung des
Weberschen Gesamtwerkes betreffe. Der Zweifel bezieht sich dabei auf
folgende zwei
Punkte: Zunächst auf die Frage, ob es sich bei der
Zusammenstellung der Texte um ein von
Max Weber selbst in dieser Form geplantes und in weiten Teilen
fertiggestelltes Werk, und
dann weiters, was wohl noch wichtiger zu sein scheint, daß es
sich dabei aus Webers eigener
Perspektive um sein Hauptwerk handle, tatsächlich "um den Ertrag
von Webers
wissenschaftlicher Lebensarbeit", wie seine Frau Marianne behauptete
(vgl. Weiß 1988, 573).
Mit dieser Behauptung sind als weitere Annahmen verbunden: Vorerst
einmal, "Wirtschaft
und Gesellschaft" enthalte eine unzweifelhafte Gliederung in eine
allgemeine Soziologie, die
begriffliche Grundlegung, und eine spezielle Soziologie; dann aber,
daß es sich dabei um eine
große Soziologie handle, weil sie die wissenschaftliche
Lebensarbeit Max Webers
zusammenfasse und er selbst sich damit disziplinär in der
Soziologie verorte.
Werden derartige Einordnungen unbesehen übernommen,
so stehen auch schon die
Grundlagen bereit, auf denen sich die Konstruktion vom soziologischen
Riesen errichten läßt.
Bedenken lassen sich zunächst einmal aus dem Wissen über die
zeitliche Abfolge der
Schwerpunkte in der Arbeit Max Webers ableiten.
Nachdem sich Max Weber von seinem Nervenzusammenbruch
(1898) wieder erholt, in
Italienurlauben neue Kraft geschöpft hatte, begann er sich
zunächst mit methodologischen
und wissenschaftslogischen Fragen auseinanderzusetzen, angeregt durch
neuerliche
Diskussionen mit Eduard Meyer über die historische Methode
(Momigliano 1977, 34). Für
die Jahre vor 1909 läßt sich nach einer anderen Darstellung
als der bei weitem wichtigste
Problemkreis der 'Geist des Kapitalismus' ausmachen, dessen Wurzeln Max
Weber auf die
protestantisch-puritanische Ethik zurückführen zu können
glaubte (Breuer 1988, 315).
Nach Gottfried Eisermann (1988, 20) übernimmt Max
Weber 1909 nach einem
entsprechenden Briefwechsel mit dem Verleger Paul Siebeck die Redaktion
des berühmten
"Grundriß der Sozialökonomik", 1910 beginnt er intensiv mit
seinen religionssoziologischen
Studien und nimmt die Arbeit an seinem Opus magnum, 'Wirtschaft und
Gesellschaft', in
Angriff (Eisermann 1988, 21).
Im Jahre 1910 wurde ein Stoffverteilungsplan für
das von Weber redigierte Werk gedruckt,
das insgesamt fünf Bände mit u.a. folgenden Beiträgen
von Max Weber selbst vorsah: Über
den modernen Staat und den Kapitalismus, über die Grenzen des
Kapitalismus in der
Landwirtschaft und die innere Kolonisationspolitik, einen
Unterabschnitt zum ersten Buch
mit dem Titel 'Wirtschaft und Gesellschaft', der Wirtschaft und Recht,
Wirtschaft und soziale
Gruppen (Familie und Gemeindeverband, Stände und Klassen, Staat)
und Wirtschaft und
Kultur behandeln sollte. Als nach diversen Modifikationen des
Gesamtplanes die erste
Abteilung erschien, figurierte darin Max Weber als Verfasser des
Abschnittes "Die
Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte". Alle
diese Beiträge sollten
inhärente Bestandteile eines ökonomischen Sammelwerkes sein,
keineswegs aber ein
Lehrbuch der Soziologie, so Johannes Winckelmann (subcit. Breuer 1988,
316). Daß mehr
ökonomische denn soziologische Absichten im Vordergrund standen,
ergibt sich auch aus
den Veränderungen des Titels des geplanten Sammelwerkes. Dem
ursprünglichen Plan, ein
'Handbuch der politischen Ökonomie' zu erstellen, begegnete Max
Weber mit dem Vorschlag
zu einem 'Lehr- und Handbuch der Sozialökonomik'. Auf Wunsch der
Verlegers Siebeck
wurde daraus dann schließlich ein 'Grundriß der
Sozialökonomik'.
Stefan Breuer (1988, 319) hält als
werksgeschichtlichen Befund fest, daß Max Weber nach
der Debatte über die Protestantische Ethik sein Forschungsprogramm
erweitert hat: Auf die
Untersuchung der Auswirkungen anderer Religionen auf die
Wirtschaftsethik einerseits, die
Bedingtheit dieser Religionen durch außerreligiöse Faktoren
(insbes. die
Herrschaftsorganisation) andererseits; und analog dazu die Bedingtheit
der Wirtschaft durch
die Herrschaftsordnung wie ebenso auch die Thematisierung der
umgekehrten Kausalreihe.
Diesen zuletzt genannten Teil seines Programmes hat Max Weber
allerdings nicht erfüllt.
Der Rezension zu Johannes Winckelmanns letzter Arbeit zu
"Max Webers hinterlassenes
Hauptwerk" (1986) von Johannes Weiß lassen sich noch einige
zusätzliche Informationen
entnehmen, die für eine Einordnung des Weberschen Werkes von
Nutzen sind. Es wird darin
etwas genauer darauf hingewiesen, daß die Arbeit am
"Grundriß der Sozialökonomik"
zeitlich auf die Jahre 1909/10 bis 1914 und dann wieder auf die Zeit
von Anfang 1918 bis
zum Tode Webers 1920 zu lokalisieren ist. Wichtig auch der Verweis auf
einen Brief von
Max Weber an den Verleger Siebeck aus dem Jahre 1913, in dem er betont,
"daß dieser
Beitrag 'annähernd' seine Soziologie" darstellen werde, auch wenn
er selbst sie "nie" so
nennen könnte. Dabei handelt es sich um den einzigen Beitrag zum
"Grundriß" in einer
endgültigen Fassung (Titel: "Die Wirtschaft und die
gesellschaftlichen Ordnungen und
Mächte"), der heute verfügbar ist. Johannes Weiß (1988,
574) geht jedenfalls davon aus, daß
Weber bis zuletzt in einem durchaus ambivalenten Verhältnis zur
"Soziologie" gestanden sei
und untermauert diese Feststellung durch einen Verweis auf einen Brief
Webers von 1919.
Darin bekundet Weber seine Absicht, "das erneut in Angriff genommene
Werk solle, gerade
auch durch seine 'lehrbuchhafte' Form, dazu beitragen, daß die
'Soziologie' (sic)
'endlich.....streng sachlich-wissenschaftlich' behandelt werde und
aufhöre, eine
'Dilettanten-Leistung geistreicher Philosophen' zu sein" (vgl.
Weiß 1988, 574).
Auch in früheren Bezügen auf 'die Soziologie'
oder 'die Soziologen' setzte Max Weber diese
jeweils (vgl. z.B. Weber 1951, pp. 53, 92) in Anführungszeichen,
was wohl als Hinweis auf
einen gewissen distanzierenden Positionsbezug zu interpretieren sein
dürfte. Es gibt also gute
Gründe, sich der Schlußfolgerung von Johannes Weiß
(1988, 574) anzuschließen, Weber
habe weder sich selbst ausschließlich oder auch nur in erster
Linie als Soziologen verstanden,
noch habe er in der Soziologie (als theoretischer Wissenschaft) den
Inbegriff oder den
Endzweck aller historisch-gesellschaftlichen Forschung gesehen. Wem die
bisherigen
Hinweise als unzureichend für eine solche Schlußfolgerung
erscheinen, der sei zusätzlich auf
Max Webers Aufsatz über "Die Grenznutzenlehre und das
psychophysische Grundgesetz" aus
dem Jahre 1908 hingewiesen, wo wiederholt die Rede von "unserer
Disziplin" ist (vgl. Weber
1908, pp. 389, 393, 396). Aus den jeweiligen Kontexten ergibt sich ohne
den geringsten
Zweifel, daß sich Max Weber der Zunft der Ökonomen
zugehörig wußte.
Im Gegensatz dazu hatte sich bereits ein Jahr
früher, also im Jahre 1907, Vilfredo Pareto, ein
anderer "Gelegenheitsriese", bewußt von der Nationalökonomie
als wissenschaftlichem
Betätigungsfeld verabschiedet, wie aus einem seiner Brief an
Maffeo Pantaleone hervorgeht.
"Soll ich mich besser mit Soziologie oder Ökonomie befassen? Ich
glaube mit Soziologie,
und zwar deshalb: Für den Fortschritt der Ökonomie
genügen Begabung und Wissen, und
viele (ich sage das ohne falsche Bescheidenheit) sind mir darin
überlegen. Für das Studium
der Soziologie bedarf es zum gegenwärtigen historischen
Zeitpunkt (ich sage nicht immer),
daß man absolut außerhalb des aktiven Lebens steht und wie
ein Eremit lebt, so wie ich in
Celigny" (Pareto, subcit. Mongardini 1976, 235 f). Bei seinem Vorhaben,
Parallelen und
Kontraste zwischen Pareto und Weber herauszuarbeiten, kommt Gottfried
Eisermann jedoch
zu folgender Akzentuierung: "Weber fuhr indes fort, sich souverän
auf dem Gebiet der
Soziologie im weitesten Sinne, der Sozialpolitik, der Staatslehre und
der Politologie zu
bewegen. Webers wirtschaftstheoretische Kenntnisse, die hier einmal als
das bezeichnet
werden müssen, was sie waren, nämlich äußerst
bescheiden, waren insoweit niemals über
Gustav Schmoller, wessen er sich immer bewußt blieb, wirklich
hinausgekommen"
(Eisermann 1988, 19).
Damit stellt sich hier ein doppeltes Problem:
Zunächst einmal, wie jemand mit "äußerst
bescheidenen Wirtschaftskenntnissen" nicht nur 1893 als Ordinarius
für Nationalökonomie
nach Freiburg, 1896 als Nachfolger von Karl Knies nach Heidelberg
berufen werden konnte,
sondern auch 1918 nochmals, zumindest probeweise, das
nationalökonomische Ordinariat an
der Universität Wien (Eisermann 1988, 32) und im folgenden Jahr
einen Lehrstuhl in
München mit größtem Erfolg zu übernehmen
vermochte. Dann aber, wenn die Abwertung
Max Webers im ökonomischen Fach dem Bemühen zuzuschreiben
sein sollte, ihn, den
Großen, um so eindeutiger auf dem Gebiet der 'Soziologie im
weitesten Sinne' ansiedeln zu
können, was ist unter einer derartigen Soziologie zu verstehen,
wenn Weber selbst für diese
Disziplin strengere Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit
einforderte?
Mit der Frage, inwiefern Max Weber der Soziologie
zuzuordnen sei, setzte sich auch Ludwig
Mises in seinem 'Epilog zum Methodenstreit in der
Nationalökonomie' von 1929 auseinander,
den er mit "Geschichte und Soziologie" überschreibt. Dabei geht er
davon aus, daß
Soziologie und Nationalökonomie denselben logischen Charakter
aufweisen, und letztere, die
Nationalökonomie, der am besten ausgebaute Teil der erstgenannten,
der Soziologie, sei.
