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Michel Malherbe, BACON, in: Michel Blay/Robert Halleux, La science classique, Paris 1998, S. 187 - 194
Francis Bacon stirbt 1626, mit 65 Jahren, nachdem er im Winter mit Konservierung von Fleisch durch Kälte experimentiert
hatte. Dennoch wäre es gewagt, ihn als Opfer der Wissenschaft zu betrachten.
Zunächst Advokat, dann Abgeordneter, rascher Aufstieg unter Elisabeth I.. (Lordsiegelbewahrer 1617), im folgenden Jahr
Lordkanzler unter Jakob I., verjagt und verurteilt 1621, also nie ein Mann der Wissenschaft im eigentlichen Sinne.
Dennoch, sowohl als Politiker und Philosoph, ist er stets ein beachtlicher Promotor der Wissenschaft gewesen.
Bereits in jungen Jahren verlangt er von Elisabeth, die Krone möge sich um folgende vier Anliegen kümmern:
- Aufbau einer möglichst vollständigen Bibliothek, die alles je Geschriebene enthält
- ein geräumiger Garten mit allen Pflanzen und allen Tieren
- ein großes Museum mit allen Kunstschätzen
- ein Laboratorium mit allen Instrumenten zum Experimentieren und zur besseren Kenntnis der Natur
In den späten Jahren verfaßt er „Das neue Atlantis", ein unvollständig gebliebener, im ganzen 17. Jhdt. vielbeachteter Text:
eine utopische Gesellschaft, in der die Wissenschaft sowohl das Ziel der Bürger wie auch das Prinzip der sozialen
Organisation ist, auf der Grundlage der wissenschaftlichen Methode und Bedingung des Friedens unter den Menschen.
1620 erscheint das Novum Organon, gedacht als Ersatz für das aristotelische Organon, um für die neue moderne Zeit eine
neue Logik zur Verfügung zu stellen.
Wenn Bacon ein Förderer der Wissenschaft ist, so fragt sich: welcher Wissenschaft? Mit seinem Namen verbindet sich kein
besonderes Theorem und keine große wissenschaftliche Entdeckung. Er kannte Kopernikus und Galiläi, blieb aber ein
Anhänger des Geozentrismus. Er bezieht sich auf Tycho Brahé, aber ignoriert Kepler. Trotzdem, die junge Royal Society
beruft sich bei der Gründung 1660 auf ihn und erklärt ihn zum Begründer der experimentellen Philosophie. Seine
Reputation, durch den Aufstieg Newtons beeinträchtigt, wird wiederbelebt durch Diderot und die frz. Encyclopädisten. Das
Novum Organon inspiriert noch die empiristische Wissenschaftstheorie des 19. Jhdts.
Daher stellt sich die Frage nach seinem Einfluß: ist dieser mehr ideologischer Natur? Hat Bacon die Wissenschaften
gefördert oder behindert oder ist er irrelevant? Viele vertreten heute die Meinung, dass Bacon noch eine sehr unreife und
infantile Vorstellung von Wissenschaft hatte. Sie betonen dies so sehr, dass man darin selbst eine ideologische Reaktion
erkennen kann.
Man muß also die Dinge von Grund auf neu ordnen. Das Werk Bacons hat zu einer Art von Wissenschaft geführt, die man
als Baconismus bezeichnet. Ein großer Denker ist immer für seine Nachwelt verantwortlich, doch diese findet bei ihm
jeweils das, was ihr grad für wichtig erscheint. Es gibt sicher einen beträchtlichen Bruch zwischen dem Werk Bacons und
dem Baconismus, der sich oft von der unmitelbaren Praxis seiner Arbeit dispensiert. Dieser Verrat an seinem Werk zeigt
sich sehr bald, besonders bei den entschieden Modernen, die nach 1660 mit dem politischen, religiösen und
wissenschaftlichen Erbe ihrer Vorgänger brechen wollen. Unter der Restauration Karls II. bilden sie, ganz nach den
Vorstellungen Bacons, eine Gesellschaft der Wissenden (unter ihnen: Wilkins, Boyle, Newton, Locke etc.).
Diese neue Philosophie der Natur der Royal Society sollte experimentell und mathematisch sein. Die Royal Society arbeitet
an einer Naturphilosophie, die experimentell und mathematisch sein soll; sie akzeptiert den Mechanismus und baut auf ihm
mit Hilfe neuer mathematischer Instrumente die Dynamik auf; sie akzeptiert schließlich das Wesentliche der Korpuskularen
Theorie.
