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Domestizierte Gewerkschaften

1 Die amerikanische Sonderstellung (S. 11 - 39)

Die amerikanische Wirtschaftspresse arbeitet seit langem und hartnäckig daran, ein Glaubensgebäude zu etablieren, das aus dem Kapitalismus eine transzendente Realität macht. Dabei steht das im Vordergrund, was man als "neue Technologie", als "Informationsökonomie" oder als "e-business" bezeichnet, die alle auf intensivere Nutzung der Informationstechnologie im Unternehmen verweisen. Zahlreiche Übertreibungen hinsichtlich dieses Sektors, sowohl was den Umfang betrifft wie auch die Funktionsweise: "intelligente Arbeiter", "saubere Produktion", Leistung und hohe Renditen. Also eine "neue Ökonomie", welche die unangenehmen Seiten des Produzierens hinter sich läßt.

Doch das einzige, was diese sogenannte neue Ökonomie hervorbrachte, waren vor allem die Erzählungen über ihre neuen Erfolgsaussichten. Journale und Magazine verbreiteten heroische Legenden über die neue Milliardäre (Bill Gates von Mikrosoft, Steve Case von America Online, oder Jeffrey Bezos von Amazon.com), den Inkarnationen von Jugendlichkeit, Unternehmensgeist und Einfachheit, als den Charakteristiken dieser "neuen Ökonomie". Doch trotz der vielen aufgeblähten Wunderberichte bleibt die Tatsache, daß im Zentrum dieser Industrie der neuen Technologien die Ausbeutung nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeiter steht (s.12).

Vor dem Beginn der Rezession hat es in den Wachstumszentren wie "Silicon Valley" oder Seattle ein rasantes Ansteigen der Zahl der "Papiermillionäre" gegeben. Doch die große Mehrzahl der Beschäftigten gehörte nicht zu den gut Verdienenden. Der Erfolg von Amazon.com (Buchversand) beruht auf einem System der Distribution, das abhängig ist von Tausenden unterbezahlten und gewerkschaftlich nicht organisierten Beschäftigten, die in Eile verpacken oder gegen wenig Geld neue Bestellungen entgegennehmen.

Das Instandhaltungspersonal dieser neuen Unternehmen wird von anderen Firmen gestellt, die nur miserable Löhne zahlen, die kaum dazu ausreichen, eine Wohn- und Schlafstätte zu finanzieren. Zwar bezahlen diese neuen Unternehmen einigen Spitzenkräften gute Löhne, doch der Hauptanteil der Tätigkeiten liegt bei zeitlich begrenzt eingestelltem Personal, das von Firmen der Leiharbeit rekrutiert und auch entlohnt wird. Gutbezahlte Dauerangestellte sind eine Spezies, die am Aussterben ist. Von dieser Industrie der neuen Technologien geht ein erheblicher Druck aus auf den amerikanischen Kongress, um Gesetze zu beschließen, welche die Zahl der Arbeitsbewilligungen für qualifizierte Ausländer erhöhen. Dazu hat diese Industrie vor den letzten Wahlen im Jahr 2000 Dutzende von Millionen Dollar für Politiker bereitgestellt, die sich für die Erhöhung der Visa für Zeitarbeiter einzusetzen bereit erklärten. Das Ziel solcher Gesetze richtet sich auf die vertragliche Absicherung der sklavenartiger Abhängigkeit (servitude): zwar Möglichkeit zu arbeiten, doch nicht den Arbeitsplatz zu wechseln. Ein solches Gesetz sollte zudem eine Senkung der Löhne bewirken und die Bildung von Gewerkschaften dort verhindern, wo es bisher ohnehin kaum welche gegeben hat.

Unter dem Leitmotiv äußerster Knappheit (Prekarität) ist die "neue Ökonomie" in etwa zu einer Art Modell innerhalb des Modells geworden, zu einem Sektor, der sich selbst seine Regeln gibt, ohne sich an den Praktiken der Vergangenheit orientieren zu müssen. In diesem Sektor erhält das Prekäre den Status des Tugendhaften, und dies in einer Gesellschaft, in der ein Drittel der Lohnabhängigen (ca. 30 Millionen) nur vorübergehend oder teilzeitbeschäftigt ist, als Leiharbeiter, auch auf eigene Rechnung, und in der die bei Arbeitsüberlassungsfirmen Beschäftigten von 1,2 Mio. im Jahre 1990 auf 2,9 Mio. im Jahre 2000 gestiegen ist und 25% der seit 1984 geschaffenen Arbeitsplätze nur auf eine bestimmte Zeitdauer beschränkt bleiben.