Durch Windelband, Rickert und Max Weber hätten sich Verschiebungen
in der
Problemstellung ergeben. Für die Ablehnung der Soziologie und
ihres Teiles, der
Nationalökonomie, hatten auch, vielleicht in erster Linie, "wie
z.B. bei Schmoller, Brentano
und Hasbach, politische Gründe den Ausschlag gegeben" (Mises 1929,
466). Grund der
Ablehnung war die Absicht, politische und wirtschaftspolitische
Forderungen erheben zu
können, die sich bei Prüfung durch die Mittel der
nationalökonomischen Theorie als
widersinnig erweisen mußten. Der Methodenstreit war nach Ansicht
Mises', was oft
übersehen werde, auch ein Streit um den logischen Chgarakter der
Geschichtswissenschaft.
Verlangten die einen, man müsse sie naturwissenschaftlich, d.h.
als Gesetzeswissenschaft
betreiben, so sahen andere die Unmöglichkeit, dieses Verlangen zu
erfüllen und gaben daher
"wehmutsvoll zu, daß die Geschichte keine Wissenschaft sei"
(Mises 1929, 470).
Der Geschichtswissenschaft attestierte Mises (1929,
492), daß sie in allem und jedem, was sie
zu sagen habe, implizit soziologische Theorien verwende. Daher auch
verständlich, daß der
Historiker - wenn auch nur in Verkennung der Grenzen soziologischer und
historischer Arbeit
- die Ansprüche der Soziologie als 'Strittigmachung seines
ureigensten Gebietes empfindet'.
Nachdem er des öfteren auf Stärken und
Schwächen Max Webers hingewiesen hat, stellt
Mises (1929, 496) abschließend fest, daß die
Untersuchungen, die Webers nachgelassenes
Hauptwerk "Wirtschaft und Gesellschaft" vereinige, zu dem Besten
gehören, "was das
deutsche wissenschaftliche Schrifttum der letzten Jahrzehnte
hervorgebracht hat. Doch sie
sind in ihren wichtigsten Teilen nicht soziologische Theorie in unserem
Sinne. Sie sind auch
nicht Geschichte in dem allgemein gebräuchlichen Sinn des
Ausdrucks". Und weiter heißt es:
Was Weber als Soziologie angesehen hat, muß anders, am besten als
'Allgemeine Lehre der
Geschichte oder kürzer als Allgemeine Geschichte' bezeichnet
werden.
Sozialwissenschaftliche Forschung ist für ihn nur als besonders
qualifizierte Art historischer
Forschung logisch denkbar (a.a.O., 473), und obwohl die
südwestdeutsche Schule des
Neukritizismus Wichtiges für weitere Untersuchungen über die
Logik der Geschichte
geleistet hat, kennt sie das Problem soziologischer Wissenschaft
überhaupt nicht und schenkt
ihm darum keine Beachtung. Und weiter: Obwohl M. Weber "Lehrer der
Nationalökonomie
an zwei Universitäten und an zwei anderen Lehrer der Soziologie
(gewesen ist), war er
dennoch weder Nationalökonom noch Soziologe, sondern Historiker"
(Mises 1929, 471).
Weitere Recherchen in weiteren noch verfügbaren
Zeugnissen könnten die Wirkung des
Werkes von Max Weber auf seine Zeitgenossen sicher noch komplettieren.
Doch würde sich
wohl nichts am Gesamteindruck ändern, daß Weber als ein
Grenzgänger zwischen mehreren
Disziplinen zu betrachten ist, die alle ihrerseits mit erheblichen
Problemen des
Selbstverständnisses kämpften und sich zudem gravierenden
Herausforderungen der
Außenlegitimation gegenübergestellt sahen. Mit einiger
Sicherheit ist davon auszugehen, daß
Weber sich selbst nicht als Soziologe definierte, sein Werk nicht
schwerpunktmäßig als ein
soziologisches verstanden hat. Daher wurde er von seinen Zeitgenossen
nicht vorrangig als
Soziologe wahrgenommen, wenn auch schon kurz nach seinem Tode,
zunächst einmal von
seiner Frau Marianne, begonnen wurde, seine vor allem soziologische
Bedeutung
herauszustellen. Damit war wohl eine erste Basis für die
Konstruktion eines Bildes vom
"Riesen" gelegt, das aber schärfere Konturen erst durch die
Rezeption in der amerikanischen
Soziologie gewinnen sollte.
2.2 Die spätere Rezeption im amerikanischen Raum
Ob mehr die Uneinheitlichkeit und Vieldeutigkeit des
Weberschen Werkes oder die
Turbulenzen des sich ankündigenden zweiten Weltkrieges und dann
dieser selbst seiner
weiteren Verbreitung im Wege standen, ist wohl schwer zu entscheiden.
Doch dürfte mit
einiger Sicherheit davon auszugehen sein, daß die späte
Aktualisierung Max Webers auf dem
europäischen Kontinent engstens mit der Ausbreitung der
amerikanischen Soziologie
zusammenhängt, die ihm in den 30er Jahren einen prominenten Platz
zuweisen sollte. Dank
neueren Forschungen sind nun die näheren Umstände dieser
Weber-Rezeption in Amerika
genauer bekannt. Es scheint lohnenswert, sie heranzuziehen, um die
weiteren Phasen der
Konstruktion des Bildes vom "soziologischen Riesen" verfolgen zu
können. Das Reizvolle
und Gewinnbringende an dieser Rekonstruktion scheint in der Erkenntnis
zu liegen, wie eng
auch diese neuerliche Artikulation von Soziologie bzw. der
Erkennbarkeit einer neuen Gestalt
von Soziologie ebenfalls an Diskussionen und Schwerpunktsetzungen im
Bereich der
Nationalökonomie gekoppelt sind.
Wie allgemein bekannt, hat Talcott Parsons die Arbeiten
Max Webers bei seinem Aufenthalt
in Deutschland kennengelernt. Er verbrachte die Jahre 1925/26 in
Heidelberg, um an seiner
Dissertation über die Kapitalismustheorien von Werner Sombart und
Max Weber zu arbeiten.
Nach Hans Joas (1992, 47) reflektiert diese frühe Arbeit Parsons
den damaligen Gegensatz
zwischen den Institutionalisten im Gefolge von Thorstein B. Veblen und
den orthodoxen
Neoklassikern. Sowohl Werner Sombart wie auch Max Weber, beide waren
als den Themen
der Institutionalisten nahestehend zu betrachten, ohne daß sie
jedoch deren naiven
Fortschrittsglauben teilten. Sombart und Weber unterschieden sich
jedoch in ihrer Stellung
zur orthodoxen ökonomischen Theorie: Während ersterer zu
dieser negativ eingestellt
gewesen sei, habe Weber in seiner Konzeption des Rationalmodells des
Handelns den Kern
ihrer Annahmen bewahrt .
Zwischen Werner Sombart und Max Weber gibt es
beträchtliche Übereinstimmungen, aber
auch Differenzen. Geboren 1863 bzw. 1864 dissertierte ersterer 1888 mit
einer Untersuchung
über "Die römische Campagna", letzterer 1889 mit "Die
Entwicklung des Solidarhaftprinzips
und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaften aus den
Haushalts- und
Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten". 1890 wurde
Sombart Extraordinarius
für Nationalökonomie in Breslau, 1892 erlangte Max Weber
denselben Status an der Berliner
Universität, allerdings für das Fach Handelsrecht und
Deutsches Recht. Während Sombart in
der Folge einen empfindlichen Bruch in seiner akademischen Laufbahn
hinnehmen mußte,
schlug Weber, "äußerlich gesehen, scheinbar eine akademische
Bilderbuchkarriere ein"
(Eisermann 1988, 8). Anlaß des Karrierebruchs bei Sombart war
anscheinend die Tatsache,
daß er ungeschriebene Gesetze übertreten hatte und damit
gesellschaftlich "aus der Rolle"
gefallen war (Papcke 1988, 41). Denn er wagte es, in Breslau Seminare
über den Marxismus
abzuhalten und mit seinen Studenten nahegelegene Industrien zu
besuchen, was für einen
deutschen Gelehrten etwas völlig Ungewohntes war. 1896
veröffentlichte Sombart
"Sozialismus und soziale Bewegung", eines seiner Hauptwerke, das immer
wieder aufgelegt
und schließlich in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt
worden war. Er beschäftigte sich mit
dem internationalen Sozialismus und galt als verkappter Linker,
sodaß sechs Berufungen
scheiterten, obwohl sein Freund Weber diese nachdrücklich
unterstützte. Auch wenn Werner
Sombart später zu den Linksparteien auf Distanz ging, sie eher als
Produkt denn als
Bezwinger des Kapitalismus betrachtete, so legte er noch 1934 in einem
Buch über den
"Deutschen Sozialismus" dar, wie Deutschland aus der ökonomischen
Wüste herausfinde,
indem das Dritte Reich auf genossenschaftliche Füße gestellt
werde. Doch darum kümmerte
sich niemand im Hitlerreich, Sombart galt als altmodisch, sodaß
er bis zu seinem Tode 1941
mehr und mehr in Vergessenheit geraten ist.
Ungeachtet dieses, unter den gegebenen Umständen
verständlichen stillen Endes war
Sombart "in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts der national
und auch international
bekannteste deutsche Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Viele
seiner Werke und
Schriften wurden in die gängigen europäischen und
außereuropäischen Sprachen übersetzt -
auch ins Chinesische. Sein Bekanntheitsgrad übertraf
beispielsweise den seines heute so
vielzitierten Zeitgenossen, Freundes und Kampfgefährten Max Weber
zu beider Lebzeiten
erheblich" (Krüger 1988, 36).
Beide beschäftigten sich mit der Entstehung,
Gegenwart und Zukunft des modernen
Kapitalismus. Die Untersuchungen beider zu diesem Thema waren
Gegenstand der
Dissertation von Talcott Parsons. Warum nun bezieht sich dieser bei
seiner
Weiterentwicklung der soziologischen Theorie nur auf Max Weber und
übergeht nahezu
völlig den damals bekannteren Werner Sombart, wenn das
Verhältnis von ökonomischer und
soziologischer Theorie das eigentliche Schlüsselproblem von
Parsons erstem großen Buch
von 1937 gewesen ist? (vgl. Joas 1992, 46)
Dafür dürften wahrscheinlich einerseits die
intellektuelle Herkunft Parsons, andererseits aber
seine Ambitionen, im akademischen Milieu Harvards Fuß zu fassen,
eine große Rolle gespielt
haben. Charles Camic (1992) kommt in seiner jüngsten Studie
über "Reputation and
Predecessor Selection: Parsons and the Institutionalists" zum
Schluß, daß das geläufige
content-fit Modell der Vorläuferwahl nicht zu erklären
vermag, warum sich Parsons von den
amerikanischen Institutionalisten abgewandt hat. Das content-fit Modell
geht davon aus, daß
geistige Vorläufer gewählt werden auf der Grundlage der
Übereinstimmung ihrer Ideen mit
dem Projekt des Forschers, der sich auf sie bezieht. Trotz
Übereinstimmung ihrer Ideen mit
den Gedanken in 'The Structure of Social Action' (1937) wendet sich
Parsons von ihnen ab,
weil sie damals in Harvard einen schlechten Ruf hatten, und bezieht
sich statt dessen auf
Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Emile Durkheim und Max Weber. Daraus
folgt, daß nicht
die Übereinstimmung in den grundlegenden Ideen, sondern
reputationale (Vor-)Urteile im
lokalen Netzwerk der universitären Beziehungen bei Parsons
für die Selektion von
Vorläufern ausschlaggebend gewesen sind. Einige
Zusatzinformationen sollen diese
Zusammenhänge deutlicher hervortreten lassen.