Bacon hingegen weist der Mathematik eine Hilfsfunktion zu; er vertritt, nachdem er sich schon in seiner Jugend vom
Atomismus distanziert hatte ein chemisches Verständnis von Natur, weitgehend im Anschluß an Paracelsus, er entwickelt
weiter eine qualitative Physik, die von der neuen Wissenschaft definitv verworfen wird. Man wiederholt einige seiner
Experimente und verändert die Ergebnisse. Dennoch beruft sich die neue Gesellschaft auf seine Schutzherrschaft und
bedient sich einer Sprache, die baconistisch zu sein scheint. Übernimmt die neue Generation aber auch seine neue
Methode? Der Zentralbegriff seiner Methode, die Induktion, verschwindet bei den Neuen.
Das induktive Schema bei Bacon:
1) Zunächst eine möglichst große Sammlung von Fakten (Dingen)/Phänomenen (über die Geschichte der Natur), nicht aus
Neugierde, sondern um Ursachen zu erkennen; diese sind dann in Tafeln/Übersichten zu ordnen; von diesen Tafeln aus
sind gegebene/nicht vorhandene Merkmale und Qualitäten zu korrelieren.
2) Auf einer solchen Grundlage ist dann die Regel der Gewißheit (certitudo) und der Freiheit anzuwenden, die es erlaubt,
ausgehend vom Besonderen zum Allgemeinen zu kommen, von den Wirkungen (Phänomene) zu den Ursachen, von der
kontingenten Erfahrung zu den notwendigen Gesetzen.
3) Mit derartigen Entdeckungen läßt sich die ursprüngliche Erfahrung bereichern, lassen sich für das menschliche Leben
nützliche Dinge tun und wird das Allgemeine und die Notwendigkeit der Ursachen zugänglich.
Die Royal Society übernimmt von Bacon die experimentielle Geisteshaltung (gegen spekulative Hypothesen), sie
begünstigt ebenfalls die Naturgeschichte, doch gibt sie den Kern der Baconschen Methode preis, den Prozeß des Erfindens.
Dies aus einem einfachen Grund: Bacon will die Theorie erfinden ausgehend von der Empirie, und diese Theorie soll
gleichzeitig eine Kenntnis der realen Ursachen der Natur sein; der mathematische Kalkül hingegen, welchen die Royal
Society vertritt führt abstrakt zum Allgemeinen und Notwendigen, indem an die Stelle der Dinge nur Zeichen gesetzt
werden, an die Stelle physischer Handlungen ein Kalkül der Zeichen tritt; das Experiment ist zunehmend theoriegeleitet,
und das Bemühen um Verifikation tritt an die Stelle der Bemühung um die Entdeckung. Was die Suche nach den realen
Ursachen der Phänomene und der Eigenheiten der Natur betrifft, so ist eine solche nicht mehr unabdingbar für den
Fortschritt der Erkenntnisse. Die moderne Wissenschaft begibt sich daher auf einen Weg, der dem Denken und der
Methode Bacons fremd ist.
Dennoch beruft man sich fortwährend auf Bacon. Und wenn im 18. Jahrhundert Didero und Buffon den formalistischen
Charakter der mathematischen Physik kritisieren, so übernehmen sie spontan das baconsche Erbe. Es ist als nötig, sich
eingehender mit der Definition des wissenschaftlichen Projektes von Bacon zu befassen.
Zuvor jedoch die Hauptvorwürfe gegen Bacon:
- er hat keine großen Entdeckungen gemacht,
- er hat sich oft getäuscht.
Dennoch zeigen sich in seinem Werk, neben offensichtlichen Naivitäten, außerordentliche Einsichten, zum Beispiel diese:
"Wenn man einen hellen oder sternbesetzten Himmel sieht, wird er gesehen zur Zeit, wenn dieser Himmel wirklich
existiert oder mit einer zeitlichen Verzögerung"? Gibt es dann nicht eine wirkliche Zeit und eine scheinbare Zeit, wie dies
die Astronomen in ihren Paralaxen aufzeigen?
Anhand dreier bemerkenswerter Beispiele (hier im Detail nicht angeführt) ist das Denken Bacon näher illustriert:
1) Überlegungen zum Phänomen der Wärme
2) Studien über Ebbe und Flut
3) Überlegungen zur Verlängerung des Lebens
Diesen Beispielen, die von großer Hellsichtigkeit zeugen, könnte man entgegenhalten, daß Bacon die neue Wissenschaft
nicht begriffen hat und sein Werk die erwähnenswerteste Sackgasse darstellt, während sie im Entstehen begriffen ist.
