Soz.Ganymed.Org
Domestizierte Gewerkschaften

3 Bürokraten, "Autokraten", Militante und Intellektuelle (S. 81 - 108)

Im Gegensatz zu Europa ist es in den USA schwer vorstellbar, daß Gewerkschafter aus der Arbeiterklasse und Ökologen aus der Mittelklasse gemeinsam bei einer Manifestation auftreten. Denn dort gibt es keine sichtbar "rote" Gruppierungen, also kann es auch keine "rot-grüne" Allianz geben. Viele Amerikaner sind der Ansicht, daß die Arbeiter gegen die politische Linke sind, seit im Jahre 1970 sich mehrere hundert Bauarbeiter den Gegnern des Vietnamkrieges entgegengestellt haben.

In Seattle ist daher die Präsenz von Gewerkschaftern der Metallindustrie, der Flugzeugindustrie, der Transportarbeiter und aus anderen Bereichen ein wichtiges Ereignis gewesen, sowohl sozial wie auch symbolisch. Und dies, obwohl nur wenige Tage zuvor John Sweeney, der Präsident der AFL-CIO, ganz offiziell die Position des Patronates und des kommerziellen Projektes von Präsident Clinton vertreten hatte.

Im Augenblick, als offiziell entsandte Gewerkschaftsvertreter gegen die Welthandels-Organisation (WTO) marschierten, signalisierten deren höchste Repräsentanten ihre Unterstützung für diese Organisation. Es handelte sich dabei um eine pragmatische Politik, bedingt durch die prekäre Situation der Gewerkschaftsbewegung in der amerikanischen Gesellschaft: trotz ständiger Demütigung gezwungen, die demokratische Partei zu unterstützen, die immer offener von Kräften dominiert wird, die sich für neo-liberale Reformen einsetzen und die Gewerkschaften nur als arme Verwandte betrachtet.

Wenn man die Tragweite der Bedeutung einer Gemeinsamkeit zwischen LKW-Fahrern und Umweltschützern im Sinne eines sozialen "Wunders" begreifen will, so muß man berücksichtigen, mit welchen Mitteln die Unternehmer die Gewerkschaften unterdrückt und welche Grenzen diese selbst sich gezogen haben.

Die Gewerkschaftsbürokratie (S. 82-87)

Der Prozess der Bürokratisierung hat der Gewerkschaftsbewegung ein gewisses Maß an institutioneller Sicherheit gebracht. Stets im Ungewissen über die eigenen Chancen des Überlebens hat sie in der Nachkriegsordnung die institutionelle Absicherung akzeptiert, allerdings um den Preis, lediglich ein "subalterner" (untergeordneter) Partner zu sein.

In der Mehrheit der Gewerkschaften haben die Verhandler, Funktionäre und Juristen, das Heft in die Hand genommen und die Militanten sowie die Arbeiter an der Basis, die bei der Schaffung der Gewerkschaften oft eine bedeutsame Rolle gespielt haben, an den Rand geschoben. Gleichzeitig mit den neuen Personen sind neue Zuständigkeiten entstanden: die Organisation von Archiven, die Interpretation der Sprache der Verträge, ein Professionalismus in der Abhaltung von Versammlungen (kodifiziert unter dem Namen der"Roberts Rules of Order"), was die Marginalisierung der Arbeiter zusätzlich verstärkte, die lediglich noch auf dem "Schlachtfeld" von Nutzen sein konnten. Die Bezeichnung eines "Knopfdruck-Syndikalismus" ergibt sich aus der vorprogrammierten Beziehung einer Sozialpartnerschaft und spricht den Gegensatz zum Spontanismus der früheren Jahrzehnte an. Reformen wie automatische Beitragseinhebungen, obwohl an sich banal, waren symptomtisch für die Änderungen und hatten weitreichende Konsequenzen. Die Gewerkschaftsbeiträge waren vom Unternehmer vom Wochenlohn abzuziehen und der Zentrale zu überweisen. In gewisser Weise also eine einfache administrative Erleichterung. Dies war auch ein öffentliches Zeichen, daß die Unternehmer die Gewerkschaften akzeptiert hatten, ein Symbol des zwischen Patronat und Gewerkschaften abgeschlossenen Sozialvertrages.

Doch die automatische Beitragserhebung bedeutete auch, daß die Gewerkschaftsführung keine direkten und häufigen Kontakte mit ihren Mitgliedern brauchte. Dies implizierte gleichzeitig, daß die finanzielle Sicherheit der Gewerkschaft nicht mehr von den Regeln der Solidarität unter ihren Mitgliedern abhängig war. Weil die finanzielle Sicherheit der Organisation nicht mehr eine ständige Mobilisierung der Arbeiter nötig machte, begannen die Fähigkeiten der Mobilisierung generell zu verkümmern. Am Ruder waren nun Funktionäre, die sich mehr mit den Problemen beschäftigten, die sich aus den Bedingungen der Arbeit ergaben als mit den Arbeitern selbst. Die Gewerkschaftsmitglieder begannen nun ihre Gewerkschaften als "Dienstleister" anzusehen: gegen die Entrichtung von Beiträgen konnten sie die Erledigung ihrer Auseinandersetzungen besonders geeigneten Personen übertragen, die sich damit professionell beschäftigten.