Die "soziale Umwelt" der amerikanischen Arbeiter (S.16-25)

Der Neoliberalismus hat sich in den USA deswegen so erfolgreich durchsetzen können, weil er keinen institutionellen und politischen Widerstand gefunden hat, wie er anderswo gegeben ist. Die Kombination von einer institutionell schwachen Gewerkschaftsbewegung und einem beinahe nicht existierenden Sozialismus hat zu einer außerordentlich ungewohnten industriellen Gesellschaft geführt. Diese konkreten historischen Umstände waren mit ein Grund, ein "Modell" entstehen zu lassen. Oder anders formuliert, das Besondere der Vereinigten Staaten ist weitgehend dem Fehlen des gewerkschaftlichen Elementes zuzuschreiben, was dann dazu führt, seine symbolische Eliminierung zu ermöglichen und dem Rest der Welt ein gesäubertes amerikanisches Modell zuzumuten. Denn die neoliberale Sozialpolitik ist darauf ausgerichtet gewesen, die sozialen Strukturen zu untergraben. Das Individuum tritt symbolisch an die Stelle der Gesellschaft, während die Strukturen der öffentlichen Einflußnahme zerstört worden sind. Dargestellt als ein Teil des kulturellen Erbes oder als eine Form von stolzem Unabhängigkeitsstreben, ist der Individualismus in Amerika immer ein Teil jener Ideologie gewesen, welche der Isolation das Wort redet und soziale Solidarität entwertet. Dies umso mehr, als der Individualismus eines der vier Elemente des Programmes ist, dem der Neoliberalismus bei seinen sozialen Reformen folgt (neben Deregulierung, Dezentralisierung und Privatisierung). Der Individualismus ist eines der Elemente einer Gesamtheit von Praktiken, sowohl subjektiver wie objektiver Art, deren Rolle darin zu sehen ist, die wirklichen Individuen daran zu hindern, sich gegen die Macht der Unternehmen zu verteidigen, die auf den anderen drei Elementen beruht.

Wegen der relativen Schwäche von Institutionen, die den Staat und die Wirtschaft miteinander verbinden, hängt die Suche nach einer Arbeit immer von Informationen ab, die auf informellem Wege gewonnen werden (Familie, Freunde, private Netze). Diese Abhängigkeit von informellen Kanälen reproduziert die soziale Ungleichheit, führt zu rassischen und ethnischen Konzentrationen in der Arbeitswelt. So werden auch kleine Zuwächse an sozialem Kapital zu wichtigen ökonomischen Ressourcen (daher das Sprichwort: "das was zählt, ist nicht das, was du kennst, sondern wen du kennst").

Die amerikanischen Arbeiter haben sich ihren Weg auf einem geographisch weit verstreuten Arbeitsmarkt zu suchen, auf dem der Erwerb der Qualifikationen keineswegs strukturiert und systematisiert ist. Im Gegensatz zu Europa, wo die Staaten Programme der institutionalisierten Ausbildung finanzieren, muß der amerikanische Arbeiter alles an Ort und Stelle auf informelle und individuelle Art und Weise lernen, was dann auch nur in diesem einen Unternehmen anerkannt ist. Auch die Löhne werden dezentralisiert ausgehandelt, was dazu führt, daß Leute, die an verschiedenen Ort dieselbe Tätigkeit ausführen, recht unterschiedliche Löhne dafür bekommen.