Die neue Naturphilosophie der klassischen Periode behandelt die Bewegung als eine Beziehung zwischen Körpern, als
abstrakte und mathematisch bestimmbare Beziehung; daher muß sie entweder das Ausgedehnte als das Wesen der Materie
betrachten oder die Korpuskulartheorie akzeptieren.
Als zusätzlich experimentelle verweist die Naturphilosophie auf die Sinneserfahrung zur Verifizierung der Thesen oder der
theoretischen Selektion, doch dabei phänomenalisiert sie die empirischen Gegebenheiten in einer Art, daß sie
paradoxerweise den Sinnen die Entscheidungsvollmacht zwar zuschiebt, ihnen gleichzeitig die Fähigkeit abspricht, über
das Wesen der Dinge Aussagen zu machen. Diese Entwicklung findet statt/vollendet sich nach Bacon, doch dieser
antizipiert sie irgendwie, und indem er sie antizipiert, weist er sie zurück: Eine derartige Naturphilosophie läßt die Physik
in Vergessenheit geraten.
Es scheint, daß eines der bestimmenden Motive im Denken Bacons die Reflexion über den Fortschritt der Astronomie
gewesen ist. Der Kanzler verkennt nicht die kopernikanische Revolution, in gewisser Weise schreibt er ihr eine
entscheidende Rolle zu. Doch wirft er ihr vor, daß sie nichts anderes (im Gegensatz zu Ptolemäischen Astronomie) liefert
als ein geometrisches Modell, das heißt eine freie Konstruktion des Geistes, von der man nur verlangt, daß sie die
Phänomene rettet, mit astronomischen Befunden und mit dem Anschein des Himmels übereinstimmt. Es handelt sich also
um einfache rationelle Fiktionen, die ungeachtet der systemischen Komplikationen ebenfalls den Phänomenen Genüge zu
tun vermögen. Doch nach Bacon steht eine solche Methode im Widerspruch zum Geist der Wahrheit, denn sie bemüht sich
nicht darum, sich mit den Dingen selbst auseinanderzusetzen. Denn die Dinge, als physische Entitäten, haben weder ein
mathematisches Wesen noch eine empirische Natur. Nach der Wahrheit suchen heißt, die Ursache der Phänomene in der
Natur selbst der Dinge zu suchen. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen:
Die erste betrifft die Mathematik:
Man hat die Bedeutung unterstrichen, die ihr Bacon zumißt. Er bestreitet nicht die Notwendigkeit, ihr eine Funktion der
Präzisierung und der Determination zuzuerkennen. "Viele Teile der Natur lassen sich nicht mit ausreichender Genauigkeit
erkennen und aufzeigen ... ohne Zuhilfenahme der Mathematik" (in: Advancement of Learning, 1605).
Diese Genauigkeit braucht es auch in der Geschichte der Natur (das Maß). Eine solche Perfektion zieht die Mathematik aus
ihren Abstraktionen. Wenn Bacon 1605 den Schluß zieht, daß die Mathematik ein Teil der Metaphysik ist und daß die
Quantität eine der wesentlichen Formen der Dinge ist, eine Form, die Wirkungen zeitigt, so führt er sie 1623 (in: de
Dignitate et augmentis scientiarum) auf die Rolle einer Hilfswissenschaft zurück: Sie nützt der Präzisierung; vorallem ist
sie nützlich im operativen Teil der Wissenschaft, wenn es darum geht, aus dem Wissen über die Natur ein Vermögen zur
Transformation der Dinge abzuleiten, zur Verbesserung der Bedingungen des menschlichen Lebens beizutragen. De facto
muß man aus der physischen Erkenntnis die genauere Ordnung der mathematischen Formen ableiten, statt mit der
Konstruktion geometrischer Vorstellungen (wie in der Astronomie oder der Optik) zu beginnen. Ausgehend von den
empirischen Gegebenheiten, die ebenfalls sinnlich erfaßbare Phänomene sind, muß man mittels der induktiven Methode die
wirklichen Ursachen dieser Phänomene erfinden ( frz. inventer) und dann erst zu den mathematischen Formen greifen, aber
immer gemäß einer physischen Notwendigkeit.