Mit diesen Reformen änderte sich auch das Personal, das für die Gewerkschafen rekrutiert wurde. Während früher die Avantgarde der sozialen Kämpfe, welche die Lohnabhängigen gegen die Unternehmer mobilisierte, das Personal rekrutierte, so stellte nun ein "Business Agent" (Geschäftsführer), der vor allem mit der Verwaltung der bestehenden Verträge befaßt war, neue Leute ein. Während die romantische Figur des Gewerkschaftsführers in der Geschichte eine große symbolische Bedeutung hatte, schien der Geschäftsführer mehr ein Bürokrat zu sein, der professionell versiert ist und die Geheimnisse der juridischen Sprache versteht. In der Tradition der Berufsgewerkschaften besorgte der Geschäftführer den Unternehmern, z. B. den Baufirmen, das qualifizierte Personal, das er gleichzeitig limitierte, damit nur eine begrenzte Zahl begünstigter Personen Anspruch auf die Mitgliedskarte bei der Gewerkschaft hatte. Während der Rekruteur die Aufgabe hatte, "jene zu organisieren, die es noch nicht sind", ist der Geschäftsführer pragmatischer und weniger offen - zwei Merkmale, die für die Gewerkschaften der Nachkriegsjahre charakteristisch sind.

So sind die amerikanischen Gewerkschaftsführer, in der Formulierung eines ihrer Kritikers, zu "Verwaltern der Unzufriedenheit" geworden, z.T. auch deswegen, weil die Regulierung der Sozialbeziehungen ihnen kaum eine andere Wahl gelassen hat. Das Standardmodell der Streitschlichtung bestand darin, die Bereinigung von Konflikten räumlich, zeitlich und sozial von ihrer ursprünglichen Ausdruckform zu trennen, so daß die Bürokraten zu Hauptdarstellern eines Dramas werden konnten, das vom dramatischen Kontext losgelöst worden war.

Damit sind die Gewerkschaften riesige bürokratische Organisationen geworden mit enormen finanziellen Mitteln, die mehreren Kategorien unterschiedlich spezialisierter Beschäftigter in strenger hierarchischer Ordnung Arbeit gaben, wobei einige Gewerkschaften mehr als 1 Million Mitglieder hatten. Die wichtigsten sind gewesen: the International Brotherhood of Teamsters (Mehr als 2 Mio.), die United Auto Workers (1,35 Mio.), die United Steelworkers Union (1,2 Mio.), die International Brotherhood of Electrical Workers(980.000) und die International Association of Machinists (900.000).

Sie hatten Eingänge von mehreren Dutzenden Million $, wurden geführt von Leuten, die enorme Summen verwalteten und selbst zu den Verwaltungsräten großer öffentlicher und privater Organismen gehörten, hatten also oft ein den Firmendirektoren ähnliches professionelles Profil, mit denen sie an einem Tisch saßen und oft auch Golf spielten.

Jene Gewerkschaften, die sich nach dem Krieg am besten entwickelten, waren für gewöhnlich auch in jenen industriellen Sektoren, die für die amerikanische Industrie die wichtigsten waren (Auto, Metall, Elektronik); oder sie vertraten jene Arbeiter, welche in für die Wirtschaft wichtigen Schlüsselpositionen gewesen sind (Bergleute in Kohlebergwerken, LKW-Fahrer). Die Industriegewerkschaften, die mehr jenen von der CIO gegründeten glichen, wenn man von deren Radikalismus absieht, waren vollständig domestizierte Organisationen: sie hatten einen gewissen institutionellen Status erreicht, nachdem sie sich der Sprache und der Praktiken des Militantismus entledigt hatten, der es in der vorausgehende Periode erlaubt hatte, die Massen zu mobilisieren, also eine aktive Vereinigung gewesen ist und ein Syndikalismus, wo die Initiative meistens von unten nach oben gegangen ist.

Der "unsichtbare Mann" und der "Autokrat" (S. 87-92)

Die verschiedenen Typen von Führern, welche die Gewerkschaftsbewegung in der Nachkriegszeit hervorbrachte, entsprach in etwa den Merkmalen der entsprechenden Gewerkschaften. Auch andere Faktoren spielten noch eine Rolle: die Laufbahn des Führers, die professionelle Kultur des Bereiches, aus dem er kommt, der "Einfluß der Generation" jener Periode, während der er zur Gewerkschaft gestoßen ist, und die Umstände, die es ihm erlaubt haben, in eine Führungsposition nachzurücken. Unter der Berücksichtigung all dieser Umstände ist kaum anzunehmen, daß die Gewerkschaftsbewegung eine Menge couragierter und kreativer Personen hervorgebracht hat, die in der Gesellschaft auch Spuren hinterlassen konnten.

Bis auf ganz wenige Ausnahmen ist der amerikanische Gewerkschaftsführer immer ein "unsichtbarer Mann" gewesen. Die Unsichtbarkeit ist z.T. der Reflex der bürokratischen Struktur der Organisation und hängt mit seiner Verpflichtung zusammen, eine vorsichtige Politik zu betreiben. Oder anders formuliert, ein Gewerkschaftsführer ohne Stil ist in etwa dasselbe wie "Der Mann der Organisation" (3) bei den Führungskräften des Unternehmens: eine bürokratische Persönlichkeit ist jene, die sich durch nichts von anderen unterscheidet. In Kleidung, Verhalten und Ideologie zeigten sich die Gewerkschaftsführer als inoffensiv und berechenbar.

