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Kanon und Krise der Soziologie

Kanon und Krise der Soziologie

Otto Nigsch



(in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie/Revue Suisse de sociologie 20 (1994) 1, 207 - 238)



1. Heiligenbilder im Wechselrahmen

Hinter der Rede von den "Riesen der Soziologie" steht anscheinend das Anliegen, erste Plätze in der Ahnengalerie dieser noch jungen Wissenschaft zu verteilen. Man könnte in einer derartigen Stilisierung auch eine Form von Hagiographie in einer Disziplin erkennen, die sich ansonsten dem Gedanken des Abbaues von Mystifikationen, der Kritik von Ideologien und der Säkularisierung von Glaubenssystemen verpflichtet weiß. Soferne Heiligenverehrung und Ahnenkult hier wie auch andernorts - in religiösen oder politischen Zusammenhängen beispielsweise - Vorbildhaftes und Maßgebliches herausstellen, könnte dies einer Disziplin, die sich in periodischen Intervallen sowohl von außen wie auch von innen in Frage gestellt sieht, einen gewissen Rückhalt geben. Weniger naheliegend ist eine Umkehrung dieses Gedankens, daß nämlich ungelöste Konflikte und Widersprüchliches bei den Früheren, auf die Bezug genommen wird, auch auf beträchtliche Distanzen hin erhebliche Fernwirkungen zeitigen und damit auch als Ursache von Verunsicherung wirksam werden können.

Nach weit verbreiteter Überzeugung ist das Bild von den "Riesen" der Fachdisziplin auf Robert K.Mertons (1980) Studie "Auf den Schultern der Riesen" zurückzuführen. Weniger bekannt ist, daß anscheinend bereits 1934 Robert Michels die "beiden zeitgenössischen Riesen" Vilfredo Pareto und Max Weber damit befaßt sah, sich mit der Problematik der Gesellschaft wissenschaftlich auseinanderzusetzen (s. Eisermann 1988, 2), ohne dabei auf bereits einigermaßen zuverlässige Vorarbeiten zurückgreifen zu können. Mit Vilfredo Pareto und Max Weber beginnt also nach Robert Michels die moderne Wissenschaft von der Gesellschaft, anders geartete Bemühungen scheinen ihm von nachgeordneter Bedeutung zu sein. Sonderbarerweise figuriert Pareto jedoch nicht im Gruppenbild der "soziologischen Riesen" bei Merton. Sein Heiligenbild setzte sich zusammen aus Max Weber, Emile Durkheim und Georg Simmel. Nicht daß Merton Pareto nicht gekannt hätte. Ganz im Gegenteil, Merton gehörte einige Zeit in Harvard zum berühmten Pareto-Zirkel, doch hat er, wie Gottfried Eisermann (a.a.O.) bemerkt, auf Pareto vergessen, "da er vielleicht zu dieser Zeit wieder einmal in Amerika als 'unbequem' galt". Spätere Interpretationen der Traditionsbildung (Collins 1985, 878) weisen auch Karl Marx einen prominenten Platz zu.

Wenn dies die Annahme rechtfertigt, daß Beatifizierungen nicht nur in religiösen, parteipolitischen u.a., sondern auch in wissenschaftlichen Kontexten das Resultat einer Hochstilisierung einer Person und ihres Werkes sind, so ist mit der Anerkennung der Größe einer Gestalt1 durchaus auch Bedeutsames ausgesagt

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1) vgl. dazu auch Patricia A. Taylor (1987, 143), die auf weitere soziale Aspekte (Systemstabilisierung, soziale Kontrolle) der Heldenverehrung hinweist

über die Situation und das mentale Koordinatensystem der Anerkennenden selbst. Weiter oben wurde für die Art des Zusammenhanges zwischen einer als "Riese" mystifizierten Figur und den Bedingungen des den Mythos Produzierenden das etwas unscharfe Kriterium der "Unbequemlichkeit" ins Spiel gebracht. Was immer damit gemeint sein mag, so läuft die Berücksichtigung dieses Kriteriums doch darauf hinaus, daß die Referenz auf Analysen und Interpretationen einer früheren Gestalt zweckdienlich für die Analyse und Interpretation der Gegenwart gehalten wird, soferne die Vergangenheit zur Legitimation der Gegenwart herangezogen wird.

Damit verliert der Bezug auf einen Großen seinen quasi-naturwüchsigen Charakter, hinter der unterwürfigen Referenz vor den Riesen verbirgt sich die Frage, welchen Gründen die Verbeugung vor diesem und das Übergehen des anderen zuzuschreiben ist. Da sich das, was hier und jetzt warum getan wird, erfahrungsgemäß dem reflektierenden Zugriff leicht entzieht, ist es naheliegend, sich mit den Konjunkturen der Hagiographie zu beschäftigen. Da nicht Pareto, auch nicht Durkheim und Simmel, wohl aber Max Weber in jedem der Gruppenbilder von "Riesen" präsent ist und dem Genannten als Ahnherrn der deutschen Soziologie derzeit wieder vermehrtes Interesse entgegengebracht wird, mag es angebracht sein, der Geschichte dieser Stilisierung zum Erzvater der deutschen Soziologie nachzugehen, um damit exemplarisch herauszustellen, wie sehr historisch Zufälliges bei der Konstitution von heute allgemein Verbindlichem im Spiel gewesen ist.

2. Zur Konstruktion des Mythos vom Riesen am Beispiel von Max Weber

2.1 Die frühe Rezeption Max Webers im deutschsprachigen Raum

Bis zu Max Webers Tod, also noch zu seinen Lebzeiten, ist außer der Dissertation von 1889 bei Levin Goldschmidt (über "Die Entwicklung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaften aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten") und der Habilitationsschrift von 1891 bei August Meitzen (über das Thema "Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht") keine seiner Arbeiten als Buch erschienen, sein Gesamtwerk also als Fragment zu betrachten (Eisermann 1988, 55). Meitzen war Statistiker und Agrarhistoriker, Goldschmidt hingegen Handelsrechtler. Die Arbeit über die römische Agrargeschichte stand überdies stark unter dem Einfluß von Theodor Mommsen, dessen Kritik an Max Webers Arbeit jedoch ihre grundsätzliche Übereinstimmung bestätigte: "Römische Agrargeschichte konnte nur auf Grund von iuristischen und technischen Texten (Handbücher für Feldmesser) geschrieben werden, damit die verschiedenen Arten der Landaneignung bestimmt werden konnten" (Momigliano 1977, 33). Unter dem Einfluß von Eduard Mayer, einem Wirtschafts- und Sozialhistoriker, gelang es Max Weber einige Jahre später, sich von Mommsens juristischer Betrachtungsweise zu lösen und das Spektrum seiner Forschungsinteressen zu erweitern.

Der Verweis auf Max Webers "Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie", wie er sich häufig in Literaturverzeichnissen findet, bezieht sich also nicht auf eine von Weber verfaßte Monographie oder einen von ihm geplanten Sammelband, sondern ist eine posthum herausgegebene Kompilation verschiedener Arbeiten. Dieser von Max Webers Frau Marianne zuerst besorgten (1922 bzw. 1925) Veröffentlichung nahm sich später dann auch der Herausgeber der anderen Schriften Max Webers, Johannes Winkelmann, an. Doch trotz der Verdienste Winkelmanns um das Webersche Oeuvre attestiert ihm Johannes Weiß (1988, 570) einen editorischen Umgang mit "Wirtschaft und Gesellschaft", der problematisch und von schädlicher Wirkung sei, was die Wahrnehmung und Beurteilung des Weberschen Gesamtwerkes betreffe. Der Zweifel bezieht sich dabei auf folgende zwei Punkte: Zunächst auf die Frage, ob es sich bei der Zusammenstellung der Texte um ein von Max Weber selbst in dieser Form geplantes und in weiten Teilen fertiggestelltes Werk, und dann weiters, was wohl noch wichtiger zu sein scheint, daß es sich dabei aus Webers eigener Perspektive um sein Hauptwerk handle, tatsächlich "um den Ertrag von Webers wissenschaftlicher Lebensarbeit", wie seine Frau Marianne behauptete (vgl. Weiß 1988, 573). Mit dieser Behauptung sind als weitere Annahmen verbunden: Vorerst einmal, "Wirtschaft und Gesellschaft" enthalte eine unzweifelhafte Gliederung in eine allgemeine Soziologie, die begriffliche Grundlegung, und eine spezielle Soziologie; dann aber, daß es sich dabei um eine große Soziologie handle, weil sie die wissenschaftliche Lebensarbeit Max Webers zusammenfasse und er selbst sich damit disziplinär in der Soziologie verorte.

Werden derartige Einordnungen unbesehen übernommen, so stehen auch schon die Grundlagen bereit, auf denen sich die Konstruktion vom soziologischen Riesen errichten läßt. Bedenken lassen sich zunächst einmal aus dem Wissen über die zeitliche Abfolge der Schwerpunkte in der Arbeit Max Webers ableiten.

Nachdem sich Max Weber von seinem Nervenzusammenbruch (1898) wieder erholt, in Italienurlauben neue Kraft geschöpft hatte, begann er sich zunächst mit methodologischen und wissenschaftslogischen Fragen auseinanderzusetzen, angeregt durch neuerliche Diskussionen mit Eduard Meyer über die historische Methode (Momigliano 1977, 34). Für die Jahre vor 1909 läßt sich nach einer anderen Darstellung als der bei weitem wichtigste Problemkreis der 'Geist des Kapitalismus' ausmachen, dessen Wurzeln Max Weber auf die protestantisch-puritanische Ethik zurückführen zu können glaubte (Breuer 1988, 315).

Nach Gottfried Eisermann (1988, 20) übernimmt Max Weber 1909 nach einem entsprechenden Briefwechsel mit dem Verleger Paul Siebeck die Redaktion des berühmten "Grundriß der Sozialökonomik", 1910 beginnt er intensiv mit seinen religionssoziologischen Studien und nimmt die Arbeit an seinem Opus magnum, 'Wirtschaft und Gesellschaft', in Angriff (Eisermann 1988, 21).

Im Jahre 1910 wurde ein Stoffverteilungsplan für das von Weber redigierte Werk gedruckt, das insgesamt fünf Bände mit u.a. folgenden Beiträgen von Max Weber selbst vorsah: Über den modernen Staat und den Kapitalismus, über die Grenzen des Kapitalismus in der Landwirtschaft und die innere Kolonisationspolitik, einen Unterabschnitt zum ersten Buch mit dem Titel 'Wirtschaft und Gesellschaft', der Wirtschaft und Recht, Wirtschaft und soziale Gruppen (Familie und Gemeindeverband, Stände und Klassen, Staat) und Wirtschaft und Kultur behandeln sollte. Als nach diversen Modifikationen des Gesamtplanes die erste Abteilung erschien, figurierte darin Max Weber als Verfasser des Abschnittes "Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte". Alle diese Beiträge sollten inhärente Bestandteile eines ökonomischen Sammelwerkes sein, keineswegs aber ein Lehrbuch der Soziologie, so Johannes Winckelmann (subcit. Breuer 1988, 316). Daß mehr ökonomische denn soziologische Absichten im Vordergrund standen, ergibt sich auch aus den Veränderungen des Titels des geplanten Sammelwerkes. Dem ursprünglichen Plan, ein 'Handbuch der politischen Ökonomie' zu erstellen, begegnete Max Weber mit dem Vorschlag zu einem 'Lehr- und Handbuch der Sozialökonomik'. Auf Wunsch der Verlegers Siebeck wurde daraus dann schließlich ein 'Grundriß der Sozialökonomik'.