Die große Faszination der amerikanische Modell beruht auf der Behauptung, diesem sei es in den letzten Jahrzehnten besser gelungen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Doch gibt es diesbezüglich einige Päzisierungen anzubringen. Zunächst zeitlicher Art: Im Jahrzehnt 1975 - 1985, als in Europa die Wirtschaft zurückging und die Arbeitslosigkeit stark anstieg, wurden in den Vereinigten Staaten 20 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Doch der Eindruck, hier handle es sich um eine Maschine der Arbeitsplatzbeschaffung, verändert sich, wenn man den Zeitraum 1979 - 1989 analysiert: hier war das Wachstum der Arbeitsplätze mit 1,7% noch immer über dem OECD-Durchschnitt, aber niedriger als in Australien (2,4%), Kanada (2%) oder der Schweiz (1,8%). Im Zeitraum 1989 - 1998 fiel die Rate in den USA auf 1,3%, während sie in Irland auf 3,7% anstieg, in den Niederlanden auf 2% und in Australien auf 1,4%. Zudem sind, wie schon bemerkt, die neu geschaffenen Arbeitsplätze in den USA oft prekär und jenseits der Normen (teilzeit, auf begrenzte Dauer, Leiharbeit etc.), mit weniger Sicherheit, niedrigeren Löhnen, mit geringeren Rechten auf medizinische Versorgung, Urlaub und Ausbildung. Seit 1980, dem Beginn des Niedergangs der Löhne, mußten viele eine zweite oder dritte Beschäftigung suchen, so daß 1999 5,9% der Beschäftigten (d.h. 8 Millionen) zwei oder mehr Arbeitsplätze hatten, meist teilzeit beschäftigt und schlecht entlohnt. Diese Tendenz wird sich weiter verstärken, weil sie mit dem starken Wachstum nachgeordneter Dienstleistungsbetriebe zu tun hat, deren Erfolg auf dem großen Umsatz, dem Einsatz neuer Technologien und den niederen Löhnen beruht. Hier wird viel Flexibilität verlangt, die man leichter erhält von Teilzeitbeschäftigten, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Die Beschäftigten von Imbiß-Ketten wie McDonalds sind zu 80% teilzeitbeschäftigt, andere Großfirmen definieren einfach die Kategorien um. So bei Wal-Mart (Supermärkte), wo man davon ausgeht, daß 28 Wochenstunden eine Vollzeitbeschäftigung sind. So kann kann man dort behaupten, daß 70% des Personals vollzeitbeschäftigt sei. Starbucks (Cafe-Kette) gibt an, 57% seines Personals arbeite vollzeitlich, mit 20 Wochenstunden, bei "the Gap" (Kleiderkette) gelten 30 Wochenstunden als Vollzeit-Job.

Außerdem sind die Zahlen über die Arbeitsplatzbeschaffung mit Vorsicht zu genießen, ebenso wie jene über die Arbeitslosigkeit. Zwar ist diese erstaunlich nieder gewesen, aber das war auch in anderen Ländern der OECD der Fall (Österreich, Niederlande, Norwegen, Schweiz). Zudem schätzt man, daß die Zahl der Inhaftierten in den USA (meist Arme, männlich, ethnischen Minderheiten angehörig) die Quote de Arbeitslosigkeit um 2% reduziert. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit wird also übers Gefängnis gelöst. Für die monatlichen statistischen Erhebungen gilt, das jede Person, älter als 16 Jahre, die in der vorhergehenden Woche eine Stunde oder mehr gearbeitet hat, nicht arbeitslos ist. Zudem ist zu bedenken, daß jeder nicht gewerkschaftlich organisierte Teilzeitbeschäftigte jederzeit ohne Vorwarnung gekündigt werden kann. Man kann also getrost behaupten, daß die Erfolgsmeldungen vom amerikanischen Arbeitsmarkt nicht so bedeutsam und nicht so außergewöhnlich wie vorgegeben sind.

Was die These der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse betrifft, die in den 60er Jahren vorgetragen wurde, so hat sich diese rasch wieder ins Gegenteil verkehrt, wenn man bedenkt, das bei 80% der beschäftigten Amerikaner die Löhne zwischen 1973 und 1995 (unter Berücksichtigung der Inflation) um 18% gefallen sind.

Beim Großteil der Amerikaner ist nicht nur der Geldwert der Beschäftigung gesunken, sondern auch die nicht-geldmäßigen Anteile des Lohnes (fringe benefits). So ist die Zahl jener, die über das Unternehmen krankenversichert sind, zurückgegangen, und die Zahl jener, die übers Unternehmen eine Pension beziehen, ist auf 49,2% gesunken. Die USA sind auch das einzige der 20 Länder der OECD, in dem die durchschnittliche Jahresarbeitszeit heute höher ist als vor 20 Jahren: in den anderen Länder durchschnittlich um 163 Stunden reduziert, in den USA um 61 Stunden höher als vor 20 Jahren. Der durchschnittliche Urlaub beträgt in den USA nur 16 Tage. Es gibt kein legales Recht, in der Arbeitszeit die Toiletten aufzusuchen und auch kein Recht auf Krankenurlaub, bezahlt oder nicht bezahlt.