Es ist vor allem die müde Seite, die bei Lane Kirkland hervorstach, dem Präsidenten der AFL-CIO zwischen 1979 und 1995, der in dieser Zeit des rapiden institutionellen Niederganges der Gewerkschaft diese in der Öffentlichkeit inkarnierte. Kirkland, dessen Erfahrung als aktiver Gewerkschafter sich auf eine kurze Periode während des zweiten Weltkrieges beschränkte, war ein perfekter Bürokrat und ist von seinem Vorgänger George Meany, der die Gewerkschaften über 20 Jahre präsidiert hatte, eigens als Nachfolger ausgewählt worden. Bei seinem Amtsantritt war Kirkland nicht nur in der Öffentlichkeit unbekannt, sondern auch beim Großteil der Gewerkschafter, so daß das öffentliche Gesicht des amerikanischen Syndikalismus das eines gesichtslosen Bürokraten gewesen ist. Um so erstaunlicher, daß er 1995, als er aus dem Amt schied, kaum bekannter gewesen ist als 16 Jahre zuvor.

Andere Organisationen haben sehr unterschiedliche und offen autoritäre Führungstypen hervorgebracht. Und wenn eine Organisation autoritär geführt wird, so wird sie selbst zu einer Verlängerung seines persönlichen Stils. So sind Autokraten wie John L. Lewis und später Tony Boyle von der United Mine Workers of America, Jimmy Hoffa von der Teamsters Union und Josef Ryan von der East Coast Longshoresmen's Unionberüchtigte Personen gewesen, die dominierten durch ihre starke Persönlichkeit, ihre Unbeugsamkeit, ihre Anwendung des Prinzips des Nepotismus und insgesamt den Autokraten im politischen Bereich (dominante Bürgermeister in vielen Städten) zu verwechseln ähnlich waren.

Das Phänomen des "Autokraten" hat in der amerikanischen Gewerkchaftsbewegung eine lange Geschichte - die Fähigkeit, nichtdemokratische und auf Zwang beruhende Methoden anzuwenden, um die eigene Macht zu erhalten. Diese Macht diente häufiger der eigenen Machtgier als einer ideologischen Vision, in der Praxis lernten sie, die Dinge zu verwischen und die Korruption zu begünstigen. Es gab Fälle, in denen die Gewerkschaftsfinanzen, z.B. für Edward Hanley, Präsident der HERE über 25 Jahre, zur persönlichen Kasse des Autokraten wurden. Hanley war bekannt für seine politische Profillosigkeit und seine guten Beziehungen zu den Familien des organisierten Verbrechens. Mit Gewerkschaftsgeld kaufte er ein Flugzeug um 2,5 Mio. $ für seine persönlichen Bedürfnisse, richtete sich ein Büro in der Nähe seines Zweitwohnsitzes in Palm Springs (Kalifornien) ein und sorgte dafür vor, daß er im Ruhestand weiterhin einen Lohn von 300.000 $ hatte, zusätzlich zu drei anderen Pensionen und weiteren Altersvergütungen.

Doch auch bei Gewerkschaften, die auf nationaler Ebene demokratisch funktionierten, gab es Autokraten, die auf lokaler oder regionaler Ebene sich längere Zeit halten konnten. Erst vor kurzem ist bekannt geworden, daß 1999 Gus Bevona von seinem Posten als Ortsvorsitzender der 55.000 Mitglieder umfassenden Gewerkschaft des Gebäudepersonals von New York (Portiere, Reinigung, Lifte) demissionieren mußte. Bevona hatte sich einen Jahreslohn von 450.000 $ genehmigt, was für eine Gewerkschaft, die bei Reformen auf nationalem Niveau eine führende Rolle spielte, untragbar geworden war.

Ähnliche Praktiken sind besonders häufig bei den Baubranche, wo die Macht der Berufsgewerkschaft, historisch bedingt, darauf beruht, daß sie eine Monopolstellung bei der Kontrolle der lokalen Arbeitsmärkte hat. Dies bringt die Gewerkschaftsführung in eine starke Position - einmal den Unternehmern gegenüber, die qualifizierte Arbeiter brauchen, dann aber auch den qualifizierten Arbeitern gegenüber, die eine Gewerkschaftskarte brauchen, um regelmäßig arbeiten zu können. Diese starke Stellung macht es möglich, die eigene Position politisch abzusichern und jede Kritik im Keim zu ersticken. Der lokale Gewerkschaftsboß hat also lokal eine starke Stellung, die verwischt wird über eine entsprechende Pflege der Primärbeziehungen und das Fehlen jeder Art von formellen Regelungen. Weil die Unterschiede in Status und Lohnhöhe zwischen qualifizierten Arbeitern und Vorarbeitern ganz gering sind, ist der Übergang von einer Ebene auf die andere leicht möglich und weitgehend von persönlichen Beziehungen abhängig.

Im Baugewerbe haben die Gewerkschafter neben den kumpelhaften sozialen Umgangsformen auch einen "provinziellen" Habitus konserviert: in diesem Sektor spielen lokale Entscheidungsträger eine große Rolle, auch wenn mit öffentlichem Geld gebaut wird und die Quellen der Finanzierung weit entfernt sind.

Im Baugewerbe steigen die Gewerkschaftsfunktionäre über die Stufen ihrer Organisation auf und bedienen sich jener Methoden, die der Machterhaltung auf lokaler Ebene dienen und reproduzieren so den Stil der Direktion auf regionaler oder nationaler Ebene, wo weit größere Summen im Spiel sind. So kommt es im amerikanischen Syndikalismus nicht selten vor, daß sich Führungspersonen letztendlich mit feudalen Fürsten vergleichen lassen, die umgeben sind von lokalen Knechten, von denen die am nächsten Stehenden im allgemeinen zur Familie gehören und so in gewisser Weise eine "familiäre Dynastie" bilden.