Nach Charles Camic (1992, 427) ist es
aufschlußreich, die meist übergangenen ersten
(undergraduate) Studienjahre Parsons' am Amherst College 1920 - 1924 zu
beachten.
Rückblickend schreibt Parsons selbst es dem Einfluß seiner
beiden Lehrer Walton H.
Hamilton und Clarence E. Ayres zu, daß sich der Schwerpunkt
seiner Interessen in jenen
Jahren von der Biologie auf die Sozialwissenschaften verlagerte.
Hamilton war damals einer
der wichtigsten Vertreter der "institutionellen Ökonomie",
während Ayres als Philosoph auf
dem Wege war, ein angesehener Institutionalist zu werden. Von diesen
beiden erhielt Parsons
eine solide Einführung in die Grundlagen der institutionellen
Ökonomie, die ihn bis in die
Mitte der 30er Jahre beschäftigen sollte.
Der Begründer dieser sogenannten institutionellen
Schule, Thorstein B. Veblen (1857 -
1929), ging davon aus, daß die Ökonomie nicht als
geschlossenes System, sondern vielmehr
als ein Aspekt einer Kultur zu betrachten sei, deren Bräuche und
Gewohnheiten Institutionen
bilden, die sich jeweils rasch veränderten. In seiner "Theory of
the leisure class" (1899) stellte
er fest, daß der "homo oeconomicus, dessen einziges Interesse die
Selbstsucht und dessen
einzige menschliche Eigenschaft die Vorsicht ist, für die moderne
Industrie nicht den
geringsten Nutzen" besitzt (Veblen 1981, 180). Mit seiner Betonung des
demonstrativen
Konsums und der damit verbundenen, weit verbreiteten Vergeudung von
Gütern stellte er die
bedürfnisbetonten Modellvorstellungen der klassischen und
neoklassischen Ökonomie der
Jahrhundertwende nachhaltig in Frage. Berechtigte Kritik zog sich
Veblen allerdings wegen
seiner biologistischen Vorstellungen vom Menschen und wegen seines
schwer
nachvollziehbaren Evolutionismus zu.
Doch was er begonnen hatte, wurde von einer Gruppe von
Theoretikern fortgesetzt, die man
als die jüngere Generation der Institutionalisten bezeichnete.
Ihre Grundgedanken,
niedergelegt im Sammelband "The Trend of Economics" (1924), griffen
Veblens Kritik der
orthodoxen Nationalökonomie neuerdings auf und untermauerten diese
Kritik durch die
Betonung der sozialen Implikationen des Wirtschaftens: der Rolle der
nicht-kommerziellen
Anreize, der Bedeutung ideeller und kollektiver Ziele, ethischer und
sozialer Werte, der
gesellschaftlichen Absichten und Interessen.
Zum harten Kern der jüngeren Institutionalisten
gehörten auch die beiden bereits erwähnten
Lehrer Parsons in Amherst. Hamilton griff die Theorie der orthodoxen
Ökonomen direkt an,
indem er ihr Positivismus, extremen Individualismus, Rationalismus und
Utilitarismus
vorwarf, deren Konsequenz letztlich eine verfehlte Theorie des
Indiviuums zur Folge haben
müsse. Er stellte in Abrede, daß es so etwas wie den homo
oeconomicus in Wirklichkeit
geben könne, denn die Menschen seien Produkte ihrer sozialen
Institutionen und der jeweils
vorherrschenden Verfaßtheit ihrer Kultur. Als Schüler
Charles H. Cooleys widersetzte er sich
einer ökonomischen Position, die zu einem Verständnis der
Individuen als freischwebenden
Atomen führen mußte und betonte, daß die
ökonomische Organisation kein für sich selbst
existierender Gegenstand sein könne. Denn damit würde
übersehen, daß immer und überall
gemeinsame Werte und soziale Institutionen das Streben nach Eigennutz
regeln und in
bestimmte Bahnen lenken, jede menschliche Tätigkeit von bestimmten
Standards der
Konformität überformt ist und überdies das Problem der
gesellschaftlichen Ordnung vom
Standpunkt der ökonomischen Orthodoxie ungelöst bleiben
müsse.
Ähnlich argumentierte auch Ayres, der den Bogen vom
marginalen Nutzen in der Ökonomie
zur Marginalisierung der Ethik spannte, darauf bestand, den Menschen
als soziales Produkt
und nicht als organische Natur zu betrachten. Menschliches Tun ereigne
sich jenseits allen
tierischen Verhaltens, seine Analyse verlange den Rekurs auf die
Gesamtheit des kulturellen
Lebens eines Volkes. Selbst das Funktionieren der kapitalistischen
Ökonomie setze
institutionelle Sanktionen voraus, im Geschäftsleben gelten in
gleicher Weise wie im
Privatbereich allgemein anerkannte Regeln des Wohlverhaltens.
Es ist wenig verwunderlich, daß die Vertreter der
orthodoxen Ökonomie sich formierten und
nun ihrerseits die Institutionalisten anzugreifen begannen. In den
späten 20er Jahren setzte
sich dann die Überzeugung durch, daß die Institutionalisten
die Schlacht gegen die
Orthodoxen verloren hätten. Bereits 1923 hatten Hamilton und Ayres
aus Protest gegen die
Entlassung des reformwilligen Präsidenten des Collegs in Amherst
dieses verlassen. Beide
wechselten in der Folge des öfteren ihre Stellen und zogen sich
schließlich ganz aus dem
Lehrberuf zurück.
Parsons Entschluß, in Harvard seine
ökonomischen Studien fortzusetzen, ergab sich auf
Grund der Kontakte mit einem Harvard-Absolventen 1926/27 in Amherst, wo
Parsons eine
einjährige Lehrverpflichtung übernommen hatte.
Ausschlaggebend war dabei die Einsicht,
daß die Ökonomie seiner ersten Studienjahre nicht die
Ökonomie der damals dominierenden
Hauptströmung war (Camic 1992, 343). So kam nun Parsons als
Instruktor für Ökonomie
nach Harvard, wo alle seine neuen Kollegen einen zu Hamiltons und
Ayres' Theorien
entgegengesetzten Standpunkt einnahmen. Da Parsons für seine
weitere Karriere am
Departement für Soziologie die Unterstützung der
Ökonomen und anderer, die über
entsprechenden lokalen Einfluß verfügten, dringend
nötig hatte, schien es geboten, nicht den
geringsten Verdacht auf irgendein Nahverhältnis zum Gedankengut
der verpönten
Institutionalisten aufkommen zu lassen.
Parsons hat sich bei der Ausarbeitung seines ersten
Hauptwerkes, der 'Structure of social
Action', selbst dann nie auf sie bezogen, als er kritische und
konstruktive Argumente
formulierte, die den ihrigen recht nahe kamen (Camic 1992, 437). Um
seinem Denken mehr
Anerkennung zu verschaffen, hat er sich auf die vier Europäer
berufen, die damals in Harvard
ein tadelloses 'reputational standing' hatten: auf Alfred Marshall,
Vilfredo Pareto, Emile
Durkheim und Max Weber. Für Marshalls, des englischen
Ökonomen, und Paretos, des
Italieners, hervorragende Bedeutung setzten sich Frank W. Taussig, ein
Schüler Marshalls,
und Josef Schumpeter ein. Um 1933 war unter den Ökonomen Harvards
die Ansicht
verbreitet, daß man sich entweder für die Tradition, in der
Marshall stand oder den
Standpunkt von Veblen zu entscheiden habe. Zwischen 1932 - 1934 fand
das berühmt
gewordene Pareto-Seminar Lawrence J. Hendersons statt, an dem auch
Parsons teilnahm. In
diesem Seminar wurde ebenfalls Durkheims Werk ausführlichst
behandelt, nicht zuletzt
deswegen, weil vor allem Parsons Kollege Elton Mayo von der Harvard
Business School die
Bedeutung Durkheims mit Nachdruck hervorhob. Auch Max Weber stand in
hohem Ansehen,
sowohl bei den Ökonomen wie auch bei anderen lokalen
Autoritäten, die vor allem seine
wirtschaftsgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Leistungen
bewunderten.
Charles Camic (1992, 438) hebt eigens hervor, es sei ihm
vor allem daran gelegen, den
historischen Prozeß von Parsons Wahl der theoretischen
Vorläufer zu rekonstruieren, und
nicht ein Urteil über das Faktum dieser Wahl abzugeben, obwohl sie
u.U. eine wichtige Rolle
für die Etablierung eines Kanons klassischer soziologischer
Theorie gespielt haben könne.
Camic ist äußerst vorsichtig in der Interpretation von
Parsons Wahlentscheidung: Zwar weist
er die Unterstellung zurück, Parsons habe damit ein
instrumentelles Manöver vollzogen, um
der damals lokal vorherrschenden Meinung Genüge zu tun. Er
vermutet, daß sich der Einfluß
der europäischen Denker auf viel subtilere Weise, erst im Laufe
der Zeit, während der
Ausarbeitung seiner wesentlichen Argumente zuungunsten der
Institutionalisten durchgesetzt
habe. Dennoch kommt Camic (1992, 438) im Rückblick auf die Zeit,
als der Prozeß der
Kanonbildung noch im Gange war, zum Schluß, daß Faktoren
der intellektuellen Reputation
bei Kollegen, die selbst keine Soziologen waren und oft auch wenig
informierte Werturteile
abgaben, den Prozeß der Formierung eines Kanons soziologischer
Klassiker doch wesentlich
beeinflußt haben.
Wenn Reputation hier "eine soziale Konstruktion
bedeutet, die dem gemeinsamen Glauben an
die Exzellenz einer Person oder eines Werkes etc. einer bekannten
Person" Ausdruck verleiht
(Camic 1992, 433), so läßt sich im dargestellten
Prozeß der Vorläuferwahl bei Parsons eine
weitere Stufe der Hochstilisierung bestimmter Denker zu "Riesen der
Soziologie" erkennen.
3. Der Kanon als fiktive Zentralperspektive
3.1 Die soziale Funktion eines Kanons
Im heutigen Sprachgebrauch findet der Ausdrucks "Kanon"
vor allem in religiösen Bereichen
häufig Verwendung. Es gibt den alttestamentlichen und den
neutestamentlichen Kanon bei
den Christen und den Koran als die heilige Schrift des Muslims. In
diesen Zusammenhängen
bedeutet Kanon jeweils eine Sammlung von tradierten Texten, deren
Authentiziät als
sogenannte Schriften der Offenbarung in Abgrenzung zu anderen
Schriften, die als nicht zum
Kanon zugehörig definiert werden, für allgemein verbindlich
erklärt wird. Die Fixierung
eines Kanons ist jeweils Resultat langwieriger Auseinandersetzungen und
Streitigkeiten,
Dissens über die Verbindlichkeit eines als gültig
erklärten Kanons häufig Anlaß zu
Abspaltungsprozessen und Sektenbildungen.
Diese heute vorwiegend an religiös-kirchliche
Kontexte gebundene Kategorie des Kanons
darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß in
analoger Weise auch in anderen Bereichen
kognitive Systeme mit einem hohen Verbindlichkeitsgrad existieren, also
auch andernorts ein
der Kanonbildung analoger Vorgang der sozialen Normierung von
Denkinhalten vor sich
geht, der zugleich auch als Prozeß der Bildung sozialer Systeme
angesehen werden kann.