Was die Unternehmen für ihre Beschäftigten tun, ist abhängig vom Arbeitsmarkt, dh. von der relativen Verfassung des Arbeitsmarktes zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und in einem bestimmten Berufszweig (attraktiv zu sein für Beschäftigte mit einer bestimmten Qualifikation). In gleicher Weise hängt dies auch von der Möglichkeit der Beschäftigten ab, sich zu organisieren und mit dem Unternehmen zu verhandeln. Das vorrangige Problem in den USA, aus dem sich dann die anderen ergeben, ist jedoch das System der Beziehungen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften als Partner, das die Unternehmen in erdrückender Weise begünstigt.

Eine dezentralisierte Organisation der Gewerkschaften (S. 25-34)

Für Dutzende Millionen amerikanischer Arbeiter ist die Mitgliedskarte bei einer Gewerkschaft das wichtigste Papier für eine wirkliche soziale Existenz. Denn im Gegensatz zu Europa, wo allen Beschäftigten eine minimale soziale Absicherung zusteht, gibt es so etwas in den USA nur für Mitglieder einer Gewerkschaft. So sind die Arbeiter in den großen Industriesektoren der Nachkriegszeit relativ gut abgesichert, doch nie so gut wie in Europa. Dabei besteht das Problem nicht im geringen Grad der Syndikalisierung (weniger als 14%), sondern vor allem darin, daß es in den USA ähnlich schwierig ist, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden wie in Europa der Erwerb einer Staatsbürgerschaft und auch deswegen, weil es nötig ist, seine Mitgliedschaft ständig zu verteidigen.

Während in Europa bei Betriebsschließungen der Staat für Sozialpläne sorgt, haben die amerikanischen Arbeiter in solchen Fällen wenig zu erwarten. Es gibt lediglich die Arbeitslosenversicherung, im allgemeinen für 13 Arbeitswochen. Erst seit 1998 haben die Beschäftigten das Recht, im Voraus über Betriebsschließungen informiert zu werden. Doch ist dies nicht die Regel, um Akte der Sabotage oder andere Manifestationen des Zornes zu verhindern.

Daher lobt Alain Greenspan die im Vergleich mit Europa und Japan geringen Kosten von Kündigungen. Er verweist dabei auf die "europäische Malaise", d.h. eine sozio-ökonomische Krankheit, bedingt durch eine kürzere Arbeitswoche, einen korrekten Mindestlohn, allgemeine soziale Absicherung, bezahlten Mutterschaftsurlaub und andere Sozialleistungen. Deswegen spricht auch Wall Street von der Eurosklerose, um jene zu beruhigen, die höhere Ansprüche stellen.

Die Situation der Amerikaner also: kein Mutterschaftsurlaub und keine Familienbeihilfen, teure Kindergärten, Armut ist stigmatisiert, wenn sie vom Staat eine Unterstützung verlangt, der kulturelle Bereich ist vollständig kommerzialisiert und privatisiert. Alles bewegt sich auf die Schaffung eines totalen neoliberalen Systems hin, dessen Botschaft lautet, "schwimmen oder ertrinken", von der Wiege bis zu Bahre.

Für die Betreuung de Kinder berufstätiger Mütter tut der Staat nichts, es bedarf auch hier der privaten Initiative. Daher die Millionen der "latch key kids" (sich selbst überlassene Kinder). Die Kosten für Kinderaufsicht sind nach Nahrung und Wohnung der dritte Ausgabeposten amerikanischer Familien. Daher geben Väter oder Mütter von Familien, die weniger als 2500 $ pro Monat verdienen, im Sommer oft ihre Arbeit auf, um die Kinder zu beaufsichtigen.