Für die meisten der amerikanischen Gewerkschaften gilt folgende Beschreibung:

1. Ein großes Vertrauen in formalisierte Prozeduren eines sehr bürokratisierten Systems von Sozialpartnerschaft 2. Eine strikte hierarchische Struktur, die jede Initiative von der Basis her entmutigt 3. Geschlossene Netze der Kommunikation, die der Führung vorbehalten sind und deren Grundlage das stille Einverständnis ist, das dann zu gewohnheitsmäßiger Passivität und Ignoranz bei den Mitgliedern führt. 4. Demokratische Formen, die oft mit nicht-demokratischen gleichzeitig nebeneinander existieren 5. Ein Syndikalismus, der auf die Initiativen des Patronates reagiert statt selbst die Initiative zu ergreifen 6. Ein aggressiver Anti-Radikalismus, der oft praktiziert wird, um interne politische Opposition zu unterdrücken 7. Eine aktive Opposition gegen gewerkschaftlichen Militantismus, wobei es dazu gewisse Ausnahmen gibt, soferne die strikte Kontrolle durch die Gewerkschaftsführung gewährleistet ist

Eine Stimme in der Wüste (S. 93-97)

Die reformorientierte Führung, die 1995 die Leitung der AFL-CIO übernommen hat, wurde geleitet von John Sweeney, Richard Trumka und Linda Chavez-Thompson, nachdem sie bei der ersten kontroversiellen Wahl eines Gewerkschaftspräsidenten ein Oppositionsprogramm vorgestellt hatten. Schon allein das Faktum, daß die Wahl umstritten was, erwies sich als bedeutsam. Zuvor dachte man, Lane Kirkland würde seinen Posten behalten oder ganz einfach seinen Nachfolger ernennen, wie er selbst von seinem Vorgänger George Meany ernannt worden war. In den 40 Jahren, seit der Fusion von AFL und CIO 1955, hat die Föderation der Gewerkschaften, unter der ausschließlichen Führung von zwei Reaktionären aus den Zeiten des Kalten Krieges, alle internen Meinungsunterschiede unterdrückt. 1995 sah sich Kirkland bei der Wahl herausgefordert, eine Überraschung sowohl der Sache nach wie auch hinsichtlich der Ergebnisse.

Seit der Zeit Reagans ging die Zahl der Mitglieder zurück und wurde es schwieriger, neue anzuwerben. Doch John Sweeney begann, die Gewerkschaftsbeiträge bei der SEIU zu verdoppeln, um auf nationaler Ebene die Zahl der permanenten Funktionäre dieser dezentralisierten Gewerkschaft zu vergrößern (von 20 im Jahre 1984 auf 200 im Jahre1988). Unter den Neuen waren viele, die bei den Auseinandersetzungen der 70er Jahre sich an vorderster Front engagiert hatten. Sie brachten der SEIU aggressive und innovative Techniken der Organisation und suchten nach neuen Mitgliedern im Bereich der Dienstleistungen, der sich in voller Expansion befand.

Die SEIU war im Vergleich zu den anderen Gewerkschaften eine für Veränderungen viel offenere Organisation. Wie andere Organisationen im Bereich der nicht-qualifizierten Beschäftigten (Wäscherei, Hotellerie, Restauration) war auch die SEIU eine dezentralisierte Gewerkschaft, was es ermöglichte, daß lokal korrumpierte Führungsfiguren (wie Gus Bevona) und ein gewisser Grad an Radikalismus und organisationeller Innovationsbereitschaft gleichzeitig existieren konnten. So konnte die SEIU die von John Sweeney vorgeschlagenen Reformen umsetzen, indem sie die Kreativität bei der Mitgliederwerbung förderte und diese Aufgabe speziell den "Linken" anvertraute.

Die Erhöhung der Mitgliederzahlen bei der SEIU erlaubte es Sweeney, bei der Konvention der AFL-CIO von 1995 zwanzig andere Gewerkschaftspräsidenten (diese repräsentierten 56% der Wahlberechtigten) dahin zu bringen, Lane Kirkland zum Rücktritt zu zwingen und den designierten Nachfolger Thomas Donahue abzulehnen. Diese 21 Gewerkschaften stellten einen sozial-demokratischen Block dar, der etwas radikaler war als die anderen 80 Gewerkschaften (heute sind es 60). Wenn es ihnen möglich gewesen ist zu gewinnen, so z.T. wegen eines Parameters, der oft übersehen wird: der Situation der Outsider in den amerikanischen Gewerkschaften.

Man kann auf den roten Faden verweisen, der sich von den Miners for Democary, einer Gruppe von militanten Bergleuten, die sich Ende der 60er Jahre gegen die korrumpierte Führung der UMWA auflehnte, bis zur Wahl von Richard Trumka zum Präsidenten der UMWA und schließlich bis zu seiner Wahl als zweite Figur der AFL-CIO durchzieht. Ohne die Unterstützung der Teamsters for a Democratic Union, die sich schon lange gegen eine Führung auflehnte, die eng mit dem Patronat kooperierte, hätte Ron Carey nicht zum Präsidenten der Teamsters Union gewählt werden können. Obwohl Ron Carey nicht lange in diesem Amt verblieb, konnte er doch für John Sweeney und sein Wahlprogramm "New Voice" die zur Wahl nötigen Stimmen seiner großen Gewerkschaft beisteuern, die zu seiner Wahl nötig gewesen sind.