Der Ausdruck "Kanon" wurde bei den Griechen verwendet im
Sinne von Exaktheit,
Richtschnur, Grenzlinie, Regel und Norm, kommt jedoch aus dem
Semitischen, wo er
ursprünglich das Rohr bedeutete, das zur Herstellung von
Körben und Meßruten diente. Im
Mittelalter spielte nicht nur der kirchenrechtliche Kanon, sondern auch
der medizinische
Kanon von Avicenna (980-1037) eine große Rolle. Diese
Enzyklopädie des medizinischen
und pharmakologischen Wissens stand in Europa bis in die zweite
Hälfte des 17. Jhdts. in
hohem Ansehen (Sabra 1974, 876).
Ähnliche Abgrenzungsprobleme, wie sie bei jeder
Kanonbildung beobachtbar sind, liegen
auch bei der Festlegung der Grenzen von Wissenschaft vor, sowohl was
ihren Inhalt und auch
ihren zeitlichen Beginn betrifft als auch bei der Bestimmung des
Verhältnisses einzelner
Disziplinen der Wissenschaft zueinander und ebenso bei Fragen der
weiteren
Differenzierungen des wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldes in immer
neuere Arbeitsgebiete
mit teils recht variablen und unscharfen Grenzen. Dem liegen, was nicht
immer
mitberücksichtigt werden kann, die beiden folgenden Tatsachen
zugrunde: Einmal, daß
Wissenschaft den Anspruch erhebt, mit einem besonderen methodischen
Instrumentarium
Probleme eines speziellen Gegenstandsbereiches auf besonders kompetente
Art und Weise zu
bearbeiten. Es sind dies Tätigkeiten, deren Faszination aus der
Entdeckung von neuem
Wissen über Objekte bzw. der Erprobung von bestimmten
Interventionsmöglichkeiten in
bestimmten Gegenstandsbereichen resultiert. Also eine scheinbar
ausschließliche
Bestimmtheit von ihren Objekten her, verbunden mit dem Anspruch von
Objektivität, die
einer besonderen gesellschaftlichen Reputation würdig ist.
Andererseits aber realisiert sich
dieser Objektbezug mit den Mitteln, die eine vorgegebene Kultur
bereitsstellt bzw. möglich
macht und in gesellschaftlich zugelassenen Formen. Die angeblich reine
Orientierung am
Gegenstand und seiner Bearbeitung vollzieht sich normalerweise in
gesellschaftlichen
Formen, die, wie das Beispiel der Kanonbildung bzw. der Codifizierung
eines bestimmten
Wissens zeigt, den vorgeblich reinen, von nichts anderem
beeinflußten Gegenstandsbezug
letztlich als illusionäre Prämisse erscheinen lassen
müssen. Indem Wissenschaftler ihre
Wissenskonstruktionen über Seinsbereiche errichten, etablieren sie
gleichzeitig ein soziales
Beziehungssystem mit all seinen Implikationen, die dann wieder
Gegenstand der
Wissenschaftsforschung, insbesondere der Wissenssoziologie sein
können und sind.
Als Kanon läßt sich also jener harte Kern von
kognitiven Elementen eines sozialen Feldes
betrachten, der das als verbindlich Anzuerkennende mit einiger
Bestimmtheit umschreibt,
Bezugspunkte der Legitimation fixiert und ein gewisses Maß an
Identität zwischen jenen
stiftet, die diese Wissenbestände als ihre eigenen betrachten. Man
kann darin auch besondere
Aspekte von Prozessen der Institutionalisierung, der Kristallisierung
oder der Strukturbildung
sehen, die alle indizieren, daß dynamische Prozesse immer wieder
zu Stabilitäten führen, die
von unterschiedlicher Dauer sind, weil auch ihre Resistenz gegen
Veränderungen variabel ist.
Es gibt auch gute Gründe anzunehmen, daß Codifizierung von
Regeln und die Kanonisierung
von Wissensbeständen in jenen Bereichen einer Gesellschaft am
besten elaboriert und mit
Sanktionen belegt sein werden, die für ihr Selbstverständnis
und ihren Bestand als von
größter Bedeutung erachtet werden. Und umgekehrt wäre
wohl auch davon auszugehen, daß
Wissensbestände umso weniger reglementiert sind, je geringer ihre
Bedeutung
gesamtgesellschaftlich oder auch für einen gesellschaftlichen
Teilbereich veranschlagt wird.
Man könnte im Prozeß der Kanonbildung wohl
auch mit einigem Recht die schriftliche
Dimension des Prozesses der Institutionalisierung sehen. Bestimmte
Schriften bestimmter
Autoren erhalten damit den Rang des Exemplarischen und
Maßgeblichen im strengen Sinn
des Wortes, daß damit eben Maßstäbe gesetzt werden,
die verbinden und trennen, Grenzlinien
zwischen Zugehörigem und Nicht-Zugehörigem ziehen. Ein Bezug
auf und ein Bekenntnis zu
einem bestimmten Kanon stiftet eine gewisse Identität, mag diese
auch noch so brüchig sein.
Ein Kanon fundiert einen (Minimal-) Konsens hinsichtlich einer
bestimmten Sicht der
Probleme und einer bestimmten Art und Weise, sie zu bearbeiten. Der
Hinweis auf eine
'bestimmte' Sicht und eine 'bestimmte' Art der Bearbeitung ist
keineswegs so aufzufassen, daß
damit Spielräume in der Akzentsetzung und die Ausbildung
unterschiedlicher Meinungen
keinen Platz mehr hätten. Verschiedene Paradigmen innerhalb eines
einzigen Kanons sind
keineswegs ein Widerspruch. Denn wo derartige Spielräume
beschnitten sind, macht sich
steriler Dogmatismus breit, hält Sektierertum Einzug. Dies
blockiert dann offensichtlich auch
alle Möglichkeiten weiterer Entwicklung, führt zu Stillstand,
der Lebendiges erstarren läßt.
Wenn Wissenschaft Entwicklung und Veränderung nicht
nur zu analysieren, sondern auch zu
beeinflussen beansprucht, so stellt sich die Frage nach dem
Verhältnis von Kanon und
Veränderung. Fürs erste bieten sich zwei Denkalternativen an:
Einmal eine zu starke Bindung
an einen traditionellen Kanon, die hinderlich sein kann, sich auf neue
Phänomene in neuen
Bereichen mit der notwendigen Offenheit und Ungezwungenheit
einzulassen; dann aber auch
die Möglichkeit, einen Kanon als Bezugspunkt für wenig
wichtig zu halten, wenn nicht völlig
außer acht zu lassen. Mag eine solche Vorgangsweise - soferne sie
praktisch überhaupt
realisierbar ist - für einzelne einen lustvollen Zugang zu und
einen neuen Umgang mit neuen
Bereichen ermöglichen, so wird damit, je mehr einem Fach
zugehörige Forscher und Lehrer
eine solche Vorgangsweise für notwendig im Sinne des Wachstums
wissenschaftlicher
Erkenntnisse halten, der Auflösung einer scientific community mit
allen ihren Konsequenzen
der Weg bereitet.
Die diskutierten Alternativen scheinen als Denkmodelle
möglich, aber nicht zwingend
realitätsnah zu sein, sodaß sich als weitere Vorstellung der
Gedanke aufdrängt, einen Kanon
vorwiegend in der symbolischen Ordnung verankert zu sehen. Damit ist
die Bereitschaft
gemeint, die wissenschaftliche Tätigkeit der Gegenwart als in der
Tradition von dieser und
jener großen Figur stehend zu deklarieren. Dies kann einmal
geschehen durch äußere
Verweise, die vom Inhalt her keineswegs erforderlich wären, aber
auch auf dem Wege einer
"Rekonstruktion" der Theoriebestände der Altvorderen, wobei offen
bleibt, ob mit einer
solchen Rekonstruktion nicht werkfremde Elemente eingeschmuggelt
werden. Auch das mag
vorübergehend für einzelne Akteure zielführend sein -
Tote setzen sich nicht zur Wehr gegen
Kuckuckseier - , längerfristig werden derartige Praktiken
ebenfalls Zersplitterung und Zerfall
einer Fachdisziplin beschleunigen.
Es ist also durchaus sinnvol, auch auf die Soziologie
die Kategorie eines Kanons und die
damit bezeichnete Realität, das die Soziologie Charakterisierende,
das Identitätsstiftende, sie
von anderen Fächern Unterscheidende oder wie man immer dies in
Worten ausdrücken mag,
anzuwenden. Natürlich läßt sich dagegen der Einwand
vorbringen, dies sei eine veraltete
essentialistische Denkweise, die auf einen Substantialismus
hinauslaufe, der sich heute kaum
mehr rechtfertigen lasse. Dafür ließen sich zweifellos auch
einleuchtende Argumente
beibringen. So einsichtig diese auch sein mögen, sie finden die
Grenze ihrer
Überzeugungskraft am Faktum der objektiven Seite der Existenz
einer institutionalisierten
Disziplin, an ihren organisatorischen Funktionsbedingungen. Was damit
gemeint ist, ließe
sich auch als der hardware-Aspekt der Angelegenheit begreifen: Jede
institutionalisierte
wissenschaftliche Disziplin braucht Geld, Personal,
Räumlichkeiten; es bedarf gewisser
Richtlinien der Rekrutierung von Personal, eines fachbezogenen
Programmes für
Forschungsaufgaben, eines Curriculums für die Lehre und eines
Kriterienkataloges, um
fachbezogene Prüfungsrituale vollziehen zu können. Mangelt es
an den genannten
Voraussetzungen, so kann ein Fach sich zunächst einmal nicht
weiter entwickeln, in der
Folge aber nicht einmal mehr seine Bestände erhalten.
In der Beobachtung von Charles Camic (1992, 439),
daß an einem wichtigen Punkt der
Bildung eines soziologischen Kanons dieser selbst von häufig
uninformierten fachfremden
Kollegen - gemeint sind damit vor allem Fachvertreter der
Nationalökonomie in Harvard -
beeinflußt worden ist, läßt sich mehr als nur ein
nebensächlicher Forschungsbefund erkennen.
Sie kann auch Ausgangspunkt weiterer Überlegungen sein:
Zunächst einmal zur Frage eines
soziologischen Kanons als solchem führen, ob es einen gibt, worin
er besteht und wie er
entstanden ist, dann weiters zur Frage, ob Kanonfragen der Soziologie
etwas mit ihren
gegenwärtig häufig artikulierten Krisenerfahrungen zu tun
haben und schließlich, inwiefern
diese Krisenerfahrungen umweltbedingt, d.h. von Veränderungen im
gesellschaftlichen und
wissenschaftlichen Umfeld mitbedingt, also auch als vorübergehende
Erscheinung zu
betrachten sind.