Kurz: die Unterstützung ist eher ein System der Repression als der Beihilfe und dient eher der Entmutigung der Leute als daß sie ein Anreiz dazu wäre, schlechtbezahlte Sektoren des Arbeitsmarktes zu verlassen. Dieses System lebt vor allem vom weit verbreiteten und öffentlich verkündeten Glauben, daß alle schwierigen sozialen Situationen selbst verschuldet, auf schlechte Einstellungen zurückzuführen sind. Daher ist eine unterbezahlt beschäftigte Person in den USA schlechter gestellt als eine arbeitslose Person in Europa. Der europäische Arbeitslose ist auch weniger stigmatisiert als der arme Arbeiter in den USA.

Mögen die Gewerkschaften in den USA auch institutionell schwach sein, so haben sie doch für die Arbeiter eine große Bedeutung: Gewerkschaftsmitglieder erhalten spürbar höhere Löhne, haben bessere Sozialleistungen und sind besser vor Kündigungen geschützt.

Generell betrachtet ist das System der kollektiven Verhandlungen und der sozialen Partnerschaft vollständig dezentralisiert. Überall wird separat verhandelt und werden tausende von gewerkschaftlichen Vereinbarungen abgeschlossen, die nur für die einzelnen Betriebe gelten. Die Zugehörigkeit zur Gewerkschaft ist also ein Status, den man nur für die jeweiligen Unternehmen erhält und auch verteidigt. Sie wird erworben, wenn eine Gruppe von Arbeitern an der Basis die Unterstützung von einer der 64 nationalen Gewerkschaften erhält und eine Mehrheit ihrer Arbeitskollegen dazu überreden kann, der Gewerkschaft beizutreten. Die dafür erforderlichen Wahlen werden überwacht vom National Labor Relations Board(NLRB). Sind diese Wahlen erfolgreich, so ist dann eine lokale Sektion einer nationalen Gewerkschaft berechtigt, im Namen der Beschäftigten als Partner mit dem Unternehmen zu verhandeln.

Daher sind die amerikanischen Gewerkschaften gezwungen, sich ständig neu zu organisieren und gegenüber der Gewerkschaftsfeindlichkeit der Unternehmer zu verteidigen. Soziale Vorteile, die Gewerkschaften aushandeln, gelten also nur für diese und müssen ständig wieder neu ausgehandelt werden.

Eine amerikanische Gewerkschaft ist also eine Struktur von Beschäftigen, die sich an ihrer Betriebsstätte zusammenschließen, um gemeinsam mit dem Unternehmen über Löhne, Arbeitsbedingungen und Konfliktlösungen zu verhandeln. Die Grundeinheit der gewerkschaftlichen Organisation ist die "lokale Sektion" auf der Ebene des Betriebes oder einer relativ kleinen Region, welche eine Filiale der nationalen Gewerkschaft darstellen kann. Es besteht immer die Abhängigkeit von einer der 64 nationalen (oder internationalen, wenn sie Kanada einschließen) Gewerkschaften.

Jede Gewerkschaft verhandelt nur mit einem Unternehmen und bewahrt hinsichtlich ihrer Organisation und politischen Ausrichtung eine gewisse Autonomie, wobei es keinen offiziellen Mechanismus der Koordination gibt. Daher kann es große Unterschiede im Lohn etc. zwischen den gleichen Kategorien (Alter, Geschlecht, Qualifikation) von Beschäftigten geben. Zudem ist es erforderlich, daß immer die Mehrheit der Beschäftigten eines Unternehmens, einer Kategorie von Beschäftigten oder eines industriellen Sektors bei der Gewerkschaft ist, damit diese in ihrem Namen verhandeln kann.

Es gibt daher diesseits und jenseits des Atlantiks zwei völlig unterschiedliche Vorstellungen von Gewerkschaft. In den USA vertreten die Gewerkschaften lediglich die Interessen ihrer Mitglieder in den einzelnen Unternehmen, nicht der Lohnabhängigen im allgemeinen wie in Europa. Die amerikanischen Gewerkschaften haben also ihre moralische Legitimität preisgegeben, die ihnen zustünde, setzten sie sich für die Verbreitung der sozialen Solidarität ein. Oder anders formuliert: sie haben schon sehr früh akzeptiert, allerdings nach langen politischen Kämpfen, darauf zu verzichten, im Sinne der Solidarität der Arbeiterklasse aktiv zu werden.