Stefan Breuer (1988, 319) hält als werksgeschichtlichen Befund fest, daß Max Weber nach der Debatte über die Protestantische Ethik sein Forschungsprogramm erweitert hat: Auf die Untersuchung der Auswirkungen anderer Religionen auf die Wirtschaftsethik einerseits, die Bedingtheit dieser Religionen durch außerreligiöse Faktoren (insbes. die Herrschaftsorganisation) andererseits; und analog dazu die Bedingtheit der Wirtschaft durch die Herrschaftsordnung wie ebenso auch die Thematisierung der umgekehrten Kausalreihe. Diesen zuletzt genannten Teil seines Programmes hat Max Weber allerdings nicht erfüllt.

Der Rezension zu Johannes Winckelmanns letzter Arbeit zu "Max Webers hinterlassenes Hauptwerk" (1986) von Johannes Weiß lassen sich noch einige zusätzliche Informationen entnehmen, die für eine Einordnung des Weberschen Werkes von Nutzen sind. Es wird darin etwas genauer darauf hingewiesen, daß die Arbeit am "Grundriß der Sozialökonomik" zeitlich auf die Jahre 1909/10 bis 1914 und dann wieder auf die Zeit von Anfang 1918 bis zum Tode Webers 1920 zu lokalisieren ist. Wichtig auch der Verweis auf einen Brief von Max Weber an den Verleger Siebeck aus dem Jahre 1913, in dem er betont, "daß dieser Beitrag 'annähernd' seine Soziologie" darstellen werde, auch wenn er selbst sie "nie" so nennen könnte. Dabei handelt es sich um den einzigen Beitrag zum "Grundriß" in einer endgültigen Fassung (Titel: "Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte"), der heute verfügbar ist. Johannes Weiß (1988, 574) geht jedenfalls davon aus, daß Weber bis zuletzt in einem durchaus ambivalenten Verhältnis zur "Soziologie" gestanden sei und untermauert diese Feststellung durch einen Verweis auf einen Brief Webers von 1919. Darin bekundet Weber seine Absicht, "das erneut in Angriff genommene Werk solle, gerade auch durch seine 'lehrbuchhafte' Form, dazu beitragen, daß die 'Soziologie' (sic) 'endlich.....streng sachlich-wissenschaftlich' behandelt werde und aufhöre, eine 'Dilettanten-Leistung geistreicher Philosophen' zu sein" (vgl. Weiß 1988, 574).

Auch in früheren Bezügen auf 'die Soziologie' oder 'die Soziologen' setzte Max Weber diese jeweils (vgl. z.B. Weber 1951, pp. 53, 92) in Anführungszeichen, was wohl als Hinweis auf einen gewissen distanzierenden Positionsbezug zu interpretieren sein dürfte. Es gibt also gute Gründe, sich der Schlußfolgerung von Johannes Weiß (1988, 574) anzuschließen, Weber habe weder sich selbst ausschließlich oder auch nur in erster Linie als Soziologen verstanden, noch habe er in der Soziologie (als theoretischer Wissenschaft) den Inbegriff oder den Endzweck aller historisch-gesellschaftlichen Forschung gesehen. Wem die bisherigen Hinweise als unzureichend für eine solche Schlußfolgerung erscheinen, der sei zusätzlich auf Max Webers Aufsatz über "Die Grenznutzenlehre und das psychophysische Grundgesetz" aus dem Jahre 1908 hingewiesen, wo wiederholt die Rede von "unserer Disziplin" ist (vgl. Weber 1908, pp. 389, 393, 396). Aus den jeweiligen Kontexten ergibt sich ohne den geringsten Zweifel, daß sich Max Weber der Zunft der Ökonomen zugehörig wußte.

Im Gegensatz dazu hatte sich bereits ein Jahr früher, also im Jahre 1907, Vilfredo Pareto, ein anderer "Gelegenheitsriese", bewußt von der Nationalökonomie als wissenschaftlichem Betätigungsfeld verabschiedet, wie aus einem seiner Brief an Maffeo Pantaleone hervorgeht. "Soll ich mich besser mit Soziologie oder Ökonomie befassen? Ich glaube mit Soziologie, und zwar deshalb: Für den Fortschritt der Ökonomie genügen Begabung und Wissen, und viele (ich sage das ohne falsche Bescheidenheit) sind mir darin überlegen. Für das Studium der Soziologie bedarf es zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt (ich sage nicht immer), daß man absolut außerhalb des aktiven Lebens steht und wie ein Eremit lebt, so wie ich in Celigny" (Pareto, subcit. Mongardini 1976, 235 f). Bei seinem Vorhaben, Parallelen und Kontraste zwischen Pareto und Weber herauszuarbeiten, kommt Gottfried Eisermann jedoch zu folgender Akzentuierung: "Weber fuhr indes fort, sich souverän auf dem Gebiet der Soziologie im weitesten Sinne, der Sozialpolitik, der Staatslehre und der Politologie zu bewegen. Webers wirtschaftstheoretische Kenntnisse, die hier einmal als das bezeichnet werden müssen, was sie waren, nämlich äußerst bescheiden, waren insoweit niemals über Gustav Schmoller, wessen er sich immer bewußt blieb, wirklich hinausgekommen" (Eisermann 1988, 19).

Damit stellt sich hier ein doppeltes Problem: Zunächst einmal, wie jemand mit "äußerst bescheidenen Wirtschaftskenntnissen" nicht nur 1893 als Ordinarius für Nationalökonomie nach Freiburg, 1896 als Nachfolger von Karl Knies nach Heidelberg berufen werden konnte, sondern auch 1918 nochmals, zumindest probeweise, das nationalökonomische Ordinariat an der Universität Wien (Eisermann 1988, 32) und im folgenden Jahr einen Lehrstuhl in München mit größtem Erfolg zu übernehmen vermochte. Dann aber, wenn die Abwertung Max Webers im ökonomischen Fach dem Bemühen zuzuschreiben sein sollte, ihn, den Großen, um so eindeutiger auf dem Gebiet der 'Soziologie im weitesten Sinne' ansiedeln zu können, was ist unter einer derartigen Soziologie zu verstehen, wenn Weber selbst für diese Disziplin strengere Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit einforderte?

Mit der Frage, inwiefern Max Weber der Soziologie zuzuordnen sei, setzte sich auch Ludwig Mises in seinem 'Epilog zum Methodenstreit in der Nationalökonomie' von 1929 auseinander, den er mit "Geschichte und Soziologie" überschreibt. Dabei geht er davon aus, daß Soziologie und Nationalökonomie denselben logischen Charakter aufweisen, und letztere, die Nationalökonomie, der am besten ausgebaute Teil der erstgenannten, der Soziologie, sei. Durch Windelband, Rickert und Max Weber hätten sich Verschiebungen in der Problemstellung ergeben. Für die Ablehnung der Soziologie und ihres Teiles, der Nationalökonomie, hatten auch, vielleicht in erster Linie, "wie z.B. bei Schmoller, Brentano und Hasbach, politische Gründe den Ausschlag gegeben" (Mises 1929, 466). Grund der Ablehnung war die Absicht, politische und wirtschaftspolitische Forderungen erheben zu können, die sich bei Prüfung durch die Mittel der nationalökonomischen Theorie als widersinnig erweisen mußten. Der Methodenstreit war nach Ansicht Mises', was oft übersehen werde, auch ein Streit um den logischen Chgarakter der Geschichtswissenschaft. Verlangten die einen, man müsse sie naturwissenschaftlich, d.h. als Gesetzeswissenschaft betreiben, so sahen andere die Unmöglichkeit, dieses Verlangen zu erfüllen und gaben daher "wehmutsvoll zu, daß die Geschichte keine Wissenschaft sei" (Mises 1929, 470).

Der Geschichtswissenschaft attestierte Mises (1929, 492), daß sie in allem und jedem, was sie zu sagen habe, implizit soziologische Theorien verwende. Daher auch verständlich, daß der Historiker - wenn auch nur in Verkennung der Grenzen soziologischer und historischer Arbeit - die Ansprüche der Soziologie als 'Strittigmachung seines ureigensten Gebietes empfindet'.

Nachdem er des öfteren auf Stärken und Schwächen Max Webers hingewiesen hat, stellt Mises (1929, 496) abschließend fest, daß die Untersuchungen, die Webers nachgelassenes Hauptwerk "Wirtschaft und Gesellschaft" vereinige, zu dem Besten gehören, "was das deutsche wissenschaftliche Schrifttum der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat. Doch sie sind in ihren wichtigsten Teilen nicht soziologische Theorie in unserem Sinne. Sie sind auch nicht Geschichte in dem allgemein gebräuchlichen Sinn des Ausdrucks". Und weiter heißt es: Was Weber als Soziologie angesehen hat, muß anders, am besten als 'Allgemeine Lehre der Geschichte oder kürzer als Allgemeine Geschichte' bezeichnet werden. Sozialwissenschaftliche Forschung ist für ihn nur als besonders qualifizierte Art historischer Forschung logisch denkbar (a.a.O., 473), und obwohl die südwestdeutsche Schule des Neukritizismus Wichtiges für weitere Untersuchungen über die Logik der Geschichte geleistet hat, kennt sie das Problem soziologischer Wissenschaft überhaupt nicht und schenkt ihm darum keine Beachtung. Und weiter: Obwohl M. Weber "Lehrer der Nationalökonomie an zwei Universitäten und an zwei anderen Lehrer der Soziologie (gewesen ist), war er dennoch weder Nationalökonom noch Soziologe, sondern Historiker" (Mises 1929, 471).

Weitere Recherchen in weiteren noch verfügbaren Zeugnissen könnten die Wirkung des Werkes von Max Weber auf seine Zeitgenossen sicher noch komplettieren. Doch würde sich wohl nichts am Gesamteindruck ändern, daß Weber als ein Grenzgänger zwischen mehreren Disziplinen zu betrachten ist, die alle ihrerseits mit erheblichen Problemen des Selbstverständnisses kämpften und sich zudem gravierenden Herausforderungen der Außenlegitimation gegenübergestellt sahen. Mit einiger Sicherheit ist davon auszugehen, daß Weber sich selbst nicht als Soziologe definierte, sein Werk nicht schwerpunktmäßig als ein soziologisches verstanden hat. Daher wurde er von seinen Zeitgenossen nicht vorrangig als Soziologe wahrgenommen, wenn auch schon kurz nach seinem Tode, zunächst einmal von seiner Frau Marianne, begonnen wurde, seine vor allem soziologische Bedeutung herauszustellen. Damit war wohl eine erste Basis für die Konstruktion eines Bildes vom "Riesen" gelegt, das aber schärfere Konturen erst durch die Rezeption in der amerikanischen Soziologie gewinnen sollte.

2.2 Die spätere Rezeption im amerikanischen Raum

Ob mehr die Uneinheitlichkeit und Vieldeutigkeit des Weberschen Werkes oder die Turbulenzen des sich ankündigenden zweiten Weltkrieges und dann dieser selbst seiner weiteren Verbreitung im Wege standen, ist wohl schwer zu entscheiden. Doch dürfte mit einiger Sicherheit davon auszugehen sein, daß die späte Aktualisierung Max Webers auf dem europäischen Kontinent engstens mit der Ausbreitung der amerikanischen Soziologie zusammenhängt, die ihm in den 30er Jahren einen prominenten Platz zuweisen sollte. Dank neueren Forschungen sind nun die näheren Umstände dieser Weber-Rezeption in Amerika genauer bekannt. Es scheint lohnenswert, sie heranzuziehen, um die weiteren Phasen der Konstruktion des Bildes vom "soziologischen Riesen" verfolgen zu können. Das Reizvolle und Gewinnbringende an dieser Rekonstruktion scheint in der Erkenntnis zu liegen, wie eng auch diese neuerliche Artikulation von Soziologie bzw. der Erkennbarkeit einer neuen Gestalt von Soziologie ebenfalls an Diskussionen und Schwerpunktsetzungen im Bereich der Nationalökonomie gekoppelt sind.