Auch andere Gruppen von Outsidern konnten, dank des Sieges von "New Voice", einen neuen Status erlangen: die Frauen, die farbigen Immigranten, rassische und ethnische Minderheiten, die alle zu den Kategorien gehören, denen der Zugang zu den Führungsstrukturen der meisten Gewerkschaften versperrt gewesen ist. Die Wahl von Linda Chavez-Thompson, der Präsidentin der AFCSME, in die Direktion der AFL-CIO wurde als symbolische Geste diesen Kategorien gegenüber betrachtet. Man registrierte vor allem, daß Gewerkschaften wie SEIU, HERE, District 19 (Spitalsangestellte) und UNITE (Konfektionsindustrie) viel Energie und Ressourcen dafür einsetzten, bei den bisher ausgeschlossenen und sozial stigmatisierten Kategorien neue Mitglieder anzuwerben.

Ein anderer wichtiger Parameter ist der Fall der Berliner Mauer und das Verschwinden der Sowjetunion gewesen. Diese Ereignisse öffneten einen Raum, in dem es möglich war, sich öffentlich gegen die Außenpolitik der Regierung zu äußern, was in den Zeiten des Kalten Krieges, als der Antikommunismus bewußt verwendet wurde, undenkbar gewesen ist. Mit dem Ende des Kalten Krieges verschwand auch gleichzeitig die früher praktizierte Selbstzensur, es wird wieder möglich, soziale Kritik zu äußern, dazu aufzufordern. Trotz dieser Öffnung (heute wieder durch den Krieg gegen den Terrorismus teilweise zurückgenommen) ist die amerikanische Gewerkschaftsbewegung stets unter der Führung von Männern und Frauen gestanden, deren subjektiver Horizont beschränkt geblieben ist durch die praktischen und institutionellen Grenzen, die sich aus dem System der sozialen Partnerschaft ergeben, das weitgehend von den Interessen des Patronates dominiert ist. Oder anders formuliert, die Gewerkschaftsbewegung ist in spürbarer Weise offener geworden, doch nicht an allen Fronten. Denn sie bleibt immer an die Realitäten einer typisch amerikanischen Konfiguration gebunden, in der soziale, ideologische und institutionelle Macht miteinander verbunden sind und daher aus dieser Konstellation sich ergibt, welche Praktiken autorisiert sind.

Zu einer neuen "Metaphysik des Syndikalismus" (S. 97-103)

Mit dem Niedergang der alten Berufsgewerkschaften der AFL und der wichtigsten Gewerkschaften der Produktion für den Massenkonsum haben die Änderungen an der Spitze der AFL-CIO die neue Macht jener Gewerkschaften aufgezeigt, deren Mitglieder im öffentlichen Bereich oder im Dienstleistungsbereich beschäftigt sind. Obwohl es wichtige Unterschiede zwischen den Gewerkschaften im Inneren einer jeden von ihnen gibt, so gehören doch die Gewerkschaften wie AFSCME, HERE, die United Food and CommercialWorkers (UFCW), die Communications Workers of America (CWA) und SEIU zu denen mit der größten Dynamik. Doch, wie wir aufzuzeigen suchten, befindet sich das reale Potential des Wachstums der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung weniger im Wachstum und der Entwicklung der einzelnen Organisationen als vielmehr in der Entwicklung des Raumes zwischen den Gewerkschaften.

Die Analysen des Syndikalismus konzentrieren sich für gewöhnlich auf seine äußeren Aspekte (Dimensionen, Struktur der Organisation, institutionelles Gewicht, Merkmale seiner Mitglieder etc.) und vergessen oder unterschätzen das, was er repräsentiert oder anregt (inspiriert). Und dennoch hängen die Macht und selbst die Wirksamkeit dieser Bewegung zu einem großen Teil von seiner Fähigkeit ab, auf etwas ihn selbst Übersteigendes (Transzendierendes) hinzuweisen. Oder anders formuliert, wenn er seine Ziele erreichen will, so muß er dazu in der Lage sein, sich über seine physische oder institutionelle Struktur zu erheben, und zwar Dank der Erzählung oder des "heiligen" Mythos, auf den er verweist, denn überall auf der Welt ist die Solidarität - eine äußerst starke und mit bemerkenswert transzendenten Qualitäten ausgestattete Thematik - der Eckstein des Gründungsmythos der gewerkschaftlichen Bewegungen. Unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Augenblicken können Demonstrationen der Solidarität in der sozialen Welt an mächtige spirituelle Kräfte erinnern (in den Gruppen, den kollektiven Aktivitäten und den verschiedenen Typen von Organisationen), die es gestatten, ein außerordentliches Maß an Desinteresse und kollektiver Identifikation zu realisieren. Dabei handelt es sich hier keineswegs um eine Tautologie, denn im Aufweis, daß das Unmögliche möglich ist, können die eindrücklichsten Manifestationen der Solidarität eine noch weiter reichende und kühnere Praxis der Solidarität anregen, besonders in einer sozial gespaltenen und atomisierten Gesellschaft.