Dem Prozess der Gründung von Gewerkschaften sind immer gewisse Beschränkungen immanent: ein Wahlvorgang, der bürokratisch reglementiert ist. Dieses Modell wurde in den Nachkriegsjahren durchgesetzt, um den Militantismus der Arbeiter von den Arbeitsplätzen selbst fernzuhalten. So werden Konflikte systematisch kanalisiert, Auseinandersetzungen im Keim bürokratisch abgewürgt.

Wenn die Beschäftigten auf dem Papier auch das Recht haben, sich gewerkschaftlich zu organisieren, so lancieren die Unternehmen - vor allem die privaten - doch häufig aggressive Kampagnen, deren Grundlage Desinformation, Einschüchterung und juridische Manöver ohne Ende sind, welche die Militanten in einem Abnützungskrieg zu erschöpfen suchen. Selbst seit Jahren gut etablierte Gewerkschaften können plötzlich das Ziel von Aktionen der Destabilisierung werden ("union-busting"), um die Gewerkschaften auszulöschen. Diese funktionieren in den USA dezentral und nur auf sehr konfliktueller Grundlage. Dabei hat sich das Kräfteverhältnis in den letzten Jahren offensichtlich zugunsten der Unternehmen stark verändert.

Das Verschwinden des Arbeiters (S. 34-39)

Einer der Gründe, warum es schwer ist, über die Arbeitswelt und Gewerkschaftsbewegung in den USA zu schreiben, besteht darin, daß diese im sozialen Imaginären nur noch einen marginalen Platz einnehmen. Der Großteil der Leute interessiert sich nicht mehr für die Organisation der Arbeit, als Prozess und Faktor der sozialen Integration. Hierin ist eine wichtige Maßnahme des neoliberalen Sozialprojektes zu sehen, das im Endeffekt das symbolische und virtuelle Verschwinden des Arbeiters voraussetzt, und gleichzeitig, ebenfalls symbolisch, das Erscheinen des Konsumenten begünstigt, der nun zum höchsten Subjekt und Objekt der ökonomischen Praxis geworden ist. Oder anders: der Arbeiter (als sozialer Akteur mit identifizierbaren Interessen, die über eine Reihe institutioneller Vorgaben anerkannt wurden) ist nach und nach aus dem sozialen Imaginären "eliminiert" und durch die deutlicher sichtbare Gestalt des Konsumenten ersetzt worden (in dessen Namen eine Reihe historisch gewachsener Regulierungen beseitigt werden).

Diese Verschiebung findet ihren Ausdruck einerseits in einer inflationären Zunahme der Rechte des Konsumenten (Freiheit der Wahl, Möglichkeit von Krediten, Öffnungszeiten, Lieferung per Haus, d.h. viele überflüssige Einkaufserleichterungen), andererseits aber in der systematischen Auflösung der Rechte des Arbeiters (höhere Abhängigkeit, Lohnsenkung, Arbeitsüberlastung, Überstunden, Erosion des Streikrechtes, Antisyndikalismus der Unternehmer etc.). Also nicht nur zwei Bereiche, die sich verkehrt proportional entwickeln, sondern Bedingungen, die sich gegenseitig selbst verstärken. Oder einfacher: die Kehrseite der lockeren Erleichterungen des Einkaufens ist das ernste Gesicht der obligatorischen Flexibilität des Arbeiters.

Auf der anderes Seite sind die großen Handelsketten (wie Toys'R'Us, McDonalds oder Wal-Mart) im wesentlichen nicht anderes als Verkaufsfabriken im großen Maßstab; sie vertreiben zu geringsten Kosten Billigprodukte, hergestellt von einer unterbezahlten internationalen Arbeitskraft, dann verkauft von unterbezahlten, nicht gewerkschaftlich organisierten amerikanischen Angestellten, wobei der Verkauf selbst extrem rationalisiert ist. Wal-Mart, mit einem bereits höheren Umsatz als General Motors, ist zu einem Empire der Supermärkte geworden, das nicht nur Modell ist für andere Geschäftsketten, sondern gleichzeitig auch zur treibenden Kraft der Senkung der Arbeitskosten, und dies über den Druck, den Wal-Mart auf jene 65.000 Firmen ausübt, die ihm die Konsumgüter bereitstellen. Obwohl die vier Säulen der Erfolgs von Wal-Mart bekannt sind: aktuellster technologischer Stand - logistische Flexibilität - Abhängigkeit von importierten Gütern - und eine nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitskraft - so tragen die ersten drei Säulen nur dank der vierten Säule: der Fähigkeit, eine völlig unorganisierte Arbeitskraft zu manipulieren.