Wie allgemein bekannt, hat Talcott Parsons die Arbeiten Max Webers bei seinem Aufenthalt in Deutschland kennengelernt. Er verbrachte die Jahre 1925/26 in Heidelberg, um an seiner Dissertation über die Kapitalismustheorien von Werner Sombart und Max Weber zu arbeiten. Nach Hans Joas (1992, 47) reflektiert diese frühe Arbeit Parsons den damaligen Gegensatz zwischen den Institutionalisten im Gefolge von Thorstein B. Veblen und den orthodoxen Neoklassikern. Sowohl Werner Sombart wie auch Max Weber, beide waren als den Themen der Institutionalisten nahestehend zu betrachten, ohne daß sie jedoch deren naiven Fortschrittsglauben teilten. Sombart und Weber unterschieden sich jedoch in ihrer Stellung zur orthodoxen ökonomischen Theorie: Während ersterer zu dieser negativ eingestellt gewesen sei, habe Weber in seiner Konzeption des Rationalmodells des Handelns den Kern ihrer Annahmen bewahrt .

Zwischen Werner Sombart und Max Weber gibt es beträchtliche Übereinstimmungen, aber auch Differenzen. Geboren 1863 bzw. 1864 dissertierte ersterer 1888 mit einer Untersuchung über "Die römische Campagna", letzterer 1889 mit "Die Entwicklung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaften aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten". 1890 wurde Sombart Extraordinarius für Nationalökonomie in Breslau, 1892 erlangte Max Weber denselben Status an der Berliner Universität, allerdings für das Fach Handelsrecht und Deutsches Recht. Während Sombart in der Folge einen empfindlichen Bruch in seiner akademischen Laufbahn hinnehmen mußte, schlug Weber, "äußerlich gesehen, scheinbar eine akademische Bilderbuchkarriere ein" (Eisermann 1988, 8). Anlaß des Karrierebruchs bei Sombart war anscheinend die Tatsache, daß er ungeschriebene Gesetze übertreten hatte und damit gesellschaftlich "aus der Rolle" gefallen war (Papcke 1988, 41). Denn er wagte es, in Breslau Seminare über den Marxismus abzuhalten und mit seinen Studenten nahegelegene Industrien zu besuchen, was für einen deutschen Gelehrten etwas völlig Ungewohntes war. 1896 veröffentlichte Sombart "Sozialismus und soziale Bewegung", eines seiner Hauptwerke, das immer wieder aufgelegt und schließlich in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden war. Er beschäftigte sich mit dem internationalen Sozialismus und galt als verkappter Linker, sodaß sechs Berufungen scheiterten, obwohl sein Freund Weber diese nachdrücklich unterstützte. Auch wenn Werner Sombart später zu den Linksparteien auf Distanz ging, sie eher als Produkt denn als Bezwinger des Kapitalismus betrachtete, so legte er noch 1934 in einem Buch über den "Deutschen Sozialismus" dar, wie Deutschland aus der ökonomischen Wüste herausfinde, indem das Dritte Reich auf genossenschaftliche Füße gestellt werde. Doch darum kümmerte sich niemand im Hitlerreich, Sombart galt als altmodisch, sodaß er bis zu seinem Tode 1941 mehr und mehr in Vergessenheit geraten ist.

Ungeachtet dieses, unter den gegebenen Umständen verständlichen stillen Endes war Sombart "in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts der national und auch international bekannteste deutsche Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Viele seiner Werke und Schriften wurden in die gängigen europäischen und außereuropäischen Sprachen übersetzt - auch ins Chinesische. Sein Bekanntheitsgrad übertraf beispielsweise den seines heute so vielzitierten Zeitgenossen, Freundes und Kampfgefährten Max Weber zu beider Lebzeiten erheblich" (Krüger 1988, 36).

Beide beschäftigten sich mit der Entstehung, Gegenwart und Zukunft des modernen Kapitalismus. Die Untersuchungen beider zu diesem Thema waren Gegenstand der Dissertation von Talcott Parsons. Warum nun bezieht sich dieser bei seiner Weiterentwicklung der soziologischen Theorie nur auf Max Weber und übergeht nahezu völlig den damals bekannteren Werner Sombart, wenn das Verhältnis von ökonomischer und soziologischer Theorie das eigentliche Schlüsselproblem von Parsons erstem großen Buch von 1937 gewesen ist? (vgl. Joas 1992, 46)

Dafür dürften wahrscheinlich einerseits die intellektuelle Herkunft Parsons, andererseits aber seine Ambitionen, im akademischen Milieu Harvards Fuß zu fassen, eine große Rolle gespielt haben. Charles Camic (1992) kommt in seiner jüngsten Studie über "Reputation and Predecessor Selection: Parsons and the Institutionalists" zum Schluß, daß das geläufige content-fit Modell der Vorläuferwahl nicht zu erklären vermag, warum sich Parsons von den amerikanischen Institutionalisten abgewandt hat. Das content-fit Modell geht davon aus, daß geistige Vorläufer gewählt werden auf der Grundlage der Übereinstimmung ihrer Ideen mit dem Projekt des Forschers, der sich auf sie bezieht. Trotz Übereinstimmung ihrer Ideen mit den Gedanken in 'The Structure of Social Action' (1937) wendet sich Parsons von ihnen ab, weil sie damals in Harvard einen schlechten Ruf hatten, und bezieht sich statt dessen auf Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Emile Durkheim und Max Weber. Daraus folgt, daß nicht die Übereinstimmung in den grundlegenden Ideen, sondern reputationale (Vor-)Urteile im lokalen Netzwerk der universitären Beziehungen bei Parsons für die Selektion von Vorläufern ausschlaggebend gewesen sind. Einige Zusatzinformationen sollen diese Zusammenhänge deutlicher hervortreten lassen.

Nach Charles Camic (1992, 427) ist es aufschlußreich, die meist übergangenen ersten (undergraduate) Studienjahre Parsons' am Amherst College 1920 - 1924 zu beachten. Rückblickend schreibt Parsons selbst es dem Einfluß seiner beiden Lehrer Walton H. Hamilton und Clarence E. Ayres zu, daß sich der Schwerpunkt seiner Interessen in jenen Jahren von der Biologie auf die Sozialwissenschaften verlagerte. Hamilton war damals einer der wichtigsten Vertreter der "institutionellen Ökonomie", während Ayres als Philosoph auf dem Wege war, ein angesehener Institutionalist zu werden. Von diesen beiden erhielt Parsons eine solide Einführung in die Grundlagen der institutionellen Ökonomie, die ihn bis in die Mitte der 30er Jahre beschäftigen sollte.

Der Begründer dieser sogenannten institutionellen Schule, Thorstein B. Veblen (1857 - 1929), ging davon aus, daß die Ökonomie nicht als geschlossenes System, sondern vielmehr als ein Aspekt einer Kultur zu betrachten sei, deren Bräuche und Gewohnheiten Institutionen bilden, die sich jeweils rasch veränderten. In seiner "Theory of the leisure class" (1899) stellte er fest, daß der "homo oeconomicus, dessen einziges Interesse die Selbstsucht und dessen einzige menschliche Eigenschaft die Vorsicht ist, für die moderne Industrie nicht den geringsten Nutzen" besitzt (Veblen 1981, 180). Mit seiner Betonung des demonstrativen Konsums und der damit verbundenen, weit verbreiteten Vergeudung von Gütern stellte er die bedürfnisbetonten Modellvorstellungen der klassischen und neoklassischen Ökonomie der Jahrhundertwende nachhaltig in Frage. Berechtigte Kritik zog sich Veblen allerdings wegen seiner biologistischen Vorstellungen vom Menschen und wegen seines schwer nachvollziehbaren Evolutionismus zu.

Doch was er begonnen hatte, wurde von einer Gruppe von Theoretikern fortgesetzt, die man als die jüngere Generation der Institutionalisten bezeichnete. Ihre Grundgedanken, niedergelegt im Sammelband "The Trend of Economics" (1924), griffen Veblens Kritik der orthodoxen Nationalökonomie neuerdings auf und untermauerten diese Kritik durch die Betonung der sozialen Implikationen des Wirtschaftens: der Rolle der nicht-kommerziellen Anreize, der Bedeutung ideeller und kollektiver Ziele, ethischer und sozialer Werte, der gesellschaftlichen Absichten und Interessen.

Zum harten Kern der jüngeren Institutionalisten gehörten auch die beiden bereits erwähnten Lehrer Parsons in Amherst. Hamilton griff die Theorie der orthodoxen Ökonomen direkt an, indem er ihr Positivismus, extremen Individualismus, Rationalismus und Utilitarismus vorwarf, deren Konsequenz letztlich eine verfehlte Theorie des Indiviuums zur Folge haben müsse. Er stellte in Abrede, daß es so etwas wie den homo oeconomicus in Wirklichkeit geben könne, denn die Menschen seien Produkte ihrer sozialen Institutionen und der jeweils vorherrschenden Verfaßtheit ihrer Kultur. Als Schüler Charles H. Cooleys widersetzte er sich einer ökonomischen Position, die zu einem Verständnis der Individuen als freischwebenden Atomen führen mußte und betonte, daß die ökonomische Organisation kein für sich selbst existierender Gegenstand sein könne. Denn damit würde übersehen, daß immer und überall gemeinsame Werte und soziale Institutionen das Streben nach Eigennutz regeln und in bestimmte Bahnen lenken, jede menschliche Tätigkeit von bestimmten Standards der Konformität überformt ist und überdies das Problem der gesellschaftlichen Ordnung vom Standpunkt der ökonomischen Orthodoxie ungelöst bleiben müsse.

Ähnlich argumentierte auch Ayres, der den Bogen vom marginalen Nutzen in der Ökonomie zur Marginalisierung der Ethik spannte, darauf bestand, den Menschen als soziales Produkt und nicht als organische Natur zu betrachten. Menschliches Tun ereigne sich jenseits allen tierischen Verhaltens, seine Analyse verlange den Rekurs auf die Gesamtheit des kulturellen Lebens eines Volkes. Selbst das Funktionieren der kapitalistischen Ökonomie setze institutionelle Sanktionen voraus, im Geschäftsleben gelten in gleicher Weise wie im Privatbereich allgemein anerkannte Regeln des Wohlverhaltens.

Es ist wenig verwunderlich, daß die Vertreter der orthodoxen Ökonomie sich formierten und nun ihrerseits die Institutionalisten anzugreifen begannen. In den späten 20er Jahren setzte sich dann die Überzeugung durch, daß die Institutionalisten die Schlacht gegen die Orthodoxen verloren hätten. Bereits 1923 hatten Hamilton und Ayres aus Protest gegen die Entlassung des reformwilligen Präsidenten des Collegs in Amherst dieses verlassen. Beide wechselten in der Folge des öfteren ihre Stellen und zogen sich schließlich ganz aus dem Lehrberuf zurück.

Parsons Entschluß, in Harvard seine ökonomischen Studien fortzusetzen, ergab sich auf Grund der Kontakte mit einem Harvard-Absolventen 1926/27 in Amherst, wo Parsons eine einjährige Lehrverpflichtung übernommen hatte. Ausschlaggebend war dabei die Einsicht, daß die Ökonomie seiner ersten Studienjahre nicht die Ökonomie der damals dominierenden Hauptströmung war (Camic 1992, 343). So kam nun Parsons als Instruktor für Ökonomie nach Harvard, wo alle seine neuen Kollegen einen zu Hamiltons und Ayres' Theorien entgegengesetzten Standpunkt einnahmen. Da Parsons für seine weitere Karriere am Departement für Soziologie die Unterstützung der Ökonomen und anderer, die über entsprechenden lokalen Einfluß verfügten, dringend nötig hatte, schien es geboten, nicht den geringsten Verdacht auf irgendein Nahverhältnis zum Gedankengut der verpönten Institutionalisten aufkommen zu lassen.