Die erste Frage, die sich auf die Existenz eines
soziologischen Kanons bezieht, ist
ungewohnt, sowohl was die Verwendung des Ausdrucks wie auch die damit
bezeichnete
Sache betrifft. In durchaus analoger Weise wie Charles Camic beim
jungen Parsons der 30er
Jahre spricht auch Carlo Mongardini im Zusammenhang mit der
Charakterisierung der Zeit
des jungen Pareto explizit dessen Bedeutung für die Kanonbildung
an. Pareto sei nicht der
einzige gewesen, "der in jenem historischen Moment beginnt, neue Wege
der Forschung zu
suchen, die den Kanon der marxistischen Soziologie oder den
'idealistischen Sozialismus', bei
dem Durkheim schon in den Règles de la méthode
sociologique angelangt ist, überwinden"
(Mongardini 1976, 21). Insgesamt ist jedoch die Frage nach einem Kanon
der Soziologie
keine die Fachgemeinschaft brennend interessierende Frage. Denn dies
gibt jedem einzelnen,
der sich ihr zugehörig fühlt, zunächst einmal die
Möglichkeit, nach Gutdünken seine
Verbindungslinien zur Fachgeschichte herzustellen. Ein Blick in die
einführenden Lehrbücher
und Textsammlungen, die einen Überblick vermitteln sollen, findet
jedoch eine gewisse
Konstanz bei immer wiederkehrenden Themen, deren Behandlung jeweils mit
bestimmten
Autoren in Verbindung gebracht wird. Näher an die Frage eines
Kanons führt das Bild von
den "Riesen" heran oder die Berufung auf die sogenannten Klassiker. Am
Beispiel von Max
Weber sind einige Schritte dieser Hochstilisierung zum Riesen und
Klassiker rekonstruiert
worden, die durchaus den Schluß rechtfertigen, daß dabei
ein beträchtliches Maß an
historischer Kontingenz zu einer sich nahezu selbst rechtfertigenden
Entwicklungslinie
geradegebogen worden ist. Gegenwärtige Versuche, die 'große
Theorie' Parsons'
weiterzuschreiben, lassen sich als Versuche interpretieren, den
historischen Kanon mit
variablen Akzentsetzungen und unter Einführung zusätzlicher,
den Kanon erweiternder
Elemente bis in die Gegenwart zu verlängern, dem Fach damit eine
solide Grundlage zu
geben. Derartige ehrenwerte Ambitionen suggerieren Kontinuität und
Aktualität, vermögen
aber einer um sich greifenden Verunsicherung und expliziten
Beschwörung einer Krise der
Soziologie, ja sogar Befürchtungen ihrer Auflösung,
keineswegs wirksam entgegenzutreten.
Möglicherweise lassen sich über die Krisenerfahrungen der
Klassiker selbst, die Art ihrer
Krisenbewältigung und den nachfolgenden Kanonisierungsprozeß
einige Anhaltspunkte für
ein besseres Verständnis dessen gewinnen, was heute als krisenhaft
und krisenanfällig
empfunden wird.
3.2 Artikulationen der Krise
Zunächst einmal wäre vorauszuschicken,
daß die Wissenschaften gar nicht selten als in
Krisen befindlich beschrieben werden. Husserl hat beispielsweise 1936
eines seiner letzten
Werke der "Krise der abendländischen Wissenschaft" gewidmet.
Fünfzehn Jahre zuvor hatte
Adolf Günther die "Krise der Wirtschaft und der
Wirtschaftswissenschaft" veröffentlicht. Der
Ausdruck 'Krise' soll in derartigen Zusammenhängen einen desolaten
Zustand bezeichnen,
dessen Symptome darauf hindeuten, daß es so wie bisher nicht mehr
weitergehen kann. Dabei
wird meist übersehen, daß das Wort Krise eine ambivalente
Phase eines Prozesses anspricht.
Charakteristisch für eine solche Phase ist, daß die
Entwicklung, wenn sie weitergeht wie
bisher, einem katastrophalen Ende entgegenstrebt, oder aber, soferne
aus irgendwelchen
Gründen der Prozeß in eine andere Richtung zu laufen
beginnt, eine Neustrukturierung,
Wiederherstellung und Stabilisierung eintreten kann. Thematisierungen
einer Krise lassen
sich also auch als Teil einer unerläßlichen und ebenso
heilsamen Selbstreflexion betrachten,
die sich keineswegs nur aufs Lamentieren beschränken muß.
Bloße Krisenrhetorik ist wenig
zielführend. Erst wenn sich ihr auch eine zutreffende
Krisendiagnostik zugesellt, vermag sie
jenen nützlichen Punkt eines sichtbaren Umschwunges zu markieren.
Wer sich die Mühe ersparen will,
Krisenbeschreibungen aus jüngerer Zeit selbst
zusammenzutragen, findet eine umfangreiche Sammlung davon im
Jubiläumsband der
"Sozialen Welt" (1989), den Ulrich Beck anläßlich ihres
40-jährigen Bestehens
herausgegeben hat. Birgitta Nedelmann bezeichnet dieses Produkt als
"Selbstbesinnung über
Zustand und Perspektiven des Faches", als peinlich und bewegend. Die
Peinlichkeit resultiere
aus der Larmoyanz und dem eitlen Selbstdarstellungsbedürfnis
einiger Autoren, das
Bewegende bestehe darin, daß es sich dabei um ein "einmaliges
Dokument über die
anomischen und selbstdestruktiven Tendenzen innerhalb der
gegenwärtigen
bundesrepublikanischen soziologischen Gemeinschaft" handle (Nedelmann
1992, 144). Mit
der Orientierung an den drei Fragen: Welche Diagnose? Wie ist der
diagnostizierte Zustand
zu erklären? Reaktionen der Autoren darauf? werden zweifellos die
wesentlichen Momente
eines Krisendiskurses angesprochen.
Zum ersten, der Diagnose: Manchen Autoren genüge es
nicht, von Krise zu sprechen; sie
sähen bereits das unheilvolle Ende dieser Krise und die Soziologie
in Auflösung begriffen,
vor ihrem oder bereits im Zusammenbrechen. Als Indizien dafür
werden bemüht: das Ende
der klassischen Makrosoziologie, mitbedingt durch eine
mikrosoziologische Revolution;
Verabschiedung von einem heilswissenschaftlichen
Selbstverständnis, das selbst einem
Modernisierungsprozeß und Entzauberungsprozeß unterliege,
an dessen Ende der Abschied
von der Soziologie stehe; die Distanzierung der Fachvertreter von ihrem
Fach, indem sie zum
Philosophen oder Ethnologen, zum allgemeinen Sozialwissenschaftler oder
gar zum
Anti-Soziologen mutieren.
Zum zweiten, der Erklärung des Zustandes, stellt
Nedelmann (1992, 144) eine erstaunliche
Unbeholfenheit fest, den beklagten Zustand auch soziologisch zu
reflektieren. Ja, sie geht
sogar so weit zu behaupten, daß jene am schwärzesten sehen,
die am wenigsten in der Lage
sind, die Situation mit Hilfe des Instrumentariums der eigenen
Profession zu reflektieren.
Autoren, die wissenschaftssoziologisch argumentieren, bemängeln
die Absenz - im
Gegensatz etwa zur Medizin, der Rechtswissenschaft oder der
Ökonomie - eines eigenen
Rationalitätskriteriums und die Unfähigkeit, dem doppelten
Legitimitätsproblem zu
begegnen: dem Problem der Binnenlegitimität, das sich daraus
ergebe, daß weder ein
Minimalkonsens über die Kriterien und Standards der Profession
bestehe und darum - damit
zusammenhängend - auch die Möglichkeit fehle, sich eindeutig
von den Nachbardisziplinen
und der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit abzugrenzen; und
weiters dem Problem der
Außenlegitimität, womit ein sogenanntes Leistungsdefizit des
Faches angesprochen werde,
also die Tatsache, daß andere Wissenschaften wie Ökonomie,
Biologie oder
Rechtswissenschaften zur Lösung akuter gesellschaftlicher Probleme
stärker gefragt seien als
die Soziologie (Nedelmann 1992, 147). Daraus ergebe sich dann, leicht
nachvollziehbar, ein
verhängnisvoller Teufelskreis: Das "Leistungsdefizit bewirkt,
daß ihre soziale Geltung und
Außenlegitimität noch weiter sinken. Diese Schwäche
wirkt wiederum negativ auf die
Bemühungen der Profession zurück, ihre eigene Identität
zu bewahren und die Kriterien der
Binnenlegitimität zu homogenisieren" (a.a.O.).
Es entsteht also ein Zustand der Anomie, als Resultat
aus dem Verlust eines klassischen und
unentbehrlichen Gegenstandes der Soziologie, der Institutionen der
staatlichen Ordnung,
oder, was auf dasselbe hinausläuft, aus einer angeblichen
Individualisierung der Soziologie,
womit der Soziologie das Grab geschaufelt werde. Der häufig
eingeforderte Bezug auf die
Klassiker und die gründliche Auseinandersetzung mit ihnen sei
durchaus ambivalent zu
sehen: Wollen die einen damit einen Anschluß an deren
programmatisches Anliegen
herstellen, den Prozessen der Vermittlung zwischen Interessen
unterschiedlichen
Institutionalisierungsgrades und unterschiedlicher
Institutionalisierungsarten nachgehen, so
sehen andere im nachhaltigen Studium der Klassiker einen Ausdruck der
Krise selbst oder
das Bemühen, die Krise zu verdecken (Krisenkitt).
Auf Anomie folgt, dem bekannten Schema der Soziologie
entsprechend, auch bei Soziologen
selbst Apathie, Rückzug und Ritualismus als Reaktion auf die
Krise. Die Apathie
manifestiere sich in einer Mischung von multidimensionaler
gleichgültiger Vielfalt und
demonstrativer Kommunikationsindifferenz: gegenseitige Nicht-beachtung
von Empirikern
und Theoretikern, konfliktloses Nebeneinander verschiedener Paradigmen,
als Wurzelboden
für Selbstzufriedenheit und individualisierte Anpassung an die
anomische Situation. Als
Tendenzen des Rückzugs werden die Selbststilisierung der eigenen
Person interpretiert und
die Manie, sich durch Neologismen zu profilieren, als Tendenzen des
Ritualismus die
folgenlosen Beschwörungen der Interdisziplinarität.
Am Schluß ihrer kritischen Sichtung eines
voluminösen Bandes zur Krise der
bundesrepublikanischen Soziologie stellt Nedelmann einige
Überlegungen über Auswege aus
dem Teufelskreis an. Moralische Appelle seien wenig geeignet,
professionellen
Zerfallserscheinungen entgegenzuwirken. Solange das Binnenmilieu
schwach und
unstrukturiert sei, könne die soziologische Gemeinschaft dem Druck
nicht standhalten, der
vom derzeitigen Zeitgeist des Antiintellektualismus und der Abrechnung
mit der
68er-Generation auf sie ausgehe. Gelinge es nicht, diesem Druck wirksam
zu begenen, so
wäre für viele ihr Zerfall ein willkommenes Ereignis
(Nedelmann 1992, 151). Darüber, wer
mit den "vielen" gemeint sein könnte, also über jene, denen
die Soziologie heute ein Dorn im
Auge ist, die von ihrem Zerfall profitieren würden, finden sich
leider keine weiteren
Aussagen.
Vergleichbare Standortbestimmungen zur Soziologie in der Schweiz, Deutschland und Frankreich wurden auf dem IX. Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Neuchâtel im Oktober 1991 vorgelegt. Die dort präsentierten Analysen sind hier insofern von Interesse, als sie gestatten, das Bild von einer Krise der gegenwärtigen Soziologie,2 wie oben angesprochen, zu verallgemeinern, zu relativieren oder als nicht den Verhältnissen entsprechend zu betrachten.
___________________________________
2) vgl. dazu auch die Beschreibung der Situation der
Soziologie in Österreich von Hans G.