Bacon liefert nur die Rudimente dieser "wahren Physik". Man hat zeigen können, daß er sich dabei einerseits auf eine
himmlische Bewegungslehre stützte, die er von Alpetragius, einem arabischen Astronomen des 12. Jahrhunderts
übernommen hat, andererseits aber auf eine chemische Doktrin von Paracelsus, die er modifiziert hat; mit Hilfe dieser
beiden Anleihen, die er aufeinander abstimmte, konnte er eine breite Kosmologie aufbauen:
Die Materie existiert in zwei Formen: als tangible und pneumatische, dichte und dünne, passive und aktive
Die pneumatische Materie (die Geister) hat eine doppelte Existenz: gebunden an die tangible Materie oder in freiem
Zustand.
Die tangible Materie und die gebundenen Geister bilden den irdischen Globus.
Die reinen Geister bilden den Rest des Universums.
Die tangible Materie ist ebenfalls von doppelter Art .
Mit einer derartigen Lehre, die von einfachen chemischen Ursachen ausgeht, glaubte Bacon, die geozentrische Ordnung der
Welt und die Bewegung der Himmelkörper erklären zu können, ebenso die Winde und die Gezeiten des Meeres, die
Phänomene des Lebens und des Todes....
Sicher eine fremdartige Lehre, in der sich die neue Wissenschaft nicht wiederfindet. Doch sie findet darin deswegen nicht
wieder, weil sie die Methode der Himmelsmechanik verallgemeinert hat zum Studium aller Bewegungen und damit auf
Forschung im Sinne Bacons ganz verzichtet, was in baconschen Begriffen gleichzeitig eines Verzicht auf die Physik
bedeutet.
Die neue Wissenschaftskonzeption hat einen bemerkenswerten Preis: die Mathematik führt nur zu Ahnungen und einer
phänomenalen Wissenschaft über die Welt. Die Idee von einer wahren Natur der Dinge ist aufzugeben, es gibt kein Wesen
der Dinge, das menschlicher Erkenntnis zugänglich ist. Die neue Wissenschaft verzichtet auf die Idee der Substanz und in
gleicher Weise auf die Idee der Ursache. Frage: verfällt man damit nicht erneut in einen Skeptizismus, der wieder nicht
anderes als Metaphysik ist?
Die zweite Konsequenz: betrifft den Menschen.
Wenn man sich mit den Dingen selbst befassen will, aber die aristotelische Naivität (in der Sinneswahrnehmung zeigt
sich die wesentliche Form des Dinges) verloren hat, dann ist die Kritik der Sinne und der menschlichen Fähigkeiten
unausweichlich.
Bacon ist diesbezüglich einer von denen, die am weitesten gegangen sind. Sein methodisches Bemühen: das Maß des
Menschen (proportion à l'homme) zu ersetzen durch das Maß des Universums. Der Kampf gegen die Idole des
menschlichen Geistes bedeutet nicht die Restauration einer guten Natur dieses Geistes, denn die Idole sind in dieser Natur
verankert. Wichtiger ist, dass die menschliche Natur zurücktritt zugunsten der Natur der Dinge und die Menschen sich als
„Diener und Interpreten" der Natur verhalten, wohl wissend, dass ein Dienst ein Dienst am anderen ist und die
Interpretation der Glaubwürdigkeit (fidelité) verpflichtet ist. Auch im operativen Teil der Erkenntnis (der Technik) sind die
größten Werke für die Gesellschaft, wenn die Menschen bescheiden genug sind zu begreifen, dass bei allem Wirken auf die
Natur die Natur selbst am Werk ist.
Voltaire rühmt in de „Philosophischen Briefen" Bacon als jenen, der das Gerüst für die neue Wissenschaft gebaut hat, das
man nun, nach Errichtung des Gebäudes nicht mehr braucht.
Naigeon, Schüler Diderot, sagt später, das Novum Organum sei ein Gerüst, mit dem man zu jeder Zeit bauen kann.
Ist ein Gerüst für immer nützlich? Man kann darauf verzichten, wenn das Gebäude ein Monument geworden ist. Ist die
klassische Wissenschaft ein solchens Monument? Der Mißerfolg Bacons ist ein Zeugnis der Enttäuschung über die
Ambiguität. Eine metaphysische Enttäuschung, von der zu befreien er nicht zynisch genug war.
(Kurzfassung des oben angegebenen Beitrages, O.N.)
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