Als Antwort auf diese Situation hört man den bekannte Refrain: die Arbeiter sind in gleicher Weise auch Konsumenten: die Amerikaner profitieren vom Massenkonsum, den Wal-Mart repräsentiert. Obwohl die amerikanischen Arbeiter billig einkaufen können, erwartet man von ihnen daß sie immer noch billigere Produkte wünschen (hergestellt von immer noch billigeren Arbeitskräften), um ein Viertel-Jahrhundert Lohnstillstand zu kompensieren. Damit verpflichtet man sie als Konsumenten, direkt gegen ihre kollektiven Interessen als Arbeiter zu agieren, statt entsprechend entlöhnt zu sein, um angemessene Preise für Güter und Dienstleistungen bezahlen zu können. In den USA sind die Arbeiter in gleicher Weise auch Konsumenten in einem Ausmaß, daß man sagen kann, daß der Druck auf sie, mehr zu konsummieren, nahezu gleich brutal ist wie der Druck, dem sie am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Der Produzenten von Kreditkarten verschicken jährlich für 2,5 Milliarden $ Prospekte, überschwemmen die Briefkästen mit allen Arten von Broschüren und Katalogen, während die Verschuldung über Kreditkarten pro Familie bereits 7000 $ beträgt und die Zahl individueller Konkurse von 200.000 im Jahre 1980 auf 1,4 Mio. im Jahre 1998 sich erhöht hat. Darüber hinaus ist das Internet, die hochgelobte Autobahn der Informationen, zu einer gigantischen elektronischen Werbefläche verkommen, bereits wichtiger als die Werbung über die herkömmlichen Medien.

In dieser Zeit sind auch nach und nach alle sozialen Probleme aus dem offiziellen Diskurs verschwunden. Größere Themen wie Besteuerung, Regulation und Deregulation werden weitgehend vernachlässigt, bestenfalls wie technische Probleme abgehandelt. In den Massenmedien reduzieren sich Berichte über die ökonomische Gesundheit auf Informationen, die ähnlich der Sportberichterstattung die Veränderungen von "Dow Jones" und NASDAQ herunterleiern, obwohl 80% der Bevölkerung keine Aktien besitzen.

So ist es den Unternehmern gelungen, die Mittel der symbolischen Repräsentation völlig in die Hand zu bekommen, nicht nur deswegen, weil die gewerkschaftliche Bewegung nicht in der Lage gewesen ist, sich als ideologische Alternative zu präsentieren, sondern auch deswegen, weil diese sich in keiner Weise darum bemüht hat, in den letzten 50 Jahren als gewerkschaftliche Bewegung in Erscheinung zu treten. Sie hat sich vielmehr das pragmatische Image dessen zugelegt, was man als Gewerkschafts-Management (englisch:business unionism) bezeichnen könnte, das jedem Ausdruck von Solidarität entgegentritt, der als Bedrohung der bestehenden Ordnung interpretiert werden könnte. Zumindest ist es so bis 1995 gewesen: die konservative Gewerkschaftsführung AFL-CIO (seither abgelöst) hat sich für Finanzprofite interessiert und ist so unfähig gewesen, während zweier Jahrzehnte auf die Attacken der Unternehmer zu reagieren.

Die weltweit beherrschende Position amerikanischer Firmen hängt eng mit der Situation zusammen, die sie zu Hause vorgefunden hatten: ein gelehrige Gewerkschaft, die offen ihre Zustimmung gegeben hat zur industriellen Deregulierung, der Privatisierung der öffentlichen Dienste und einer Weltanschauung (Vision der Welt), in welcher der Markt über alle menschlichen Angelegenheiten das letzte Wort hat. Diese Firmen sind gewohnt, in einem von Zwängen freien Terrain zu agieren. Die "Freiheit", die sie verkünden und dem Rest der Welt aufzwingen wollen, beschränkt sich darauf, auch anderswo die gewohnten Bedingungen herzustellen, die es ermöglichen sollen, dort auch so große Gewinne zu machen wie zu Hause.