Zilian (1992, 20 f)
Was die Darstellung der Verhältnisse in der
Bundesrepublik betrifft, versucht Hans-Peter
Müller (1992, 751 ff) zunächst einen anscheinend objektiven,
weniger düster gezeichneten
Bericht zu geben. Am Ende seines Beitrages greift er dann aber doch
ausdrücklich bereits
Bekanntes als deutlich sichtbaren Trend der 80er Jahre auf: den
sinkenden Einfluß der
Soziologie auf die Politik und den öffentlichen Diskurs, ein
Abtreten der Rolle der
Wortführerschaft an die Philosophie (Debatten um die Postmoderne)
und
Geschichtswissenschaft (Historikerstreit), den Verlust an
Attraktivität für Studierende, der
sich das Fach in früheren Jahren erfreute. Doch sei der
offensichtliche Niedergang des
Prestiges dieser Wissenschaft nicht Grund genug, über Krise und
Ende der Sozioloige zu
lamentieren, denn sie sei auch in den 80er Jahren mit
beträchtlichen theoretischen und
empirischen Leistungen hervorgetreten. Und abschließend: "Nicht
die Soziologie in
Deutschland, sondern die deutschen Soziologen sind in einer Krise. Sie
sind alt geworden und
sollen mehr die Ruhe pflegen, denn der Generationswechsel ist bereits
im vollen Gange"
(Müller 1992, 761). Eine neue Generation und bedrückende
gesellschaftliche Probleme der
90er Jahre sollten Grundlage eines vorsichtigen Optimismus sein.
Der Kongrss in Neuchâtel hat mit der Wahl seines
Generalthemas "Soziologie der Schweiz,
Soziologie in der Schweiz" Selbstreflexion und Standortbestimmung des
Faches bereits im
Programm festgeschrieben; offensichtlich nicht so sehr aus Anlaß
eines zu feiernden
Jubiläums, was Inszenierung und Zelebrierung der eigenen
Identität für selbstverständlich,
wenn nicht für unumgänglich erscheinen läßt. Den
Grund der Selbstthematisierung präzisiert
François Hainard: Zwar lassen sich bei der Einordnung der
Soziologie in der Schweiz sowohl
positive wie auch negative Aspekte erkennen, doch insgesamt steht sie
seiner Meinung nach
vor einem Scheideweg mit den Alternativen eines neuen Aufbruchs oder
einer risikoreichen
Stagnation (Hainard 1992, 151). Zu den positiven Aspekten, auch von
anderen Referenten
betont, ist jedenfalls die - im Vergleich zu Frankreich und Deutschland
mit einem gewissen
Zeitverzug - erfolgreiche Institutionalisierung der Soziologie und die
Konsolidierung
fachspezifischer Forschungstätigkeiten zu rechnen.
Anfängliches Mißtrauen von seiten der
politischen Behörden, die Abwehrreflexe einer weithin
verständnislosen Gesellschaft sind der
Einsicht gewichen, daß soziologische Forschung für Diagnose
und Bearbeitung
gesellschaftlicher Probleme durchaus von Nutzen sein kann. Mit dieser
Einsicht ist auch die
Bereitschaft verbunden, den Zugang zum erforderlichen Minimum an
Forschungsmitteln zu
ermöglichen. Dennoch profitiert nach Ansicht Hainards die
Soziologie aus der generell
verstärkten Nachfrage nach soziologischen Analysen nur in
eingeschränktem Maße: Denn
einerseits sei die Forschung im wesentlichen auf die Universitäten
konzentriert, also
eingebunden in die vielfältigen anderen Verpflichtungen und
dadurch beeinträchtigt.
Andererseits aber würden diese Forschungsaufgaben von Vertretern
anderer
sozialwissenschaftlicher, ja sogar auch von Angehörigen
technischer Fachdisziplinen
durchgeführt, was nicht so ohne weiteres zur Kenntnis genommen
werden dürfe. Es gelte,
"das uns zustehende Terrain zu besetzen", selbstreflexiv zu sein, "um
sich besser zu
analysieren und besser verkaufen zu können" (Hainard 1992, 153).
Eine unverkennbare Wendung zum Besseren wird auch von
den anderen Referenten dieses
Kongresses wiederholt unterstrichen. Die Zeiten, in denen man die
Schweiz als eine
"soziologische black box" - so Peter Heintz 1971 - betrachten konnte,
gehörten endgültig der
Vergangenheit an, ebenso die großen Auseinandersetzungen um
einzelne soziologische
Publikationen, die Anstoß erregten (vgl. Hutmacher 1992, 170).
Trotzdem, das Goldene
Zeitalter sei noch keineswegs angebrochen.
Die Ambivalenz der Erfolgsmeldungen der Gegenwart
illustriert der Beitrag von Uli
Windisch, der vor allem den scharfen Kontrast zwischen robuster
Institutionalisierung und
dem Geist, der in der Institution lebt, herausarbeitet.
Rückblickend auf die späten 60er Jahre
beschreibt er diese gleichsam als die charismatischen
Gründerjahre: eine bewegte Periode, in
der die Studierenden sich wenig um die beruflichen Möglichkeiten
kümmerten, weil sie
ohnehin überzeugt waren, daß es kaum solche gebe. Dennoch
sei das soziale und politische
Engagement in einer stimulierenden Atmosphäre hoch gewesen: Es
wurde viel diskutiert und
das Studium mit einem hohen Maß an Autonomie selbst organisiert,
mitunter ideologischen
Vorlieben allerdings mehr Gewicht beigemessen als der Kultivierung
akademischer
Forschung. Das alles habe sich gründlicher geändert, als es
vor zehn, ja nicht einmal vor fünf
Jahren vorauszusehen gewesen wäre. Heute könnten zahlreiche
Forschungsvorhaben nicht
durchgeführt werden, weil sich dafür keine qualifizierten
Mitarbeiter finden ließen. Weitere
Paradoxien ortet Windisch (1992, 156) auch auf der Seite der
Studierenden: Nur vage
Vorstellungen sowohl von der Soziologie wie auch von dem, was sie tun
wollen, nur wenige,
die mit einem Projekt zur Soziologie kommen, mit einiger
Entschlossenheit in einem
ambitionierten Lebensprojekt engagiert sind.
Das Image der gegenwärtigen Soziologie sieht Uli
Windisch noch zu sehr mit Politik und
Ideologie konnotiert und daher der Realität gegenüber im
Verzug. Weitere Rückschlüsse auf
gesellschaftliche Stellung und Image der Soziologie in der Schweiz
gestattet der
Forderungskatalog für künftige Maßnahmen: Abgrenzung
von Politik, Ideologie und
Journalismus einerseits, vermehrte Anstrengungen um
Öffentlichkeitsarbeit andererseits.
Denn die Forschungsergebnisse sind medial zu wenig präsent,
Journalisten fahren oft lieber
nach Paris, um dort jemand zu interviewen; oder "man benützt
unsere Arbeiten, ohne die
Quellen zu zitieren,....kommt zu uns lediglich, um uns auszuquetschen
wie eine Zitrone und
dann eine Sendung zu machen" (Windisch 1992, 163). Daher sei mehr
Öffentlichkeitsarbeit
unerläßlich, sei es über die Herstellung von Filmen,
die Vulgarisierung von
Forschungsergebnissen oder die Abfassung einschlägiger Essays.
Für die französische Soziologie, wie sie
François Chazel (1992, 197 ff) beschreibt, haben die
80er Jahre ebenfalls einen tiefgehenden Transformationsprozeß mit
sich gebracht. Es zeigen
sich auch hier negativ einzustufende Phänomene, die jedoch in
keiner Weise Anlaß sind, eine
Untergangsstimmung heraufzubeschwören. Als Indizien einer
Klimaverschlechterung werden
angeführt: Verlust der Führungsrolle, resultierend aus dem
Entzug der
Kompetenzzuschreibung bei der Steuerung von Veränderungsprozessen,
ein Rückgang des
Interesses des gebildeten Publikums an soziologischen Büchern und
eine gesunkene
Attraktivität der Soziologie für die neue Generation der
Studenten, also insgesamt eine
Schwächung der Position der Soziologie im Äußeren, der
im Inneren jedoch einige wichtige
Neuorientierungen entgegenstehen.
Globale Orientierungen, Marxismus und Strukturalismus
haben nach Ansicht Chazels ihren
Einfluß weitgehend eingebüßt bzw. sind nahezu
völlig von der Bildfläche verschwunden. An
die Stelle der früher vorherrschenden deterministischen und
subjektnegierenden
Orientierungen tritt heute das Interesse am Handeln des einzelnen.
Dabei sind aber
unterschiedliche Akzentsetzungen festzustellen: einmal die Betonung der
"Rückkehr des
Akteurs", wie es Alaine Touraine formuliert, dann aber der Figur des
rational Handelnden im
Sinne des methodologischen Individualismus in Anlehnung an das
ökonomische Paradigma.
Damit verbunden auch die Bemühungen um eine Klärung des
Begriffes der Rationalität und
Bestrebungen, sich mit der Ökonomie auseinanderzusetzen und das
Verhältnis von
Soziologie und Ökonomie neu zu formulieren (vgl. Chazel 1992,
200). Neues Interesse
wende die Forschung dem Studium sozialer Netzwerke und sozialer
Beziehungen (wie bei
Simmel) zu, der Analyse von Prozessen, Längsschnittanalysen,
Biographien und der aktiven
Rolle, die Akteure dabei jeweils spielen.
Aufs ganze gesehen sieht François Chazel durchaus
Gründe zum Optimismus, die Kritik der
Vergangenheit als erste Phase der Rekonstruktion. Zwar gebe es starke
Tendenzen nach einer
Billig-Nutzung der Soziologie, erleichtert durch die unzulängliche
Professionalisierung der
Disziplin, doch zeichne sich jenseits ideologisch - reduktionistischer
Sichtweise die Gestalt
einer neuen Soziologie ab, die am besten zu charakterisieren sei durch
die Merkmale
pluralistisch, offen, attentiv und autonom, sowohl auf empirischer wie
auch auf theoretischer
Ebene.
Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum "Ende
der kritischen Soziologie" umreißt
auch Niklas Luhmann (1991, 147 ff) seine Vorstellungen von einer neuen
Soziologie. Die
gegenwärtigen Verunsicherungen der kritischen Soziologie der
bürgerlichen Gesellschaft
führt er nicht auf politische, sondern auf wissenschaftliche
Innovationen zurück. Insbesondere
meint der damit die erst "in jüngster Zeit" gemachte Erkenntnis
von der Fragwürdigkeit der
Prämisse eines Objektes "Gesellschaft", das
beobachtungsunabhängig gegeben sei. An die
Stelle einer Soziologie, die der Perspektive eines Weltbeobachters
erster Ordnung verpflichtet
sei, stellt er eine Soziologie der Beobachtung zweiter Ordnung. Dies
führt dann dazu, daß
nicht mehr festgestellt werden könne, "wie die Welt wirklich
beschaffen ist, sondern nur, wie
sie übereinstimmend konstruiert werden kann mit der Folge,
daß die Kommunikation
fortgesetzt werden kann und nicht mangels
Verständigungsmöglichkeiten abgebrochen
werden muß" (Luhmann 1991, 150). Für das Verhältnis der
Soziologie zur Gesellschaft
bedeute dies nicht, daß die Distanz zwischen beiden sich
vergrößere oder verringere, sondern
daß sich die Form der Distanz verändere. Mit der
prinzipiellen Preisgabe der Unterscheidung
von Subjekt und Objekt verliere das Subjekt auch die Möglichkeit,
Gegenstände zu beurteilen
und zu verurteilen, ohne sich selbst zu treffen. Daher auch eine neue
Positionsbestimmung für
die Soziologie: Sie "ist in der Gesellschaft für
Beobachtungsfunktionen freigestellt, und
gerade ihre Autonomie ist die Form, mit der sie in das rekursive
Netzwerk des Beobachtens
von Beobachtungen eingespannt ist, das heißt: gesellschaftlich
existiert" (Luhmann 1991,
151). Wie diese Freistellung dann konkret realisierbar sein soll, ist
der Phantasie des Lesers
überlassen. Als freigestellte und wohlgenährte ist die
Soziologie nach Ansicht Luhmanns
jedenfalls der Notwendigkeit enthoben, ihre gesellschaftliche
Nützlichkeit unter Beweis
stellen zu müssen. Wo noch von Kritik und Krise die Rede ist,
handelt es sich nach Luhmann
lediglich um antiquierte Schemata der Semantik und der Rhetorik, die
für die bürgerliche
Gesellschaft charakteristisch waren. Von äußeren
Veränderungen wie dem Zusammenbruch
sozialistischer Politik- und Wirtschaftssysteme könne jedenfalls
kein Zwang zur Änderung
der Perspektive ausgehen. So unmittelbar könne die Soziologie
nicht auf unbestrittene
Tatsachen reagieren, dies tangiere sie nicht in ihren konstitutiven
Einstellungen (Luhmann
1991, 147).