Die Demonstrationen der Solidarität sind in der Lage, die soziale Welt durch einen Prozess der symbolischen Erhebung (Levitation) zu verzaubern, in dem jedes Ereignis, selbst ein sehr banales (eine Versammlung, eine Forderung, eine Vertragsverhandlung), sich plötzlich auf die Ebene des Heiligen erheben kann. Auf diese Art wird eine einzelne Stimme zu einem kollektiven Slogan, transformiert sich ein einzelnes Verlangen in eine kollektive Forderung, wird ein Streikposten zum Ort eines mächtigen moralischen Kreuzzuges. Es trifft zu, daß man früher den Ausdruck "Metaphysik des Syndikalismus" auch dazu verwendet hat, um blinde (linkslastige) Überzeugungen lächerlich zu machen; doch wir sind der Ansicht, daß er sehr wohl eine der wesentlichsten Dimensionen der kollektiven Aktion zum Ausdruck bringt. Man kann dessen Bedeutung auch daran ermessen, daß ein ganzes System industrieller Bürokratie in den Vereinigten Staaten nur deswegen aufgezwungen worden ist, um die mächtigen sozialen Energien zu zähmen, zu kanalisieren und zu neutralisieren, welche die Praxis der Arbeitersolidarität zu erzeugen vermochte. Gerade durch die Betonung, daß es möglich ist, die Veränderung im "Raum zwischen den Gewerkschaften" zu suchen, möchten wir der syndikalistischen Bewegung im sozialen und symbolischen Vokabular einen neuen Stellenwert zuweisen. Man kann so diesen Ausdruck in einem buchstäblichen Sinne verstehen: er spricht das Auftauchen und die Entwicklung der verschiedenen Typen der Organisation an, welche den Raum innerhalb der einzelnen Gewerkschaft, zwischen den Gewerkschaften und anderen sozialen Gruppierungen (Gemeinschaften, soziale Bewegungen, religiöse Organisationen etc.) und zwischen der Gewerkschaftsbewegung und anderen sozialen, bislang ausgeschlossenen oder ignorierten Gruppierungen (Immigranten, Frauen, Schwarze, ethnische Minderheiten) besetzen.

Ein Beispiel dafür könnte das Bemühen um die Revitalisierung der Struktur und der Praktiken der 600Central Labor Councils (CLC) sein, die es überall in den Vereinigten Staaten gibt. Die CLC sind lokale Föderationen lokaler Gewerkschaften (auf der Ebene der Stadt, des Bezirks oder der Region), welche die verschiedenen Berufsgruppen und die in einer bestimmten geographischen Zone repräsentierten Arbeitsplätze zusammenfassen (integrieren). Diese haben eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung der Arbeiter in den 30er Jahren gespielt, sind dann aber schließlich eingeschlafen; neues Leben erhalten sie durch die aktuellen Bemühungen, sie zu Zentren der intersyndikalistischen Solidarität und zu lokalen/regionalen Netzen der Zusammenarbeit zwischen den Syndikaten und gemeinschaftlichen Organisationen aller Arten zu machen. Das Projekt "Union Cities" ist eine Initiative der Föderation, die jenen CLC zusätzliche Ressourcen zukommen läßt, die ein Bündel spezifischer Ziele erreichen möchten und auch dazu in der Lage sind. Dazu gehören:

1. Eine Verpflichtung der CLC, ein Drittel der Ressourcen für die Rekrutierung zu verwenden, sei es durch Unterstützung bestimmter Gewerkschaften, sei es durch die Organisation von Rekrutierungsaktionen mit mehreren Gewerkschaften. 2. Die Organisation eines Programms der Art "Street Heat", d.h. eines lokalen Netzes einer "rapiden Antwort", das es erlaubt, die Angehörigen der Gewerkschaft via Telefon oder e-mail zu mobilisieren, damit sie in kurzer Zeit an Manifestationen und anderen kollektiven Aktionen, welche gewerkschaftsfeindliche Unternehmer oder Politiker unter Druck setzen sollen, teilnehmen können. 3. Druck auszuüben auf die lokalen Autoritäten, damit diese Maßnahmen ergreifen, welche das Organisationsrecht der Arbeiter garantieren, was es erlaubt, ein für die Syndikalisierung günstigeres Klima zu schaffen. 4. Eine bessere ethnische, rassische und feminine Repräsentation bei den Instanzen des CLC zu garantieren, um dem Syndikalismus ein öffentliches Gesicht zu geben, daß der sozialen Zusammensetzung der Arbeiterschaft besser entspricht.

Obwohl es das Projekt "Union Cities" noch nicht überall gibt, handelt es sich dabei um eine wichtige Entwicklung. Wie wir später noch (in Kap. 4) zeigen werden, hat dieses Projekt nicht nur auf geographischer Basis einen institutionellen Mechanismus geschaffen, der die Kooperation zwischen Gewerkschaften ermöglicht - eine Organisation, die auf lokaler Ebene eine zwischengewerkschaftliche Solidarität erzeugt, wie es sie in den letzten Jahrzehnten in den USA nie gegeben hat - sondern darüber hinaus auch zu einer Struktur geführt, welche die Gewerkschaftsbewegung, über die Grenzen der Arbeitsplätze hinaus, offen macht für die Gesellschaft als ganze.

Die Verbindungen, die sich nun zwischen gewerkschaftlichen Organisation und kommunitären Gruppen entwickeln, werden jetzt von jenen Kräften günstig aufgenommen, die aus der gewerkschaftlichen Bewegung hervorgegangen sind. Noch vor nicht allzu langer Zeit hat die Direktion der AFL-CIO ihr Unbehagen über alle Arten von Protestbewegungen geäußert, auch über das nationale Netz mit der Bezeichnung "Jobs with Justice", einem Netz von 30 Zusammenschlüssen auf lokaler Basis, das von nationalen Gewerkschaftsführern, die von der offiziellen Linie enttäuscht waren, begründet worden ist. In der Zusammenführung lokaler Sektionen der Gewerkschaft, von Quartier-Kommittees, kommunitären Gruppen/ Gruppierungen von Studenten, Umweltschützern und Frauen, die sich bei Streikwachen und Manifestationen anderer Gruppierungen engagiert hatten, haben die neuen Koalitionen von Gruppen ihre Fähigkeit der Mobilisierung in mehreren großen Städten wie Atlanta, Boston, Cleveland New York und Seattle unter Beweis gestellt.