Parsons hat sich bei der Ausarbeitung seines ersten Hauptwerkes, der 'Structure of social Action', selbst dann nie auf sie bezogen, als er kritische und konstruktive Argumente formulierte, die den ihrigen recht nahe kamen (Camic 1992, 437). Um seinem Denken mehr Anerkennung zu verschaffen, hat er sich auf die vier Europäer berufen, die damals in Harvard ein tadelloses 'reputational standing' hatten: auf Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Emile Durkheim und Max Weber. Für Marshalls, des englischen Ökonomen, und Paretos, des Italieners, hervorragende Bedeutung setzten sich Frank W. Taussig, ein Schüler Marshalls, und Josef Schumpeter ein. Um 1933 war unter den Ökonomen Harvards die Ansicht verbreitet, daß man sich entweder für die Tradition, in der Marshall stand oder den Standpunkt von Veblen zu entscheiden habe. Zwischen 1932 - 1934 fand das berühmt gewordene Pareto-Seminar Lawrence J. Hendersons statt, an dem auch Parsons teilnahm. In diesem Seminar wurde ebenfalls Durkheims Werk ausführlichst behandelt, nicht zuletzt deswegen, weil vor allem Parsons Kollege Elton Mayo von der Harvard Business School die Bedeutung Durkheims mit Nachdruck hervorhob. Auch Max Weber stand in hohem Ansehen, sowohl bei den Ökonomen wie auch bei anderen lokalen Autoritäten, die vor allem seine wirtschaftsgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Leistungen bewunderten.

Charles Camic (1992, 438) hebt eigens hervor, es sei ihm vor allem daran gelegen, den historischen Prozeß von Parsons Wahl der theoretischen Vorläufer zu rekonstruieren, und nicht ein Urteil über das Faktum dieser Wahl abzugeben, obwohl sie u.U. eine wichtige Rolle für die Etablierung eines Kanons klassischer soziologischer Theorie gespielt haben könne. Camic ist äußerst vorsichtig in der Interpretation von Parsons Wahlentscheidung: Zwar weist er die Unterstellung zurück, Parsons habe damit ein instrumentelles Manöver vollzogen, um der damals lokal vorherrschenden Meinung Genüge zu tun. Er vermutet, daß sich der Einfluß der europäischen Denker auf viel subtilere Weise, erst im Laufe der Zeit, während der Ausarbeitung seiner wesentlichen Argumente zuungunsten der Institutionalisten durchgesetzt habe. Dennoch kommt Camic (1992, 438) im Rückblick auf die Zeit, als der Prozeß der Kanonbildung noch im Gange war, zum Schluß, daß Faktoren der intellektuellen Reputation bei Kollegen, die selbst keine Soziologen waren und oft auch wenig informierte Werturteile abgaben, den Prozeß der Formierung eines Kanons soziologischer Klassiker doch wesentlich beeinflußt haben.

Wenn Reputation hier "eine soziale Konstruktion bedeutet, die dem gemeinsamen Glauben an die Exzellenz einer Person oder eines Werkes etc. einer bekannten Person" Ausdruck verleiht (Camic 1992, 433), so läßt sich im dargestellten Prozeß der Vorläuferwahl bei Parsons eine weitere Stufe der Hochstilisierung bestimmter Denker zu "Riesen der Soziologie" erkennen.

3. Der Kanon als fiktive Zentralperspektive

3.1 Die soziale Funktion eines Kanons

Im heutigen Sprachgebrauch findet der Ausdrucks "Kanon" vor allem in religiösen Bereichen häufig Verwendung. Es gibt den alttestamentlichen und den neutestamentlichen Kanon bei den Christen und den Koran als die heilige Schrift des Muslims. In diesen Zusammenhängen bedeutet Kanon jeweils eine Sammlung von tradierten Texten, deren Authentiziät als sogenannte Schriften der Offenbarung in Abgrenzung zu anderen Schriften, die als nicht zum Kanon zugehörig definiert werden, für allgemein verbindlich erklärt wird. Die Fixierung eines Kanons ist jeweils Resultat langwieriger Auseinandersetzungen und Streitigkeiten, Dissens über die Verbindlichkeit eines als gültig erklärten Kanons häufig Anlaß zu Abspaltungsprozessen und Sektenbildungen.

Diese heute vorwiegend an religiös-kirchliche Kontexte gebundene Kategorie des Kanons darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß in analoger Weise auch in anderen Bereichen kognitive Systeme mit einem hohen Verbindlichkeitsgrad existieren, also auch andernorts ein der Kanonbildung analoger Vorgang der sozialen Normierung von Denkinhalten vor sich geht, der zugleich auch als Prozeß der Bildung sozialer Systeme angesehen werden kann.

Der Ausdruck "Kanon" wurde bei den Griechen verwendet im Sinne von Exaktheit, Richtschnur, Grenzlinie, Regel und Norm, kommt jedoch aus dem Semitischen, wo er ursprünglich das Rohr bedeutete, das zur Herstellung von Körben und Meßruten diente. Im Mittelalter spielte nicht nur der kirchenrechtliche Kanon, sondern auch der medizinische Kanon von Avicenna (980-1037) eine große Rolle. Diese Enzyklopädie des medizinischen und pharmakologischen Wissens stand in Europa bis in die zweite Hälfte des 17. Jhdts. in hohem Ansehen (Sabra 1974, 876).

Ähnliche Abgrenzungsprobleme, wie sie bei jeder Kanonbildung beobachtbar sind, liegen auch bei der Festlegung der Grenzen von Wissenschaft vor, sowohl was ihren Inhalt und auch ihren zeitlichen Beginn betrifft als auch bei der Bestimmung des Verhältnisses einzelner Disziplinen der Wissenschaft zueinander und ebenso bei Fragen der weiteren Differenzierungen des wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldes in immer neuere Arbeitsgebiete mit teils recht variablen und unscharfen Grenzen. Dem liegen, was nicht immer mitberücksichtigt werden kann, die beiden folgenden Tatsachen zugrunde: Einmal, daß Wissenschaft den Anspruch erhebt, mit einem besonderen methodischen Instrumentarium Probleme eines speziellen Gegenstandsbereiches auf besonders kompetente Art und Weise zu bearbeiten. Es sind dies Tätigkeiten, deren Faszination aus der Entdeckung von neuem Wissen über Objekte bzw. der Erprobung von bestimmten Interventionsmöglichkeiten in bestimmten Gegenstandsbereichen resultiert. Also eine scheinbar ausschließliche Bestimmtheit von ihren Objekten her, verbunden mit dem Anspruch von Objektivität, die einer besonderen gesellschaftlichen Reputation würdig ist. Andererseits aber realisiert sich dieser Objektbezug mit den Mitteln, die eine vorgegebene Kultur bereitsstellt bzw. möglich macht und in gesellschaftlich zugelassenen Formen. Die angeblich reine Orientierung am Gegenstand und seiner Bearbeitung vollzieht sich normalerweise in gesellschaftlichen Formen, die, wie das Beispiel der Kanonbildung bzw. der Codifizierung eines bestimmten Wissens zeigt, den vorgeblich reinen, von nichts anderem beeinflußten Gegenstandsbezug letztlich als illusionäre Prämisse erscheinen lassen müssen. Indem Wissenschaftler ihre Wissenskonstruktionen über Seinsbereiche errichten, etablieren sie gleichzeitig ein soziales Beziehungssystem mit all seinen Implikationen, die dann wieder Gegenstand der Wissenschaftsforschung, insbesondere der Wissenssoziologie sein können und sind.

Als Kanon läßt sich also jener harte Kern von kognitiven Elementen eines sozialen Feldes betrachten, der das als verbindlich Anzuerkennende mit einiger Bestimmtheit umschreibt, Bezugspunkte der Legitimation fixiert und ein gewisses Maß an Identität zwischen jenen stiftet, die diese Wissenbestände als ihre eigenen betrachten. Man kann darin auch besondere Aspekte von Prozessen der Institutionalisierung, der Kristallisierung oder der Strukturbildung sehen, die alle indizieren, daß dynamische Prozesse immer wieder zu Stabilitäten führen, die von unterschiedlicher Dauer sind, weil auch ihre Resistenz gegen Veränderungen variabel ist. Es gibt auch gute Gründe anzunehmen, daß Codifizierung von Regeln und die Kanonisierung von Wissensbeständen in jenen Bereichen einer Gesellschaft am besten elaboriert und mit Sanktionen belegt sein werden, die für ihr Selbstverständnis und ihren Bestand als von größter Bedeutung erachtet werden. Und umgekehrt wäre wohl auch davon auszugehen, daß Wissensbestände umso weniger reglementiert sind, je geringer ihre Bedeutung gesamtgesellschaftlich oder auch für einen gesellschaftlichen Teilbereich veranschlagt wird.

Man könnte im Prozeß der Kanonbildung wohl auch mit einigem Recht die schriftliche Dimension des Prozesses der Institutionalisierung sehen. Bestimmte Schriften bestimmter Autoren erhalten damit den Rang des Exemplarischen und Maßgeblichen im strengen Sinn des Wortes, daß damit eben Maßstäbe gesetzt werden, die verbinden und trennen, Grenzlinien zwischen Zugehörigem und Nicht-Zugehörigem ziehen. Ein Bezug auf und ein Bekenntnis zu einem bestimmten Kanon stiftet eine gewisse Identität, mag diese auch noch so brüchig sein. Ein Kanon fundiert einen (Minimal-) Konsens hinsichtlich einer bestimmten Sicht der Probleme und einer bestimmten Art und Weise, sie zu bearbeiten. Der Hinweis auf eine 'bestimmte' Sicht und eine 'bestimmte' Art der Bearbeitung ist keineswegs so aufzufassen, daß damit Spielräume in der Akzentsetzung und die Ausbildung unterschiedlicher Meinungen keinen Platz mehr hätten. Verschiedene Paradigmen innerhalb eines einzigen Kanons sind keineswegs ein Widerspruch. Denn wo derartige Spielräume beschnitten sind, macht sich steriler Dogmatismus breit, hält Sektierertum Einzug. Dies blockiert dann offensichtlich auch alle Möglichkeiten weiterer Entwicklung, führt zu Stillstand, der Lebendiges erstarren läßt.

Wenn Wissenschaft Entwicklung und Veränderung nicht nur zu analysieren, sondern auch zu beeinflussen beansprucht, so stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Kanon und Veränderung. Fürs erste bieten sich zwei Denkalternativen an: Einmal eine zu starke Bindung an einen traditionellen Kanon, die hinderlich sein kann, sich auf neue Phänomene in neuen Bereichen mit der notwendigen Offenheit und Ungezwungenheit einzulassen; dann aber auch die Möglichkeit, einen Kanon als Bezugspunkt für wenig wichtig zu halten, wenn nicht völlig außer acht zu lassen. Mag eine solche Vorgangsweise - soferne sie praktisch überhaupt realisierbar ist - für einzelne einen lustvollen Zugang zu und einen neuen Umgang mit neuen Bereichen ermöglichen, so wird damit, je mehr einem Fach zugehörige Forscher und Lehrer eine solche Vorgangsweise für notwendig im Sinne des Wachstums wissenschaftlicher Erkenntnisse halten, der Auflösung einer scientific community mit allen ihren Konsequenzen der Weg bereitet.