4. Die Krise im Lichte der Probleme der
Kanonbildung
Wenn heute vermehrt von einer Krise der Soziologie,
soferne nicht generell, so doch
zumindest im deutschen und frankophonen Sprachraum Europas die Rede
ist, so handelt es
sich dabei keineswegs um ein Unglück, das über Nacht
hereingebrochen wäre. Der Anfang
des Prozesses, der zur heutigen Situation geführt hat, ist auf die
frühen 70er Jahre
zurückzuführen, als die Hoffnungen auf eine weitreichende
gesellschaftliche Transformation
sich in Anbetracht der wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten
zusehends rascher
verflüchtigten. Der Kapitalismus bzw. die soziale Marktwirtschaft,
wie andere dieses System
bezeichnen, glitt nach einer ungewöhnlich langen Phase des
Aufschwunges und der
Prosperität mehr und mehr in einen Zustand, in dem sich die
Schwierigkeiten häuften. Damit
waren auch die Träume von einer humanen Gesellschaft
ausgeträumt. Technologische
Innovationen, Steigerung der Produktivität, um international
konkurrenzfähiger zu sein,
Rationalisierungen und damit einhergehende Arbeitslosigkeit etablierten
sich als
beunruhigende Dauerphänomene. Die Spaltung der Gesellschaft in
Krisengewinner und
Krisenverlierer führte zu dem, was manche als die
Zwei-Drittel-Gesellschaft bezeichneten.
Auf der politischen Ebene brachten diese Jahre eine
Aufwertung eher konservativer
Grupppierungen. Dies manifestierte sich nicht nur in diversen
Beschwörungen des
Wertkonservativismus als Gegenmittel, sondern auch in der Installation
konservativer
Regierungen, deren liberalistische Programme die richtige Antwort auf
die neuen
Herausforderungen zu sein versprachen und sich auch in demokratischen
Wahlen als
mehrheitsfähig erwiesen haben. Reaganomics und Thatcherismus waren
die neuen Leitbilder,
die über eine bemerkenswerte Zeitspanne dem öffentlichen
Geschehen ihre Signatur
aufzuprägen vermochten. Doch auch ihre Zeit war begrenzt, weil
ihre Programmatik neben
der Lösung anstehender Probleme ebensoviele neue erzeugte.
Derartige Veränderungen mußten natürlich
auch Auswirkungen auf den wissenschaftlichen
Bereich mit sich bringen. Man begann den Sinn der Geisteswissenschaften
anzuzweifeln, und
deren Vertreter hatten nach Argumenten zu suchen, wie ihre Existenz
gerechtfertigt und mit
welchen neuen Funktionsbestimmungen sie dennoch legitimiert werden
könnten. An
sozialistischen Vorstellungen orientierte Theorien büßten
sukzessive zunächst ihre
Faszination, dann aber ihre Plausibilität überhaupt ein. Der
Zusammenbruch der
realsozialistischen Länder des Ostens ist hier lediglich als
spektakulärer Abschluß einer
längeren Entwicklung anzusehen, keineswegs aber als unerwarteter
Infarkt einer
unangefochtenen Doktrin. Dabei ist die offensichtliche
Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in
den verschiedenen Ländern nicht zu übersehen.
In der französischen Szenerie hatte die
Absetzbewegung vom Marxismus schon längst
eingesetzt, als in anderen Ländern die paradigmatische Bedeutung
dieser Orientierung für ihre
Anhänger noch weitgehend intakt war. Daher auch die zeitlichen
Unterschiede in der
Datierung des Beginns der Suche nach neuen
Fundierungsmöglichkeiten der Soziologie in
Anlehnung an die verschiedenen Spielarten phänomenologischer
Philosophie oder andere
unkonventionelle Denker wie Friedrich Nietzsche, Georges Bataille u. a.
Diese entschiedenen
Versuche einer Neuorientierung waren notwendige Konsequenz der
Einsicht, daß sich die
moderne Gesellschaft von der Position der marxistischen Lehre her nicht
mehr glaubwürdig
kritisieren ließ. Mit einiger Verspätung erst wurden dann
diese Neuansätze in den
Diskussionen um Moderne und Postmoderne auch in der Soziologie des
deutschsprachigen
Raumes rezipiert. Wer diese Diskussionen nachzuvollziehen suchte, dem
wurde ein
beträchtliches Maß an Auseinandersetzung mit den
philosophischen Grundlagen, auf denen
sie beruhten, nicht erspart. Damit rückte die Soziologie,
zumindest partiell, um ein
beträchtliches Stück näher an die Philosophie heran.
Eine weitere Belebung der intellektuellen Landschaft der
vergangenen Jahre stellte der
öffentlichkeitswirksame "Historikerstreit" dar, womit die
Auseinandersetzungen um die
angemessenen Vorgangsweisen der Geschichtswissenschaft gemeint sind.
Für die Soziologie
waren diese insofern von Bedeutung, als mit der "oral history", einer
methodischen
Orientierung an der subjektiven Sichtweise von Zeitzeugen und der damit
einhergehenden
Aufwertung der subjektivistischen Perspektiven, sich auch neue
Möglichkeiten einer
qualitativen Sozialforschung abzuzeichnen begannen. Diesbezügliche
Bemühungen, die der
Etablierung einer Alltagssoziologie die Wege ebneten - was immer im
einzelnen damit
gemeint sein mag - führten umso leichter zum Erfolg, als sie sich
mit den bereits seit
längerem im Raum stehenden Forschungsansätzen der
Ethnomethodologie problemlos
vereinbaren ließen, also eine Absetzbewegung von den
herkömmlichen Ansprüchen an einer
Objektivität wissenschaftlichen Arbeitens darstellen, deren
Kriterien den Standards einer
mechanistisch verstandenen Naturwissenschaft entsprechen.
Keine Expansion der Perspektiven, sondern eher eine
Wiederkehr des Klassischen und die
Aufwertung des Tradierten kennzeichnete hingegen die Entwicklung der
Nationalökonomie
der vergangenen zwei Jahrzehnte. Damit ist die Tatsache gemeint,
daß der temporär
dominierende politische Neokonservatisvismus die orthodoxe
Nationalökonomie in die
Position einer nahezu uneingeschränkt geltenden Zentralperspektive
rückte. Der homo
oeconomicus erwachte zu neuem Leben und begann, mit der Ausarbeitung
unterschiedlich
etikettierter Varianten einer rationalen Handlungstheorie mehr
Lebensraum zu beanspruchen,
indem die ökonomische Betrachtungsweise auch auf die Analyse
anderer, nicht primär als
ökonomisch einzustufende Bereiche ausgeweitet wurde. Dieser
Sichtweise entsprechend
hängt die Entscheidung des Kriminellen, die böse Tat zu
begehen oder zu unterlassen, davon
ab, ob er nach gründlicher Beratung mit sich selbst vom einen oder
vom anderen den
größeren Nutzen erwartet. Engagement in politischen Belangen
erweist sich dementsprechend
nur dann als sinnvoll, wenn sich damit auch Vorteile errechnen lassen;
Bildungsbemühungen
sind in ähnlicher Weise von Kosten-Nutzen-Überlegungen
abhängig, im familiären Bereich
führt diese Sichtweise zur Frage, ob Kinder eher als
Investitionsgüter oder als Konsumgüter
zu betrachten sind. Die Ambivalenz derartiger Theoreme zeigt sich
darin, daß sie einerseits
mit dem Nobelpreis honoriert (an Gary S. Becker 1992), andererseits
aber des Imperialismus
(vgl. Meier 1993, 39) geziehen wurden. Vor fünfzig Jahren sah sich
Edgar Zilsel veranlaßt,
die politische Ökonomie als die fortgeschrittenste unter den
Sozialwissenschaften zu
bezeichnen, obwohl er gleichzeitg der Ansicht war, daß
"ökonomische Forschung stärker
eigennützigen Interessen, politischem Druck und Wunschdenken
ausgesetzt ist, als dies bei
irgend einer anderen Wissenschaft der Fall ist" (Zilsel 1985, 189).
Heute wirft Alfred Meier
(1993, 39), selbst ein anerkannter Verteter des Faches, die Frage auf,
ob die Ökonomie nicht
eine Quasireligion sei und die Gemeinschaft der Ökonomen nicht
sektenhafte Züge
angenommen habe. Donald N. McCloskey stellt die heutige Ökonomie,
gemessen an ihrer
Arroganz, auf die Stufe moderner Medinzinmänner. "Ökonomen
halten sich für die Physiker
der Sozialwissenschaften. Aber sie haben keine Ahnung vom
Vorgehen auf dem Arbeitsfeld
der Physik, und die Physiker ihrerseits sind über den
mathematischen Charakter der
Wirtschaftswissenschaft erstaunt" (McCloskey 1991, 85). Doch diese und
ähnliche Fragen
sind bestenfalls Fragen, die das Selbstwußtsein der Ökonomen
derzeit wohl nicht in der
geringsten Weise zu beunruhigen vermögen.
Ein Blick auf den Zeitabschnitt, dem die Entstehung der
soziologischen Handlungstheorie
zugeordnet wird (nach Joas 1992, p.19 die Jahre zwischen 1890 - 1920),
also der Zeitraum
des Wirkens jener Autoren, die heute als die Klassiker gelten und somit
als maßgeblich an
der Entstehung eines soziologischen Kanons beteiligt betrachtet werden,
zeigt recht deutlich,
daß auch damals die Markierung von Grenzlinien der Soziologie zu
ihren Nachbardisziplinen
alles andere als einfach und unumstritten gewesen ist; nicht nur
deswegen, weil sich die noch
junge Soziologie mit Fragen beschäftigte, mit denen auch schon
ältere Disziplinen befaßt zu
sein glaubten. Mindestens ebensosehr fiel ins Gewicht, daß diese
Nachbardisziplinen selbst,
insbesondere die Nationalökonomie, die Geschichtswissenschaften
und die Philosophie sich
vor die Aufgabe gestellt sahen, ihre innerdisziplinären
Auseinandersetzungen zu bereinigen
und ihr jeweiliges Fach durch Erneuerung der Fundamente auf eine solide
und nicht ohne
weiteres anfechtbare Basis zu stellen. Die Ökonomen sahen sich
gezwungen, in einem heftig
geführten Methodenstreit Position zu beziehen. Die Historiker
waren in jahrzehntelange
Konflikte um die Anerkennung der Eigenständigkeit ihrer Disziplin
und die ihr
angemessenen methodischen Standards involviert. Der Philosophie erging
es nicht besser,
eine vereinheitlichende Klammer fehlte mehr denn je,
Neuinterpretationen von Kant und
Hegel konkurrierten mit Rückgriffen auf Aristoteles und den
verschiedenen Bemühungen um
eine lebensweltliche oder phänomenologische Neubegründung.