Unbeeindruckt von diesem Wiederaufleben der Linkstendenzen bei den Arbeitern bleiben zahlreiche Führer und Mitglieder diesem neuen sozialen Militantismus gegenüber mißtrauisch und bisweilen auch feindselig; die Leitung der AFL-CIO muß ständig lavieren, um die Gewerkschaften nicht allzu sehr in die Nähe der sozialen Unruhen zu bringen. Ungeachtet dessen können die Koalitionen der "Jobs With Justice" mit dem stillschweigenden Einverständnis und der Unterstützung der nationalen Föderation rechnen und in bestimmten Regionen arbeiten diese Koalitionen offen und ohne Schwierigkeiten auf lokaler Basis mit dem offiziellen CLC zusammen, stellen Ressourcen und Personal einander zu Verfügung. Wenn man die bewegte Geschichte zwischen den Gewerkschaften und den Linken berücksichtigt, ist eine solche Zusammenarbeit im amerikanischen Kontext bemerkenswert.

Gleiches gilt für das, was man als Workers' Centers bezeichnet, einem andern Beispiel für neue Strukturen, die mit den historischen Trennungen zwischen der Welt der Arbeit und der Gesellschaft Schluß machen. Diese Zentren gibt es im Bereich der Konfektion, wo die Einschaltung von Subkontraktoren allgemein üblich ist, und die Beschäftigten von Tausenden von sweatshops (Schwitzbuden) in New York, Los Angeles und vielen anderen Städten, wo viel eingewanderte Arbeitskraft zur Verfügung steht, an den Rand des Ruins geraten sind. Diese Zentren sind kommunitäre Strukturen geworden, die den aus Asien und Lateinamerika eingewanderten Arbeitskräften eine Reihe von Vorteilen bieten. Obwohl die Workers' Centers von Gewerkschaftern gegründet worden sind, welche die Konfektionsarbeiter vertreten haben, sind diese Zentren unabhängig von den spezifischen Kampagnen der Rekrutierung und verfolgen das Ziel, in der Gemeinschaft der Immigranten einen weiteren Begriff des Syndikalismus zu verankern. Diese Zentren stellen den Beschäftigten diverse juridische und soziale Dienstleistungen zu Verfügung: Englisch-Kurse, Rechtsberatung bei Lohnkonflikten, die sich aus dem Immigranten-Status ergeben sowie wirtschaftliche und politische Bildung im Hinblick auf ihre Berufstätigkeit. Nach Jahrzenten, in denen die Führung der Gewerkschaften die Immigranten ignorierte und ihnen vorwarf, Löhne und Sozialleistungen der amerikanischen Arbeiter nach unten zu drücken, verfolgt die Direktion der AFL-CIO heute eine der immigrierten Arbeitskraft gegenüber weit offenere und freundlichere Linie; denn sie hat nun begriffen, daß diese Arbeitskräfte zur eigenen Erneuerung ein wichtiger Beitrag sind.

Die Rückkehr der Intellektuellen (S. 103-108))

Die Verbindung des Militantismus der sozialen Aktion und des Aufrufs zur gewerkschaftlichen Rekrutierung auf föderativer Ebene trägt langsam aber sicher dazu bei, der Repräsentation der gewerkschaftlichen Welt in der Öffentlichkeit ein neues Gesicht zu geben, und die Gestalt des Militanten ist dabei, jene des "Autokraten" und des Bürokraten in den Hintergrund zu drängen. Obwohl des Durchschnittalter des gegenwärtigen Präsidiums der AFL-CIO (62 Jahre) unverändert geblieben ist, und ihr soziales Milieu nicht verschieden ist von dem früherer Jahre (z.B. Bildungsniveau ist gleich geblieben), so kann man doch in der zweiten Reihe der Gewerkschaftsführung eine Änderung in der sozialen Laufbahn feststellen.

Als John Sweeney die Präsidentschaft der AFL-CIO übernahm, ließ er eine ganze Gruppe junger Militanter von seiner Gewerkschaft (der SEIU) kommen. Es sei daran erinnert, daß sich die SEIU von den anderen Gewerkschaften der Nachkriegszeit dadurch unterschied, daß es "Linke" für die Aufgabe der Rekrutierung einstellte. Viele von ihnen stiegen auf und wurden schließlich Bereichsleiter im gewerkschaftlichen Apparat der AFL-CIO, was zu einer sonderbaren Situation führte: die radikalsten linken Mitglieder der Gewerkschaften waren plötzlich eingeladen, nach einer Isolierung von einem halben Jahrhundert, bestimmte zentrale Posten in der Leitung zu besetzen.

Diese neuen Militanten sitzen auf Posten, für die sie eingestellt und nicht gewählt worden sind. In anderen Worten, sie haben keine lokale Hausmacht und sind vom Gutdünken des gewählten Präsidenten abhängig. Viele von ihnen sind der Gewerkschaft beigetreten nach intensiver Partizipation in den sozialen Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre (Antikriegsbewegung, Bewegungen für die Bürgerrechte, der Frauen und der kommunitären Aktion); sie kamen also mit reichlichen Erfahrungen aus sozialen Kämpfen, die dem Großteil der Gewerkschaftsangestellten und der Funktionäre völlig fremd gewesen sind. Mit der Aufgabe betraut, den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung umzukehren und zu diesem Zweck über beträchtliche Summen verfügend, schien diese Gruppe vielen Gewerkschaftern zu ungestüm und ihrer Sache zu gewiß zu sein. Diese Leute wurden auch, zum Teil zu Recht, als eine Interessengemeinschaft betrachtet: sie gehörten zu engen Freundeszirkeln, und weil es in den USA wenig linke Netze gibt, kam es nur selten vor, daß die Neuankömmlinge nicht von derselben Organisation her kamen, der SEIU.