Die diskutierten Alternativen scheinen als Denkmodelle möglich, aber nicht zwingend realitätsnah zu sein, sodaß sich als weitere Vorstellung der Gedanke aufdrängt, einen Kanon vorwiegend in der symbolischen Ordnung verankert zu sehen. Damit ist die Bereitschaft gemeint, die wissenschaftliche Tätigkeit der Gegenwart als in der Tradition von dieser und jener großen Figur stehend zu deklarieren. Dies kann einmal geschehen durch äußere Verweise, die vom Inhalt her keineswegs erforderlich wären, aber auch auf dem Wege einer "Rekonstruktion" der Theoriebestände der Altvorderen, wobei offen bleibt, ob mit einer solchen Rekonstruktion nicht werkfremde Elemente eingeschmuggelt werden. Auch das mag vorübergehend für einzelne Akteure zielführend sein - Tote setzen sich nicht zur Wehr gegen Kuckuckseier - , längerfristig werden derartige Praktiken ebenfalls Zersplitterung und Zerfall einer Fachdisziplin beschleunigen.

Es ist also durchaus sinnvol, auch auf die Soziologie die Kategorie eines Kanons und die damit bezeichnete Realität, das die Soziologie Charakterisierende, das Identitätsstiftende, sie von anderen Fächern Unterscheidende oder wie man immer dies in Worten ausdrücken mag, anzuwenden. Natürlich läßt sich dagegen der Einwand vorbringen, dies sei eine veraltete essentialistische Denkweise, die auf einen Substantialismus hinauslaufe, der sich heute kaum mehr rechtfertigen lasse. Dafür ließen sich zweifellos auch einleuchtende Argumente beibringen. So einsichtig diese auch sein mögen, sie finden die Grenze ihrer Überzeugungskraft am Faktum der objektiven Seite der Existenz einer institutionalisierten Disziplin, an ihren organisatorischen Funktionsbedingungen. Was damit gemeint ist, ließe sich auch als der hardware-Aspekt der Angelegenheit begreifen: Jede institutionalisierte wissenschaftliche Disziplin braucht Geld, Personal, Räumlichkeiten; es bedarf gewisser Richtlinien der Rekrutierung von Personal, eines fachbezogenen Programmes für Forschungsaufgaben, eines Curriculums für die Lehre und eines Kriterienkataloges, um fachbezogene Prüfungsrituale vollziehen zu können. Mangelt es an den genannten Voraussetzungen, so kann ein Fach sich zunächst einmal nicht weiter entwickeln, in der Folge aber nicht einmal mehr seine Bestände erhalten.

In der Beobachtung von Charles Camic (1992, 439), daß an einem wichtigen Punkt der Bildung eines soziologischen Kanons dieser selbst von häufig uninformierten fachfremden Kollegen - gemeint sind damit vor allem Fachvertreter der Nationalökonomie in Harvard - beeinflußt worden ist, läßt sich mehr als nur ein nebensächlicher Forschungsbefund erkennen. Sie kann auch Ausgangspunkt weiterer Überlegungen sein: Zunächst einmal zur Frage eines soziologischen Kanons als solchem führen, ob es einen gibt, worin er besteht und wie er entstanden ist, dann weiters zur Frage, ob Kanonfragen der Soziologie etwas mit ihren gegenwärtig häufig artikulierten Krisenerfahrungen zu tun haben und schließlich, inwiefern diese Krisenerfahrungen umweltbedingt, d.h. von Veränderungen im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umfeld mitbedingt, also auch als vorübergehende Erscheinung zu betrachten sind.

Die erste Frage, die sich auf die Existenz eines soziologischen Kanons bezieht, ist ungewohnt, sowohl was die Verwendung des Ausdrucks wie auch die damit bezeichnete Sache betrifft. In durchaus analoger Weise wie Charles Camic beim jungen Parsons der 30er Jahre spricht auch Carlo Mongardini im Zusammenhang mit der Charakterisierung der Zeit des jungen Pareto explizit dessen Bedeutung für die Kanonbildung an. Pareto sei nicht der einzige gewesen, "der in jenem historischen Moment beginnt, neue Wege der Forschung zu suchen, die den Kanon der marxistischen Soziologie oder den 'idealistischen Sozialismus', bei dem Durkheim schon in den Règles de la méthode sociologique angelangt ist, überwinden" (Mongardini 1976, 21). Insgesamt ist jedoch die Frage nach einem Kanon der Soziologie keine die Fachgemeinschaft brennend interessierende Frage. Denn dies gibt jedem einzelnen, der sich ihr zugehörig fühlt, zunächst einmal die Möglichkeit, nach Gutdünken seine Verbindungslinien zur Fachgeschichte herzustellen. Ein Blick in die einführenden Lehrbücher und Textsammlungen, die einen Überblick vermitteln sollen, findet jedoch eine gewisse Konstanz bei immer wiederkehrenden Themen, deren Behandlung jeweils mit bestimmten Autoren in Verbindung gebracht wird. Näher an die Frage eines Kanons führt das Bild von den "Riesen" heran oder die Berufung auf die sogenannten Klassiker. Am Beispiel von Max Weber sind einige Schritte dieser Hochstilisierung zum Riesen und Klassiker rekonstruiert worden, die durchaus den Schluß rechtfertigen, daß dabei ein beträchtliches Maß an historischer Kontingenz zu einer sich nahezu selbst rechtfertigenden Entwicklungslinie geradegebogen worden ist. Gegenwärtige Versuche, die 'große Theorie' Parsons' weiterzuschreiben, lassen sich als Versuche interpretieren, den historischen Kanon mit variablen Akzentsetzungen und unter Einführung zusätzlicher, den Kanon erweiternder Elemente bis in die Gegenwart zu verlängern, dem Fach damit eine solide Grundlage zu geben. Derartige ehrenwerte Ambitionen suggerieren Kontinuität und Aktualität, vermögen aber einer um sich greifenden Verunsicherung und expliziten Beschwörung einer Krise der Soziologie, ja sogar Befürchtungen ihrer Auflösung, keineswegs wirksam entgegenzutreten. Möglicherweise lassen sich über die Krisenerfahrungen der Klassiker selbst, die Art ihrer Krisenbewältigung und den nachfolgenden Kanonisierungsprozeß einige Anhaltspunkte für ein besseres Verständnis dessen gewinnen, was heute als krisenhaft und krisenanfällig empfunden wird.

3.2 Artikulationen der Krise

Zunächst einmal wäre vorauszuschicken, daß die Wissenschaften gar nicht selten als in Krisen befindlich beschrieben werden. Husserl hat beispielsweise 1936 eines seiner letzten Werke der "Krise der abendländischen Wissenschaft" gewidmet. Fünfzehn Jahre zuvor hatte Adolf Günther die "Krise der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft" veröffentlicht. Der Ausdruck 'Krise' soll in derartigen Zusammenhängen einen desolaten Zustand bezeichnen, dessen Symptome darauf hindeuten, daß es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann. Dabei wird meist übersehen, daß das Wort Krise eine ambivalente Phase eines Prozesses anspricht. Charakteristisch für eine solche Phase ist, daß die Entwicklung, wenn sie weitergeht wie bisher, einem katastrophalen Ende entgegenstrebt, oder aber, soferne aus irgendwelchen Gründen der Prozeß in eine andere Richtung zu laufen beginnt, eine Neustrukturierung, Wiederherstellung und Stabilisierung eintreten kann. Thematisierungen einer Krise lassen sich also auch als Teil einer unerläßlichen und ebenso heilsamen Selbstreflexion betrachten, die sich keineswegs nur aufs Lamentieren beschränken muß. Bloße Krisenrhetorik ist wenig zielführend. Erst wenn sich ihr auch eine zutreffende Krisendiagnostik zugesellt, vermag sie jenen nützlichen Punkt eines sichtbaren Umschwunges zu markieren.

Wer sich die Mühe ersparen will, Krisenbeschreibungen aus jüngerer Zeit selbst zusammenzutragen, findet eine umfangreiche Sammlung davon im Jubiläumsband der "Sozialen Welt" (1989), den Ulrich Beck anläßlich ihres 40-jährigen Bestehens herausgegeben hat. Birgitta Nedelmann bezeichnet dieses Produkt als "Selbstbesinnung über Zustand und Perspektiven des Faches", als peinlich und bewegend. Die Peinlichkeit resultiere aus der Larmoyanz und dem eitlen Selbstdarstellungsbedürfnis einiger Autoren, das Bewegende bestehe darin, daß es sich dabei um ein "einmaliges Dokument über die anomischen und selbstdestruktiven Tendenzen innerhalb der gegenwärtigen bundesrepublikanischen soziologischen Gemeinschaft" handle (Nedelmann 1992, 144). Mit der Orientierung an den drei Fragen: Welche Diagnose? Wie ist der diagnostizierte Zustand zu erklären? Reaktionen der Autoren darauf? werden zweifellos die wesentlichen Momente eines Krisendiskurses angesprochen.

Zum ersten, der Diagnose: Manchen Autoren genüge es nicht, von Krise zu sprechen; sie sähen bereits das unheilvolle Ende dieser Krise und die Soziologie in Auflösung begriffen, vor ihrem oder bereits im Zusammenbrechen. Als Indizien dafür werden bemüht: das Ende der klassischen Makrosoziologie, mitbedingt durch eine mikrosoziologische Revolution; Verabschiedung von einem heilswissenschaftlichen Selbstverständnis, das selbst einem Modernisierungsprozeß und Entzauberungsprozeß unterliege, an dessen Ende der Abschied von der Soziologie stehe; die Distanzierung der Fachvertreter von ihrem Fach, indem sie zum Philosophen oder Ethnologen, zum allgemeinen Sozialwissenschaftler oder gar zum Anti-Soziologen mutieren.

Zum zweiten, der Erklärung des Zustandes, stellt Nedelmann (1992, 144) eine erstaunliche Unbeholfenheit fest, den beklagten Zustand auch soziologisch zu reflektieren. Ja, sie geht sogar so weit zu behaupten, daß jene am schwärzesten sehen, die am wenigsten in der Lage sind, die Situation mit Hilfe des Instrumentariums der eigenen Profession zu reflektieren. Autoren, die wissenschaftssoziologisch argumentieren, bemängeln die Absenz - im Gegensatz etwa zur Medizin, der Rechtswissenschaft oder der Ökonomie - eines eigenen Rationalitätskriteriums und die Unfähigkeit, dem doppelten Legitimitätsproblem zu begegnen: dem Problem der Binnenlegitimität, das sich daraus ergebe, daß weder ein Minimalkonsens über die Kriterien und Standards der Profession bestehe und darum - damit zusammenhängend - auch die Möglichkeit fehle, sich eindeutig von den Nachbardisziplinen und der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit abzugrenzen; und weiters dem Problem der Außenlegitimität, womit ein sogenanntes Leistungsdefizit des Faches angesprochen werde, also die Tatsache, daß andere Wissenschaften wie Ökonomie, Biologie oder Rechtswissenschaften zur Lösung akuter gesellschaftlicher Probleme stärker gefragt seien als die Soziologie (Nedelmann 1992, 147). Daraus ergebe sich dann, leicht nachvollziehbar, ein verhängnisvoller Teufelskreis: Das "Leistungsdefizit bewirkt, daß ihre soziale Geltung und Außenlegitimität noch weiter sinken. Diese Schwäche wirkt wiederum negativ auf die Bemühungen der Profession zurück, ihre eigene Identität zu bewahren und die Kriterien der Binnenlegitimität zu homogenisieren" (a.a.O.).

Es entsteht also ein Zustand der Anomie, als Resultat aus dem Verlust eines klassischen und unentbehrlichen Gegenstandes der Soziologie, der Institutionen der staatlichen Ordnung, oder, was auf dasselbe hinausläuft, aus einer angeblichen Individualisierung der Soziologie, womit der Soziologie das Grab geschaufelt werde. Der häufig eingeforderte Bezug auf die Klassiker und die gründliche Auseinandersetzung mit ihnen sei durchaus ambivalent zu sehen: Wollen die einen damit einen Anschluß an deren programmatisches Anliegen herstellen, den Prozessen der Vermittlung zwischen Interessen unterschiedlichen Institutionalisierungsgrades und unterschiedlicher Institutionalisierungsarten nachgehen, so sehen andere im nachhaltigen Studium der Klassiker einen Ausdruck der Krise selbst oder das Bemühen, die Krise zu verdecken (Krisenkitt).