Auf diesem Hintergrund wird auch die damals offen
vorgetragene Polemik gegen die noch
junge Soziologie verständlich und ebenso die Vorsicht jener, die
sich für ihre Fragestellungen
interessierten, sich ihr auch disziplinär zuzuordnen.
Die Entstehungsbedingungen der Soziologie zu
berücksichtigen scheint also eine
unabdingbare Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis
der Schriften jener zu sein,
die dann später als ihre Klassiker bezeichnet worden sind. In
ihren Werken, die auch als die
konstitutiven Elemente eines soziologischen Kanons anzusehen sind,
spiegelt sich ein
doppeltes Bemühen: einerseits eine neue Forschungsperspektive zu
begründen, dafür aber
andererseits eine Form zu finden, die nicht von vornherein die
Aversionen der
Nachbardisziplinen provozieren muß. Was heute als Kanon gilt, ist
zweifellos Ergebnis
respektabler Forschungsaktivitäten aus den frühen Jahren der
Konstituierung der neuen
Fachdisziplin. Aber keineswegs nur das, denn der Prozeß des
Bemühens um neue
Erkenntnisse ist eingebettet in die Auseinandersetzung um Anerkennung
und Ablehnung,
verquickt mit Polemik und Gegenpolemik.
Recht deutlich zeigt sich dies in den Synthesen, in
denen Talcott Parsons nicht nur die
Gemeinsamkeiten verschiedener Autoren herauszustellen suchte. Wichtig
ist dabei, worauf
Charles Camic aufmerksam gemacht hat, daß die Selektion dieser
Autoren sich am Kriterium
der Akzeptabilität bei den Vertretern anderer Fächer,
insbesondere denen der orthodoxen
Nationalökonomie orientierte. Im Konflikt der 20er Jahre zwischen
den Institutionalisten und
den Orthodoxen läßt sich eine früh vorweggenommene
Umkehrung der heute
offensichtlichen Bestrebungen erkennen, soziale Phänomene
ökonomisch zu erklären. Die
Provokation bestand damals darin, ökonomische Phänomene
letztlich einer soziologischen
Erklärung zuzuordnen. Wenn nun die Theorie des rationalen Handelns
"unbestritten den
rationalen Kern der ökonomischen Disziplin" darstellt (Joas 1992,
11), so muß eine
Infragestellung dieses Kerns auch die Daseinsberechtigung der Disziplin
selbst in Frage
stellen. Ebenso gilt umgekehrt: Mit einer Generalisierung der Theorie
des rationalen
Handelns steht auch die Soziologie zur Disposition, weil ihr ein
spezifischer Gegenstand als
Bezugspunkt abhanden kommt.
Die Tatsache, daß Parsons' Weg von den
Institutionalisten über die orthodoxe Ökonomie zur
Soziologie führte, läßt vermuten, daß er sich der
Problematik, die damit entstehen muß, sehr
wohl bewußt gewesen ist. Und weiters, daß im Hintergrund
seines Bemühens, Konvergenzen
bei Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Max Weber und Emile Durkheim
herauszuarbeiten,
auch die Absicht stand, jeder der beiden damals konkurrierenden
Betrachtungsweisen
sozioökonomischer Phänomene ihren eigenständigen Bereich
zuzuordnen. Dies schien ihm
möglich über eine Erweiterung des rationalen
Handlungsmodells, das die Ökonomen
zufriedenstellte, den Soziologen aber Existenzberechtigung und
spezifische
Arbeitsmöglichkeiten sicherte. Die wechselhafte Rezeption Parsons'
und seine gerade bei
kritischen Soziologen keineswegs unangefochtene Reputation
läßt darauf schließen, daß die
von ihm erreichte Balance einen Kompromiß darstellte, der es ihm
erlaubte, Teile der
institutionalistischen Ansprüche, allerdings anders etikettiert,
zu bewahren und damit
andererseits das rationale Handlungsmodell um zusätzliche Elemente
anzureichern.
Diese besondere Art eines Nahverhältnisses von
Soziologie und Ökonomie bei Parsons
scheint kein Einzelfall zu sein. Denn offensichtlich gibt es
Parallelen, zumindest starke
Ähnlichkeiten bei Max Weber. Wie bekannt, ist er 1888 dem "Verein
für Socialpolitik"
beigetreten und repräsentierte dort gemeinsam mit Werner Sombart
den linken Flügel dieses
Kreises, der sich keineswegs nur zum Zwecke der Analyse
zusammengefunden hat, sondern
sich durchaus auch für die als notwendig erachteten
Veränderungen der sozialen und
politischen Verhältnisse einsetzte. Als Wissenschaftler vertrat
Weber aber einen zusehends
engeren Standpunkt, der das Kriterium der Wissenschaftlichkeit nur der
wertfreien Analyse
von ursächlichen Zusammenhängen vorbehalten wissen wollte.
Sein Verständnis
zweckrationalen Handelns stimmt mit dem Modell der rationalen
Handlungswahl der
Ökonomie weitgehend überein. Sein Insistieren auf der
Wertfreiheit im wissenschaftlichen
Arbeiten hindert ihn aber keineswegs, sich als Bürger zu
engagieren, doch hat dies aus seiner
Perspektive nichts mit Wissenschaft zu tun. Für die Konstitution
des Bildes vom 'Soziologen'
Max Weber dürfte dies jedoch nicht belanglos sein. Jedenfalls
deuten Gottfried Eisermanns
(1988, 18) Ausführungen in diese Richtung: "Weber fuhr indessen
fort, sich souverän auf
dem Gebiet der Soziologie im weitesten Sinne, der Sozialpolitik, der
Staatslehre und der
Politologie zu bewegen". Daß Max Weber keinesfalls zwischen einer
Soziologie im
"weiteren" und im "engeren" Sinne unterschieden hat, ergibt sich auch
aus den weiteren
Angaben bei Eisermann (a.a.O.): "Webers erbarmungslose Kritik an der
älteren historischen
Schule, wobei freilich im Hintergrund immer Schmoller steht, ohne beim
Namen genannt zu
werden, erstreckt sich stets nur, festgenagelt an den ungewaschenen
Werturteilen, auf ihre
erkenntnistheoretischen Mängel, ohne je ihre
wirtschaftstheoretischen Auffassungen
einzubeziehen". Die Berücksichtigung dieser Sympathie für die
Wirtschaftstheorie der
Kathedersozialisten bei ihrer gleichzeitigen Ablehnung aus
erkenntnistheoretischen Gründen
mag das Verständnis für den Bruch in Webers Denken und Tun
erleichtern. Gleichzeitig
dürfte hier auch die sachliche Grundlage für die
Unterscheidung einer Soziologie im engeren
und weiteren Sinne zu sehen sein, wobei nach Webers Konzeption den
Status der
Wissenschaftlichkeit zweifellos nur erstere für sich zu
reklamieren berechtigt war. Diese
zweipolige Grundorientierung bei Max Weber, die bei Parsons dann ihre
Entsprechung
findet, läßt sich auch als das Nebeneinander einer
Parteinahme für das rationale
Handlungsmodell (der Ökonomie) bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung der
wahlverwandtschaftlichen Bindungen zu deren Widerpart in der
historischen bzw.
institutionellen Nationalökonomie betrachten.
Die hier aufgezeigten Ambivalenzen scheinen, aus
historisch verständlichen Gründen, die
Kanonbildung in der Soziologie maßgeblich beeinflußt zu
haben. Beeindruckende
Theoriearchitekturen der Gegenwart, die sich an Parsons als Vorbild
orientieren und seine
Konzeption weiterzuentwickeln beanspruchen, tragen sicher ihren Teil
bei zum heutigen
Zustand der Soziologie, die von manchen als krisenhaft, von anderen
jedenfalls als
korrekturbedürftig beurteilt wird. Antworten auf die Frage, wie
der Krise beizukommen ist,
wie Veränderungen durchzusetzen sind, gibt es mehrere. Eine kann
darin bestehen, in
Unkenntnis der Geschichte vorschnell zu resignieren. Vorschnell
insofern, als Unklarheit und
daraus resultierende Unsicherheit der Geschichte des Faches immanent
sind, aber die Klarheit
und Sicherheit konkurrierender Nachbardisziplinen ebenfalls nur auf
tönernen Füßen steht.
Eine andere Reaktion könnte darin bestehen,
Mängel zu diagnostizieren und dann Leistungen
anzukaufen, um ihnen entgegenzusteuern, wie das heute üblich ist.
Es wäre beispielsweise
möglich, eine Werbeagentur anzuheuern, um eine Imagekampagne zu
inszenieren,
Öffentlichkeitsarbeit zugunsten der Soziologie zu entwickeln, Wege
zu einer Corporate
identity aufzuzeigen, verschiedene Szenarien für eine stabile
Implementierung und
Ausweitung des Faches im akademischen Bereich zu entwerfen. Diese und
ähnliche
Aufgaben anderen zu übertragen, liegt durchaus auf der Linie eines
Selbstverständisses, das
sich für Analyse und Diagnose, für Information und
Aufklärung zuständig hält, und alle
darüber hinausgehenden Aktivitäten in den Vorraum der
Unwissenschaftlichkeit verweist.
Eine weitere Möglichkeit besorgter
Krisendiagnostiker bestünde darin, sich mit jener
Perspektive anzufreunden, die im Sinne von Alain Touraine (1992, 535)
den Akteur ins
Zentrum soziologischer Überlegungen und Arbeitsweisen rückt.
Auch Norbert Elias hat,
ebenso wie andere Autoren, darauf hingewiesen, daß zwischen
"Engagement und
Distanzierung" keineswegs jene fatale Grenzlinie zwischen
Unwissenschaftlichem und
Wissenschaft verläuft, sondern Tun und Denken, Handeln und
Theoriebildung sich
gegenseitig bedingen und auch befruchten können. Einer in diesem
Sinne verstandenen
Soziologie ist durchaus zuzutrauen, jenes Minimum an Selbstmanagement
realisieren zu
können, das die Voraussetzung dafür ist, für andere in
spezifischer und differenzierter Art
und Weise von Nutzen sein zu können, was unter den
gegenwärtigen Bedingungen doch, wie
das Krisengerede zeigt, von manchen angezweifelt wird.
Das Wissen darum, daß nicht nur die Arten, sich zu
kleiden, sondern auch die Arten des
Denkens gewissen gesellschaftlichen Schwankungen unterworfen sind,
vermag
verschiedentlich geäußerter Krisenrhetorik ihre Spitzen zu
nehmen. Denn solchen
Konjunkturen ist nicht nur die Soziologie, sondern sind auch deren
Nachbardisziplinen, mit
denen sie seit ihren Gründerjahren auf durchaus noch
klärungsbedüftiger Basis koexistiert,
ausgesetzt.
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