Die Atmosphäre der Arroganz und der Komplizität, welche diese Leute um sich verbreiten, verdankt sich auch dem Faktum, daß diese Männer und Frauen ihre Studien an den besten Universitäten absolviert hatten und ihr besonderer Stil sie eher wie Aktienmilliardäre aussehen ließ denn als alte Gewerkschafter. Dennoch, für eine so lange vor sich hin dümpelnde Gewerkschaft können derartige soziale und stilistische Unterschiede aber auch sehr wohl eine große Quelle der Energie sein, eine Anregung, sich neuen Initiativen und neuen Partnern zu öffnen. Das scheint auch mit den Intellektuellen so zu sein.

Denn de facto sind sich Gewerkschaften und Intellektuelle näher gekommen, was als historische Initiative anzusehen ist, zumindest im amerikanischen Kontext. Seit 1995 haben die wichtigsten Führungsfiguren der AFL-CIO wie auch die Leiter einiger zentraler Bereiche im Inneren der Föderation (Abteilung für Rekrutierung, der militanten Mobilisierung, der politischen Aktion, Angelegenheiten der Gesellschaft und der Frauen am Arbeitsplatz) mit Gruppen von progressiven Professoren an den Universitäten des ganzen Landes Kontakt aufgenommen und versucht, die Beziehungen zu ihnen auf Dauer zu etablieren. Dieser Versuch einer Partnerschaft wurde 1996 und 1997 durch eine Reihe von gut angekündigten Konferenzen aufgenommen, wo Intellektuelle (vor allem Historiker und Philosophen) mit Führeren der Gewerkschaft zusammentrafen, mit John Sweeney und seinen jungen Militanten, die er in die Verwaltung geholt hatte. Die für diese wichtige Angelegenheit der Kollaboration angesprochenen Intellektuellen waren bekannt und vertraten kritische politische Positionen, ohne der Führung der Gewerkschaften gegenüber allzu feindlich eingestellt zu sein. In den vorangehenden Jahrzehnten war es sehr schwierig gewesen, wegen des tiefen Mißtrauens, tragfähige Beziehungen zwischen der Gewerkschaftsbewegung und den Intellektuellen herzustellen (Kalter Krieg, Vietnamkrieg, weitreichende kulturelle Differenzen etc.). Da sie außerhalb der Universitäten nahezu keinerlei Gehör fanden, hatten die Intellektuellen in den Vereinigten Staaten keinerlei bemerkenswerten kulturellen oder sozialen Einfluß. Ironie der Geschichte: es war die Gewerkschaftsbewegung selbst, welche diese Initiative ergreifen und die Bildung von Gruppen von Intellektuellen anregen mußte, mit denen sie freundschaftliche Beziehungen anknüpfen konnte.

In der Folge haben dann universitäre Linke Scholars, Artists and Writers for Social Justice (SAWSJ) gegründet, eine Gruppe, die der universitären Linken ein institutionelles Gehör verschaffte und es möglich machte, ihre Unterstützung der Welt der Arbeit auf nationaler Ebene zum Ausdruck zu bringen. Sie wurde dazu ermutigt, ja geradezu gedrängt durch die Führung der AFL-CIO, welche es als notwendig erachtete, bei Studierenden und universitären Militanten Sympathisanten zu finden. Ähnliche Bemühungen gab es von den Vertretern hoher Funktionäre, die von der Abteilung für Rekrutierung der AFL-CIO gekommen waren und mit universitären Gruppen das Gespräch aufzunehmen suchten. Um bei den Professoren der Soziologie (deren Studenten in großer Zahl bei den Gewerkschaften als Rekruteure aktiv waren) besser präsent zu sein, hielten Funktionäre der AFL-CIO Vorträge und trafen sich mit Soziologen bei deren jährlichen Versammlungen. Vor der Wahl von Sweeney wäre eine solche Präsenz bei universitären Konferenzen etwas sehr Unwahrscheinliches gewesen. Gleichzeitig ist es nötig geworden, um diese Konferenzen für die Öffentlichkeit attraktiv zu machen, ein Netz von Soziologen mit gewerkschaftlicher Sensibilität zu schaffen. Die Vertreter der Gewerkschaftsbewegung haben derartige Bemühungen ermutigt und sich so an der Bildung von Gruppen beteiligt, die sie dann später selbst unterstützen konnten.

Der Stellenwert, den die Gewerkschaft diesen neuen Verbindungen beimißt, ist ein Ausdruck des gewerkschaftlichen Willens, eine Bewegung zu werden. Während frühere Generationen der Führung für Intellektuelle und militante Linke lediglich Verachtung übrig hatte, wegen des tiefen Grabens, der die jeweiligen Kulturen und die damit verbundenen Erfahrungen voneinander trennten, kommt die neue Führung damit besser zurecht, weil sie mit ihnen dasselbe kulturelle Kapital und die gleiche Erfahrung des sozialen Kampfes teilt, was sie zu Trägern der "heiligen Erzählung" werden läßt.

Doch seien wir klar. Es ist richtig, daß sich die gegenwärtige Gewerkschaftsführung in Amerika von der früheren unterscheidet, doch dies bedeutet keineswegs, daß sie den fundamentalen Neoliberalismus des amerikanischen Kapitalismus offen herausfordern kann oder will. Aber, mögen auch die politischen Positionen der Föderation auf nationaler Ebene wenig von dem abweichen, was sie historisch immer gewesen sind, so bietet doch die gewerkschaftliche Praxis der Basis, ein wirklicher Akteur zu Konkretisierung der sozialen Macht, ein viel komplexeres Bild.