Auf Anomie folgt, dem bekannten Schema der Soziologie entsprechend, auch bei Soziologen selbst Apathie, Rückzug und Ritualismus als Reaktion auf die Krise. Die Apathie manifestiere sich in einer Mischung von multidimensionaler gleichgültiger Vielfalt und demonstrativer Kommunikationsindifferenz: gegenseitige Nicht-beachtung von Empirikern und Theoretikern, konfliktloses Nebeneinander verschiedener Paradigmen, als Wurzelboden für Selbstzufriedenheit und individualisierte Anpassung an die anomische Situation. Als Tendenzen des Rückzugs werden die Selbststilisierung der eigenen Person interpretiert und die Manie, sich durch Neologismen zu profilieren, als Tendenzen des Ritualismus die folgenlosen Beschwörungen der Interdisziplinarität.

Am Schluß ihrer kritischen Sichtung eines voluminösen Bandes zur Krise der bundesrepublikanischen Soziologie stellt Nedelmann einige Überlegungen über Auswege aus dem Teufelskreis an. Moralische Appelle seien wenig geeignet, professionellen Zerfallserscheinungen entgegenzuwirken. Solange das Binnenmilieu schwach und unstrukturiert sei, könne die soziologische Gemeinschaft dem Druck nicht standhalten, der vom derzeitigen Zeitgeist des Antiintellektualismus und der Abrechnung mit der 68er-Generation auf sie ausgehe. Gelinge es nicht, diesem Druck wirksam zu begenen, so wäre für viele ihr Zerfall ein willkommenes Ereignis (Nedelmann 1992, 151). Darüber, wer mit den "vielen" gemeint sein könnte, also über jene, denen die Soziologie heute ein Dorn im Auge ist, die von ihrem Zerfall profitieren würden, finden sich leider keine weiteren Aussagen.

Vergleichbare Standortbestimmungen zur Soziologie in der Schweiz, Deutschland und Frankreich wurden auf dem IX. Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Neuchâtel im Oktober 1991 vorgelegt. Die dort präsentierten Analysen sind hier insofern von Interesse, als sie gestatten, das Bild von einer Krise der gegenwärtigen Soziologie,2 wie oben angesprochen, zu verallgemeinern, zu relativieren oder als nicht den Verhältnissen entsprechend zu betrachten.

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2) vgl. dazu auch die Beschreibung der Situation der Soziologie in Österreich von Hans G. Zilian (1992, 20 f)



Was die Darstellung der Verhältnisse in der Bundesrepublik betrifft, versucht Hans-Peter Müller (1992, 751 ff) zunächst einen anscheinend objektiven, weniger düster gezeichneten Bericht zu geben. Am Ende seines Beitrages greift er dann aber doch ausdrücklich bereits Bekanntes als deutlich sichtbaren Trend der 80er Jahre auf: den sinkenden Einfluß der Soziologie auf die Politik und den öffentlichen Diskurs, ein Abtreten der Rolle der Wortführerschaft an die Philosophie (Debatten um die Postmoderne) und Geschichtswissenschaft (Historikerstreit), den Verlust an Attraktivität für Studierende, der sich das Fach in früheren Jahren erfreute. Doch sei der offensichtliche Niedergang des Prestiges dieser Wissenschaft nicht Grund genug, über Krise und Ende der Sozioloige zu lamentieren, denn sie sei auch in den 80er Jahren mit beträchtlichen theoretischen und empirischen Leistungen hervorgetreten. Und abschließend: "Nicht die Soziologie in Deutschland, sondern die deutschen Soziologen sind in einer Krise. Sie sind alt geworden und sollen mehr die Ruhe pflegen, denn der Generationswechsel ist bereits im vollen Gange" (Müller 1992, 761). Eine neue Generation und bedrückende gesellschaftliche Probleme der 90er Jahre sollten Grundlage eines vorsichtigen Optimismus sein.

Der Kongrss in Neuchâtel hat mit der Wahl seines Generalthemas "Soziologie der Schweiz, Soziologie in der Schweiz" Selbstreflexion und Standortbestimmung des Faches bereits im Programm festgeschrieben; offensichtlich nicht so sehr aus Anlaß eines zu feiernden Jubiläums, was Inszenierung und Zelebrierung der eigenen Identität für selbstverständlich, wenn nicht für unumgänglich erscheinen läßt. Den Grund der Selbstthematisierung präzisiert François Hainard: Zwar lassen sich bei der Einordnung der Soziologie in der Schweiz sowohl positive wie auch negative Aspekte erkennen, doch insgesamt steht sie seiner Meinung nach vor einem Scheideweg mit den Alternativen eines neuen Aufbruchs oder einer risikoreichen Stagnation (Hainard 1992, 151). Zu den positiven Aspekten, auch von anderen Referenten betont, ist jedenfalls die - im Vergleich zu Frankreich und Deutschland mit einem gewissen Zeitverzug - erfolgreiche Institutionalisierung der Soziologie und die Konsolidierung fachspezifischer Forschungstätigkeiten zu rechnen. Anfängliches Mißtrauen von seiten der politischen Behörden, die Abwehrreflexe einer weithin verständnislosen Gesellschaft sind der Einsicht gewichen, daß soziologische Forschung für Diagnose und Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme durchaus von Nutzen sein kann. Mit dieser Einsicht ist auch die Bereitschaft verbunden, den Zugang zum erforderlichen Minimum an Forschungsmitteln zu ermöglichen. Dennoch profitiert nach Ansicht Hainards die Soziologie aus der generell verstärkten Nachfrage nach soziologischen Analysen nur in eingeschränktem Maße: Denn einerseits sei die Forschung im wesentlichen auf die Universitäten konzentriert, also eingebunden in die vielfältigen anderen Verpflichtungen und dadurch beeinträchtigt. Andererseits aber würden diese Forschungsaufgaben von Vertretern anderer sozialwissenschaftlicher, ja sogar auch von Angehörigen technischer Fachdisziplinen durchgeführt, was nicht so ohne weiteres zur Kenntnis genommen werden dürfe. Es gelte, "das uns zustehende Terrain zu besetzen", selbstreflexiv zu sein, "um sich besser zu analysieren und besser verkaufen zu können" (Hainard 1992, 153).

Eine unverkennbare Wendung zum Besseren wird auch von den anderen Referenten dieses Kongresses wiederholt unterstrichen. Die Zeiten, in denen man die Schweiz als eine "soziologische black box" - so Peter Heintz 1971 - betrachten konnte, gehörten endgültig der Vergangenheit an, ebenso die großen Auseinandersetzungen um einzelne soziologische Publikationen, die Anstoß erregten (vgl. Hutmacher 1992, 170). Trotzdem, das Goldene Zeitalter sei noch keineswegs angebrochen.

Die Ambivalenz der Erfolgsmeldungen der Gegenwart illustriert der Beitrag von Uli Windisch, der vor allem den scharfen Kontrast zwischen robuster Institutionalisierung und dem Geist, der in der Institution lebt, herausarbeitet. Rückblickend auf die späten 60er Jahre beschreibt er diese gleichsam als die charismatischen Gründerjahre: eine bewegte Periode, in der die Studierenden sich wenig um die beruflichen Möglichkeiten kümmerten, weil sie ohnehin überzeugt waren, daß es kaum solche gebe. Dennoch sei das soziale und politische Engagement in einer stimulierenden Atmosphäre hoch gewesen: Es wurde viel diskutiert und das Studium mit einem hohen Maß an Autonomie selbst organisiert, mitunter ideologischen Vorlieben allerdings mehr Gewicht beigemessen als der Kultivierung akademischer Forschung. Das alles habe sich gründlicher geändert, als es vor zehn, ja nicht einmal vor fünf Jahren vorauszusehen gewesen wäre. Heute könnten zahlreiche Forschungsvorhaben nicht durchgeführt werden, weil sich dafür keine qualifizierten Mitarbeiter finden ließen. Weitere Paradoxien ortet Windisch (1992, 156) auch auf der Seite der Studierenden: Nur vage Vorstellungen sowohl von der Soziologie wie auch von dem, was sie tun wollen, nur wenige, die mit einem Projekt zur Soziologie kommen, mit einiger Entschlossenheit in einem ambitionierten Lebensprojekt engagiert sind.

Das Image der gegenwärtigen Soziologie sieht Uli Windisch noch zu sehr mit Politik und Ideologie konnotiert und daher der Realität gegenüber im Verzug. Weitere Rückschlüsse auf gesellschaftliche Stellung und Image der Soziologie in der Schweiz gestattet der Forderungskatalog für künftige Maßnahmen: Abgrenzung von Politik, Ideologie und Journalismus einerseits, vermehrte Anstrengungen um Öffentlichkeitsarbeit andererseits. Denn die Forschungsergebnisse sind medial zu wenig präsent, Journalisten fahren oft lieber nach Paris, um dort jemand zu interviewen; oder "man benützt unsere Arbeiten, ohne die Quellen zu zitieren,....kommt zu uns lediglich, um uns auszuquetschen wie eine Zitrone und dann eine Sendung zu machen" (Windisch 1992, 163). Daher sei mehr Öffentlichkeitsarbeit unerläßlich, sei es über die Herstellung von Filmen, die Vulgarisierung von Forschungsergebnissen oder die Abfassung einschlägiger Essays.

Für die französische Soziologie, wie sie François Chazel (1992, 197 ff) beschreibt, haben die 80er Jahre ebenfalls einen tiefgehenden Transformationsprozeß mit sich gebracht. Es zeigen sich auch hier negativ einzustufende Phänomene, die jedoch in keiner Weise Anlaß sind, eine Untergangsstimmung heraufzubeschwören. Als Indizien einer Klimaverschlechterung werden angeführt: Verlust der Führungsrolle, resultierend aus dem Entzug der Kompetenzzuschreibung bei der Steuerung von Veränderungsprozessen, ein Rückgang des Interesses des gebildeten Publikums an soziologischen Büchern und eine gesunkene Attraktivität der Soziologie für die neue Generation der Studenten, also insgesamt eine Schwächung der Position der Soziologie im Äußeren, der im Inneren jedoch einige wichtige Neuorientierungen entgegenstehen.

Globale Orientierungen, Marxismus und Strukturalismus haben nach Ansicht Chazels ihren Einfluß weitgehend eingebüßt bzw. sind nahezu völlig von der Bildfläche verschwunden. An die Stelle der früher vorherrschenden deterministischen und subjektnegierenden Orientierungen tritt heute das Interesse am Handeln des einzelnen. Dabei sind aber unterschiedliche Akzentsetzungen festzustellen: einmal die Betonung der "Rückkehr des Akteurs", wie es Alaine Touraine formuliert, dann aber der Figur des rational Handelnden im Sinne des methodologischen Individualismus in Anlehnung an das ökonomische Paradigma. Damit verbunden auch die Bemühungen um eine Klärung des Begriffes der Rationalität und Bestrebungen, sich mit der Ökonomie auseinanderzusetzen und das Verhältnis von Soziologie und Ökonomie neu zu formulieren (vgl. Chazel 1992, 200). Neues Interesse wende die Forschung dem Studium sozialer Netzwerke und sozialer Beziehungen (wie bei Simmel) zu, der Analyse von Prozessen, Längsschnittanalysen, Biographien und der aktiven Rolle, die Akteure dabei jeweils spielen.

Aufs ganze gesehen sieht François Chazel durchaus Gründe zum Optimismus, die Kritik der Vergangenheit als erste Phase der Rekonstruktion. Zwar gebe es starke Tendenzen nach einer Billig-Nutzung der Soziologie, erleichtert durch die unzulängliche Professionalisierung der Disziplin, doch zeichne sich jenseits ideologisch - reduktionistischer Sichtweise die Gestalt einer neuen Soziologie ab, die am besten zu charakterisieren sei durch die Merkmale pluralistisch, offen, attentiv und autonom, sowohl auf empirischer wie auch auf theoretischer Ebene.

Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum "Ende der kritischen Soziologie" umreißt auch Niklas Luhmann (1991, 147 ff) seine Vorstellungen von einer neuen Soziologie. Die gegenwärtigen Verunsicherungen der kritischen Soziologie der bürgerlichen Gesellschaft führt er nicht auf politische, sondern auf wissenschaftliche Innovationen zurück. Insbesondere meint der damit die erst "in jüngster Zeit" gemachte Erkenntnis von der Fragwürdigkeit der Prämisse eines Objektes "Gesellschaft", das beobachtungsunabhängig gegeben sei. An die Stelle einer Soziologie, die der Perspektive eines Weltbeobachters erster Ordnung verpflichtet sei, stellt er eine Soziologie der Beobachtung zweiter Ordnung. Dies führt dann dazu, daß nicht mehr festgestellt werden könne, "wie die Welt wirklich beschaffen ist, sondern nur, wie sie übereinstimmend konstruiert werden kann mit der Folge, daß die Kommunikation fortgesetzt werden kann und nicht mangels Verständigungsmöglichkeiten abgebrochen werden muß" (Luhmann 1991, 150). Für das Verhältnis der Soziologie zur Gesellschaft bedeute dies nicht, daß die Distanz zwischen beiden sich vergrößere oder verringere, sondern daß sich die Form der Distanz verändere. Mit der prinzipiellen Preisgabe der Unterscheidung von Subjekt und Objekt verliere das Subjekt auch die Möglichkeit, Gegenstände zu beurteilen und zu verurteilen, ohne sich selbst zu treffen. Daher auch eine neue Positionsbestimmung für die Soziologie: Sie "ist in der Gesellschaft für Beobachtungsfunktionen freigestellt, und gerade ihre Autonomie ist die Form, mit der sie in das rekursive Netzwerk des Beobachtens von Beobachtungen eingespannt ist, das heißt: gesellschaftlich existiert" (Luhmann 1991, 151). Wie diese Freistellung dann konkret realisierbar sein soll, ist der Phantasie des Lesers überlassen. Als freigestellte und wohlgenährte ist die Soziologie nach Ansicht Luhmanns jedenfalls der Notwendigkeit enthoben, ihre gesellschaftliche Nützlichkeit unter Beweis stellen zu müssen. Wo noch von Kritik und Krise die Rede ist, handelt es sich nach Luhmann lediglich um antiquierte Schemata der Semantik und der Rhetorik, die für die bürgerliche Gesellschaft charakteristisch waren. Von äußeren Veränderungen wie dem Zusammenbruch sozialistischer Politik- und Wirtschaftssysteme könne jedenfalls kein Zwang zur Änderung der Perspektive ausgehen. So unmittelbar könne die Soziologie nicht auf unbestrittene Tatsachen reagieren, dies tangiere sie nicht in ihren konstitutiven Einstellungen (Luhmann 1991, 147).

4. Die Krise im Lichte der Probleme der Kanonbildung

Wenn heute vermehrt von einer Krise der Soziologie, soferne nicht generell, so doch zumindest im deutschen und frankophonen Sprachraum Europas die Rede ist, so handelt es sich dabei keineswegs um ein Unglück, das über Nacht hereingebrochen wäre. Der Anfang des Prozesses, der zur heutigen Situation geführt hat, ist auf die frühen 70er Jahre zurückzuführen, als die Hoffnungen auf eine weitreichende gesellschaftliche Transformation sich in Anbetracht der wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten zusehends rascher verflüchtigten. Der Kapitalismus bzw. die soziale Marktwirtschaft, wie andere dieses System bezeichnen, glitt nach einer ungewöhnlich langen Phase des Aufschwunges und der Prosperität mehr und mehr in einen Zustand, in dem sich die Schwierigkeiten häuften. Damit waren auch die Träume von einer humanen Gesellschaft ausgeträumt. Technologische Innovationen, Steigerung der Produktivität, um international konkurrenzfähiger zu sein, Rationalisierungen und damit einhergehende Arbeitslosigkeit etablierten sich als beunruhigende Dauerphänomene. Die Spaltung der Gesellschaft in Krisengewinner und Krisenverlierer führte zu dem, was manche als die Zwei-Drittel-Gesellschaft bezeichneten.

Auf der politischen Ebene brachten diese Jahre eine Aufwertung eher konservativer Grupppierungen. Dies manifestierte sich nicht nur in diversen Beschwörungen des Wertkonservativismus als Gegenmittel, sondern auch in der Installation konservativer Regierungen, deren liberalistische Programme die richtige Antwort auf die neuen Herausforderungen zu sein versprachen und sich auch in demokratischen Wahlen als mehrheitsfähig erwiesen haben. Reaganomics und Thatcherismus waren die neuen Leitbilder, die über eine bemerkenswerte Zeitspanne dem öffentlichen Geschehen ihre Signatur aufzuprägen vermochten. Doch auch ihre Zeit war begrenzt, weil ihre Programmatik neben der Lösung anstehender Probleme ebensoviele neue erzeugte.

Derartige Veränderungen mußten natürlich auch Auswirkungen auf den wissenschaftlichen Bereich mit sich bringen. Man begann den Sinn der Geisteswissenschaften anzuzweifeln, und deren Vertreter hatten nach Argumenten zu suchen, wie ihre Existenz gerechtfertigt und mit welchen neuen Funktionsbestimmungen sie dennoch legitimiert werden könnten. An sozialistischen Vorstellungen orientierte Theorien büßten sukzessive zunächst ihre Faszination, dann aber ihre Plausibilität überhaupt ein. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Länder des Ostens ist hier lediglich als spektakulärer Abschluß einer längeren Entwicklung anzusehen, keineswegs aber als unerwarteter Infarkt einer unangefochtenen Doktrin. Dabei ist die offensichtliche Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in den verschiedenen Ländern nicht zu übersehen.

In der französischen Szenerie hatte die Absetzbewegung vom Marxismus schon längst eingesetzt, als in anderen Ländern die paradigmatische Bedeutung dieser Orientierung für ihre Anhänger noch weitgehend intakt war. Daher auch die zeitlichen Unterschiede in der Datierung des Beginns der Suche nach neuen Fundierungsmöglichkeiten der Soziologie in Anlehnung an die verschiedenen Spielarten phänomenologischer Philosophie oder andere unkonventionelle Denker wie Friedrich Nietzsche, Georges Bataille u. a. Diese entschiedenen Versuche einer Neuorientierung waren notwendige Konsequenz der Einsicht, daß sich die moderne Gesellschaft von der Position der marxistischen Lehre her nicht mehr glaubwürdig kritisieren ließ. Mit einiger Verspätung erst wurden dann diese Neuansätze in den Diskussionen um Moderne und Postmoderne auch in der Soziologie des deutschsprachigen Raumes rezipiert. Wer diese Diskussionen nachzuvollziehen suchte, dem wurde ein beträchtliches Maß an Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen, auf denen sie beruhten, nicht erspart. Damit rückte die Soziologie, zumindest partiell, um ein beträchtliches Stück näher an die Philosophie heran.

Eine weitere Belebung der intellektuellen Landschaft der vergangenen Jahre stellte der öffentlichkeitswirksame "Historikerstreit" dar, womit die Auseinandersetzungen um die angemessenen Vorgangsweisen der Geschichtswissenschaft gemeint sind. Für die Soziologie waren diese insofern von Bedeutung, als mit der "oral history", einer methodischen Orientierung an der subjektiven Sichtweise von Zeitzeugen und der damit einhergehenden Aufwertung der subjektivistischen Perspektiven, sich auch neue Möglichkeiten einer qualitativen Sozialforschung abzuzeichnen begannen. Diesbezügliche Bemühungen, die der Etablierung einer Alltagssoziologie die Wege ebneten - was immer im einzelnen damit gemeint sein mag - führten umso leichter zum Erfolg, als sie sich mit den bereits seit längerem im Raum stehenden Forschungsansätzen der Ethnomethodologie problemlos vereinbaren ließen, also eine Absetzbewegung von den herkömmlichen Ansprüchen an einer Objektivität wissenschaftlichen Arbeitens darstellen, deren Kriterien den Standards einer mechanistisch verstandenen Naturwissenschaft entsprechen.

Keine Expansion der Perspektiven, sondern eher eine Wiederkehr des Klassischen und die Aufwertung des Tradierten kennzeichnete hingegen die Entwicklung der Nationalökonomie der vergangenen zwei Jahrzehnte. Damit ist die Tatsache gemeint, daß der temporär dominierende politische Neokonservatisvismus die orthodoxe Nationalökonomie in die Position einer nahezu uneingeschränkt geltenden Zentralperspektive rückte. Der homo oeconomicus erwachte zu neuem Leben und begann, mit der Ausarbeitung unterschiedlich etikettierter Varianten einer rationalen Handlungstheorie mehr Lebensraum zu beanspruchen, indem die ökonomische Betrachtungsweise auch auf die Analyse anderer, nicht primär als ökonomisch einzustufende Bereiche ausgeweitet wurde. Dieser Sichtweise entsprechend hängt die Entscheidung des Kriminellen, die böse Tat zu begehen oder zu unterlassen, davon ab, ob er nach gründlicher Beratung mit sich selbst vom einen oder vom anderen den größeren Nutzen erwartet. Engagement in politischen Belangen erweist sich dementsprechend nur dann als sinnvoll, wenn sich damit auch Vorteile errechnen lassen; Bildungsbemühungen sind in ähnlicher Weise von Kosten-Nutzen-Überlegungen abhängig, im familiären Bereich führt diese Sichtweise zur Frage, ob Kinder eher als Investitionsgüter oder als Konsumgüter zu betrachten sind. Die Ambivalenz derartiger Theoreme zeigt sich darin, daß sie einerseits mit dem Nobelpreis honoriert (an Gary S. Becker 1992), andererseits aber des Imperialismus (vgl. Meier 1993, 39) geziehen wurden. Vor fünfzig Jahren sah sich Edgar Zilsel veranlaßt, die politische Ökonomie als die fortgeschrittenste unter den Sozialwissenschaften zu bezeichnen, obwohl er gleichzeitg der Ansicht war, daß "ökonomische Forschung stärker eigennützigen Interessen, politischem Druck und Wunschdenken ausgesetzt ist, als dies bei irgend einer anderen Wissenschaft der Fall ist" (Zilsel 1985, 189). Heute wirft Alfred Meier (1993, 39), selbst ein anerkannter Verteter des Faches, die Frage auf, ob die Ökonomie nicht eine Quasireligion sei und die Gemeinschaft der Ökonomen nicht sektenhafte Züge angenommen habe. Donald N. McCloskey stellt die heutige Ökonomie, gemessen an ihrer Arroganz, auf die Stufe moderner Medinzinmänner. "Ökonomen halten sich für die Physiker der Sozialwissenschaften. Aber sie haben keine Ahnung vom Vorgehen auf dem Arbeitsfeld der Physik, und die Physiker ihrerseits sind über den mathematischen Charakter der Wirtschaftswissenschaft erstaunt" (McCloskey 1991, 85). Doch diese und ähnliche Fragen sind bestenfalls Fragen, die das Selbstwußtsein der Ökonomen derzeit wohl nicht in der geringsten Weise zu beunruhigen vermögen.

