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Domestizierte Gewerkschaften

Einleitung (S. 5-9)

LKW-Fahrer und Umweltschützer, endlich gemeinsam !! (Teamsters and Turtles, together at last!!) - so zu lesen auf einem Plakat bei der großen Demo von Seattle im November 1999. Das Besondere: gewerkschaftlich organisierte Chauffeure der Arbeiterklasse marschieren Seite an Seite mit umweltorientierten Angehörigen der bürgerlichen Klasse, ein bisher in den USA nicht vorstellbares Ereignis.

Die letzten Jahre haben auch noch andere soziale Wunder mit sich gebracht: die Studenten von Harvard, der reichsten und elitärsten Universität des Landes, haben durch mehrere Wochen das Rektorat besetzt mit folgendem Ziel: für das Reinigungspersonal, die Angestellten der Cafeteria und das Überwachungspersonal angemessene Löhne durchzusetzen. Mit Unterstützung der Öffentlichkeit und der Gewerkschaftszentrale AFL-CIO ist dies auch gelungen.

In Kalifornien haben sich 1999 74.000 Angehörige der medizinischen Hauskrankendienste bei der Service Employees International Union (SEIU) eingeschrieben, was den größten Rekrutierungserfolg der Gewerkschaften seit den Streiks bei General Motors 1937 bedeutet. Bei diesen Diensten arbeiten vorwiegend immigrierte Frauen, die zu Minderheiten gehören, die bisher für nicht mobilisierbar galten und daher von den Gewerkschaften vernachlässigt worden sind.

Im gleichen Jahr haben in Las Vegas mehr als 30.000 in Casinos und Hotels Beschäftigte im Rahmen derHotel Employees and Restaurant Employees International Union (HERE) nach einem 6-tägigen Streik bessere Arbeits- und Lohnbedingungen durchgesetzt.

Ähnliche Kämpfe werden in anderen großen Komplexen durchgefochten, im Bereich der Dienstleistungen und der Tourismusindustrie, also im Kern dessen, was man als die "Neue Ökonomie" bezeichnet. Die Kultur der Solidarität, lediglich eine blasse Erinnerung in den Industriestädten des Nordens, ist im Begriffe, sich in den Städten des Südens wie Las Vegas, Los Angeles u.a. zu entwickeln. Ein wirkliches soziales Wunder.

In den Vereinigten Staaten passieren derzeit also wichtige Dinge. Handelt es sich dabei nach einem langen Schlaf um ein Erwachen der Gewerkschaftsbewegung oder um das letzte Aufbäumen eines Dinosauriers vor seinem Verschwinden?

Wir möchten hier dem Leser die Möglichkeit geben, das Rumoren in der amerikanischen Arbeitswelt selbst zu interpretieren. Man kann das, was sich da ereignet, mit gutem Grund zu den wichtigsten Ereignissen der letzten Jahrzehnte rechnen. Der Erfolg dieser Bemühungen, eine gewerkschaftliche Bewegung neu zu erfinden, ist keineswegs gesichert, doch sie finden auf jeden Fall viel Beachtung. Für die Presse und die im amerikanischen Volk verbreiteten Vorstellungen (l'imaginaire populaire) sind die USA in vielen Dingen den Westeuropäern überlegen: das höchste Niveau des Lebens, beste medizinische Versorgung, höchste Arbeitsproduktivität und Ähnliches. Solche Vorurteile dienen der Verbreitung des Neoliberalismus, der für die ganze Welt zum Vorbild werden soll. Doch beruhen sie, wie wir hier zeigen werden, weitgehend auf Illusionen. Was die Vereinigten Staaten tatsächlich von Westeuropa unterscheidet, ist das Fehlen des sozialen Schutzes (soziale Sicherheit, Kinderbetreuung, bezahlter Elternurlaub etc.), die Überanstrengung und eine skandalöse Ungleichheit, die über Normen abgesichert ist.

Diese besonderen Aspekte der amerikanischen Gesellschaft sind auch ein Ergebnis der historischen Schwäche der Gewerkschaften seit dem 2. Weltkrieg, die zu einer geschlossenen Organisation für bestimmte Arbeiter geworden sind, keineswegs aber eine breite Bewegung, welche die Arbeiterklasse als solche repräsentiert. Diese Schwäche hat auch den Neoliberalismus als hegemonialen Diskurs und die Dominanz des amerikanischen Kapitalismus in der übrigen Welt erst ermöglicht.

Da es in der neoliberalen Utopie keinen Platz für Gewerkschaften gibt, ist das Überleben einer Gewerkschaftsbewegung in den Vereinigten Staaten zu einem großen Problem geworden. Weil der amerikanische Kapitalismus und die Gewerkschaften eng miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, hat der Versuch, letztere ganz zu zerstören, zu einer bemerkenswerten Gegenoffensive geführt. Es steht also viel auf dem Spiel, nicht nur für die amerikanische Gesellschaft, sondern auch für den Rest der Welt.