Ein Blick auf den Zeitabschnitt, dem die Entstehung der soziologischen Handlungstheorie zugeordnet wird (nach Joas 1992, p.19 die Jahre zwischen 1890 - 1920), also der Zeitraum des Wirkens jener Autoren, die heute als die Klassiker gelten und somit als maßgeblich an der Entstehung eines soziologischen Kanons beteiligt betrachtet werden, zeigt recht deutlich, daß auch damals die Markierung von Grenzlinien der Soziologie zu ihren Nachbardisziplinen alles andere als einfach und unumstritten gewesen ist; nicht nur deswegen, weil sich die noch junge Soziologie mit Fragen beschäftigte, mit denen auch schon ältere Disziplinen befaßt zu sein glaubten. Mindestens ebensosehr fiel ins Gewicht, daß diese Nachbardisziplinen selbst, insbesondere die Nationalökonomie, die Geschichtswissenschaften und die Philosophie sich vor die Aufgabe gestellt sahen, ihre innerdisziplinären Auseinandersetzungen zu bereinigen und ihr jeweiliges Fach durch Erneuerung der Fundamente auf eine solide und nicht ohne weiteres anfechtbare Basis zu stellen. Die Ökonomen sahen sich gezwungen, in einem heftig geführten Methodenstreit Position zu beziehen. Die Historiker waren in jahrzehntelange Konflikte um die Anerkennung der Eigenständigkeit ihrer Disziplin und die ihr angemessenen methodischen Standards involviert. Der Philosophie erging es nicht besser, eine vereinheitlichende Klammer fehlte mehr denn je, Neuinterpretationen von Kant und Hegel konkurrierten mit Rückgriffen auf Aristoteles und den verschiedenen Bemühungen um eine lebensweltliche oder phänomenologische Neubegründung.

Auf diesem Hintergrund wird auch die damals offen vorgetragene Polemik gegen die noch junge Soziologie verständlich und ebenso die Vorsicht jener, die sich für ihre Fragestellungen interessierten, sich ihr auch disziplinär zuzuordnen.

Die Entstehungsbedingungen der Soziologie zu berücksichtigen scheint also eine unabdingbare Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis der Schriften jener zu sein, die dann später als ihre Klassiker bezeichnet worden sind. In ihren Werken, die auch als die konstitutiven Elemente eines soziologischen Kanons anzusehen sind, spiegelt sich ein doppeltes Bemühen: einerseits eine neue Forschungsperspektive zu begründen, dafür aber andererseits eine Form zu finden, die nicht von vornherein die Aversionen der Nachbardisziplinen provozieren muß. Was heute als Kanon gilt, ist zweifellos Ergebnis respektabler Forschungsaktivitäten aus den frühen Jahren der Konstituierung der neuen Fachdisziplin. Aber keineswegs nur das, denn der Prozeß des Bemühens um neue Erkenntnisse ist eingebettet in die Auseinandersetzung um Anerkennung und Ablehnung, verquickt mit Polemik und Gegenpolemik.

Recht deutlich zeigt sich dies in den Synthesen, in denen Talcott Parsons nicht nur die Gemeinsamkeiten verschiedener Autoren herauszustellen suchte. Wichtig ist dabei, worauf Charles Camic aufmerksam gemacht hat, daß die Selektion dieser Autoren sich am Kriterium der Akzeptabilität bei den Vertretern anderer Fächer, insbesondere denen der orthodoxen Nationalökonomie orientierte. Im Konflikt der 20er Jahre zwischen den Institutionalisten und den Orthodoxen läßt sich eine früh vorweggenommene Umkehrung der heute offensichtlichen Bestrebungen erkennen, soziale Phänomene ökonomisch zu erklären. Die Provokation bestand damals darin, ökonomische Phänomene letztlich einer soziologischen Erklärung zuzuordnen. Wenn nun die Theorie des rationalen Handelns "unbestritten den rationalen Kern der ökonomischen Disziplin" darstellt (Joas 1992, 11), so muß eine Infragestellung dieses Kerns auch die Daseinsberechtigung der Disziplin selbst in Frage stellen. Ebenso gilt umgekehrt: Mit einer Generalisierung der Theorie des rationalen Handelns steht auch die Soziologie zur Disposition, weil ihr ein spezifischer Gegenstand als Bezugspunkt abhanden kommt.

Die Tatsache, daß Parsons' Weg von den Institutionalisten über die orthodoxe Ökonomie zur Soziologie führte, läßt vermuten, daß er sich der Problematik, die damit entstehen muß, sehr wohl bewußt gewesen ist. Und weiters, daß im Hintergrund seines Bemühens, Konvergenzen bei Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Max Weber und Emile Durkheim herauszuarbeiten, auch die Absicht stand, jeder der beiden damals konkurrierenden Betrachtungsweisen sozioökonomischer Phänomene ihren eigenständigen Bereich zuzuordnen. Dies schien ihm möglich über eine Erweiterung des rationalen Handlungsmodells, das die Ökonomen zufriedenstellte, den Soziologen aber Existenzberechtigung und spezifische Arbeitsmöglichkeiten sicherte. Die wechselhafte Rezeption Parsons' und seine gerade bei kritischen Soziologen keineswegs unangefochtene Reputation läßt darauf schließen, daß die von ihm erreichte Balance einen Kompromiß darstellte, der es ihm erlaubte, Teile der institutionalistischen Ansprüche, allerdings anders etikettiert, zu bewahren und damit andererseits das rationale Handlungsmodell um zusätzliche Elemente anzureichern.

Diese besondere Art eines Nahverhältnisses von Soziologie und Ökonomie bei Parsons scheint kein Einzelfall zu sein. Denn offensichtlich gibt es Parallelen, zumindest starke Ähnlichkeiten bei Max Weber. Wie bekannt, ist er 1888 dem "Verein für Socialpolitik" beigetreten und repräsentierte dort gemeinsam mit Werner Sombart den linken Flügel dieses Kreises, der sich keineswegs nur zum Zwecke der Analyse zusammengefunden hat, sondern sich durchaus auch für die als notwendig erachteten Veränderungen der sozialen und politischen Verhältnisse einsetzte. Als Wissenschaftler vertrat Weber aber einen zusehends engeren Standpunkt, der das Kriterium der Wissenschaftlichkeit nur der wertfreien Analyse von ursächlichen Zusammenhängen vorbehalten wissen wollte. Sein Verständnis zweckrationalen Handelns stimmt mit dem Modell der rationalen Handlungswahl der Ökonomie weitgehend überein. Sein Insistieren auf der Wertfreiheit im wissenschaftlichen Arbeiten hindert ihn aber keineswegs, sich als Bürger zu engagieren, doch hat dies aus seiner Perspektive nichts mit Wissenschaft zu tun. Für die Konstitution des Bildes vom 'Soziologen' Max Weber dürfte dies jedoch nicht belanglos sein. Jedenfalls deuten Gottfried Eisermanns (1988, 18) Ausführungen in diese Richtung: "Weber fuhr indessen fort, sich souverän auf dem Gebiet der Soziologie im weitesten Sinne, der Sozialpolitik, der Staatslehre und der Politologie zu bewegen". Daß Max Weber keinesfalls zwischen einer Soziologie im "weiteren" und im "engeren" Sinne unterschieden hat, ergibt sich auch aus den weiteren Angaben bei Eisermann (a.a.O.): "Webers erbarmungslose Kritik an der älteren historischen Schule, wobei freilich im Hintergrund immer Schmoller steht, ohne beim Namen genannt zu werden, erstreckt sich stets nur, festgenagelt an den ungewaschenen Werturteilen, auf ihre erkenntnistheoretischen Mängel, ohne je ihre wirtschaftstheoretischen Auffassungen einzubeziehen". Die Berücksichtigung dieser Sympathie für die Wirtschaftstheorie der Kathedersozialisten bei ihrer gleichzeitigen Ablehnung aus erkenntnistheoretischen Gründen mag das Verständnis für den Bruch in Webers Denken und Tun erleichtern. Gleichzeitig dürfte hier auch die sachliche Grundlage für die Unterscheidung einer Soziologie im engeren und weiteren Sinne zu sehen sein, wobei nach Webers Konzeption den Status der Wissenschaftlichkeit zweifellos nur erstere für sich zu reklamieren berechtigt war. Diese zweipolige Grundorientierung bei Max Weber, die bei Parsons dann ihre Entsprechung findet, läßt sich auch als das Nebeneinander einer Parteinahme für das rationale Handlungsmodell (der Ökonomie) bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der wahlverwandtschaftlichen Bindungen zu deren Widerpart in der historischen bzw. institutionellen Nationalökonomie betrachten.

Die hier aufgezeigten Ambivalenzen scheinen, aus historisch verständlichen Gründen, die Kanonbildung in der Soziologie maßgeblich beeinflußt zu haben. Beeindruckende Theoriearchitekturen der Gegenwart, die sich an Parsons als Vorbild orientieren und seine Konzeption weiterzuentwickeln beanspruchen, tragen sicher ihren Teil bei zum heutigen Zustand der Soziologie, die von manchen als krisenhaft, von anderen jedenfalls als korrekturbedürftig beurteilt wird. Antworten auf die Frage, wie der Krise beizukommen ist, wie Veränderungen durchzusetzen sind, gibt es mehrere. Eine kann darin bestehen, in Unkenntnis der Geschichte vorschnell zu resignieren. Vorschnell insofern, als Unklarheit und daraus resultierende Unsicherheit der Geschichte des Faches immanent sind, aber die Klarheit und Sicherheit konkurrierender Nachbardisziplinen ebenfalls nur auf tönernen Füßen steht.

Eine andere Reaktion könnte darin bestehen, Mängel zu diagnostizieren und dann Leistungen anzukaufen, um ihnen entgegenzusteuern, wie das heute üblich ist. Es wäre beispielsweise möglich, eine Werbeagentur anzuheuern, um eine Imagekampagne zu inszenieren, Öffentlichkeitsarbeit zugunsten der Soziologie zu entwickeln, Wege zu einer Corporate identity aufzuzeigen, verschiedene Szenarien für eine stabile Implementierung und Ausweitung des Faches im akademischen Bereich zu entwerfen. Diese und ähnliche Aufgaben anderen zu übertragen, liegt durchaus auf der Linie eines Selbstverständisses, das sich für Analyse und Diagnose, für Information und Aufklärung zuständig hält, und alle darüber hinausgehenden Aktivitäten in den Vorraum der Unwissenschaftlichkeit verweist.

Eine weitere Möglichkeit besorgter Krisendiagnostiker bestünde darin, sich mit jener Perspektive anzufreunden, die im Sinne von Alain Touraine (1992, 535) den Akteur ins Zentrum soziologischer Überlegungen und Arbeitsweisen rückt. Auch Norbert Elias hat, ebenso wie andere Autoren, darauf hingewiesen, daß zwischen "Engagement und Distanzierung" keineswegs jene fatale Grenzlinie zwischen Unwissenschaftlichem und Wissenschaft verläuft, sondern Tun und Denken, Handeln und Theoriebildung sich gegenseitig bedingen und auch befruchten können. Einer in diesem Sinne verstandenen Soziologie ist durchaus zuzutrauen, jenes Minimum an Selbstmanagement realisieren zu können, das die Voraussetzung dafür ist, für andere in spezifischer und differenzierter Art und Weise von Nutzen sein zu können, was unter den gegenwärtigen Bedingungen doch, wie das Krisengerede zeigt, von manchen angezweifelt wird.

Das Wissen darum, daß nicht nur die Arten, sich zu kleiden, sondern auch die Arten des Denkens gewissen gesellschaftlichen Schwankungen unterworfen sind, vermag verschiedentlich geäußerter Krisenrhetorik ihre Spitzen zu nehmen. Denn solchen Konjunkturen ist nicht nur die Soziologie, sondern sind auch deren Nachbardisziplinen, mit denen sie seit ihren Gründerjahren auf durchaus noch klärungsbedüftiger Basis koexistiert, ausgesetzt.

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Adresse des Verfassers

Prof. Dr. Otto Nigsch

Institut für Soziologie der Universität Linz

Altenbergerstraße 69, A-4040 Linz