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Domestizierte Gewerkschaften

Autistische Ökonomie

Vorbemerkung zum Text: Die heutigen Entwicklungen in der Wirtschaft sind in vielfacher Weise kontraproduktiv und für die Zukunft alles andere als vielversprechend. Von wissenschaftlicher Seite gibt es dazu recht unterschiedliche Positionsbezüge, zustimmende und ablehnende. Der folgende Beitrag befaßt sich mit den Kontroversen um die Wissenschaftlichkeit der neoklassischen Ökonomie, die seit einiger Zeit die Ökonomen vor allem im französischsprachigen Raum entzweit.
Ich möchte die damit verbundenen Fragen weitergeben, keineswegs in der Hoffnung, daß sich die Richtung der heutigen Entwicklungen kurzfristig ändern wird. Etwas ganz anderes sind jedoch die Bestrebungen, diese Entwicklungen im Namen der Wissenschaft legitimieren zu wollen. Daher die Notwendigkeit, eine im Kleid der Naturwissenschaften daherkommende ökonomische Theorie zu entmythologisieren. 6. Mai 2001 O.N.



Gliederung des Beitrags

1. Einleitung

2. Die zwei Versionen des offenen Briefes
2.1 Imaginäre Welten
2.2 Mathematik und mißbräuchliche Formalisierung

3. Reaktionen auf den offenen Brief
3.1 Identifikationen mit dem Appell
3.2 Ein Gegen-Appell

4. Festung Orthodoxie
4.1 Hüter der wissenschaftlichen Ideale
4.2 Das symbolische Kapital
4.3 Die Allianz mit dem Kapitalismus

5. Wie läßt sich die Festung schleifen?



1. Einleitung

Ende Mai des vorigen Jahres (2000) haben Studenten an den französischen Universitäten und Grands Écoles in einem offenen Brief gegen die Lehre protestiert, die ihnen im Bereich der (National-)Ökonomie verabreicht wird. Wenige Monate später, im November 2000, sind dieselben Studenten mit einer zweiten Version dieses Briefes an die Öffentlichkeit gegangen. Adressaten der zweiten Version waren insbesondere der für die Wissenschaft zuständige Minister sowie die Repräsentanten der französischen Gesellschaft für Ökonomie. In der zweiten Version bezeichnen sich die Initiatoren als Exponenten einer studentischen Bewegung, welche die im Mai geäußerte Kritik nun in konkrete Forderungen umsetzen wollen. Diese beiden Dokumente finden sich unter http://www.autisme-economie.org/fr/LOv1v2.htm, in deutscher Übersetzung hier. Autismus dient zur Bezeichnung jenes krankhaften Verhaltens, das unter dem Einfluß von Trieben und Affekten auf bestimmte Ziele fixiert bleibt, sich in Tagträumen verliert, ohne sich um die Widersprüche mit der Wirklichkeit zu kümmern. In übertragenem Sinne kann man jenes Verhalten als autistisch bezeichnen, das nur auf seine eigene enge Perspektive fixiert ist und sich weigert, darüber hinausgehende Tatsachen zu Kenntnis zu nehmen.

Ebenfalls im Mai 2000 hat P. Bourdieu seine Studie über „Die sozialen Strukturen der Ökonomie" veröffentlicht. Dort heißt es einleitend: „Die Wissenschaft, die man als ‚Ökonomie' bezeichnet, beruht auf einer originären Abstraktion, die darin besteht, eine besondere Kategorie von Praktiken, oder eine besondere Dimension aller Praktiken, von der sozialen Ordnung abzutrennen, in die alles menschliche Tun eingebettet ist".(1) Diese Eingebettetheit macht es daher nötig, alle Praktiken, auch die im engeren Sinne ökonomischen, im Sinne von Marcel Mauss als eine ganzheitliche soziale Tatsache (fait social total) zu betrachten. Dies führt dann, so Bourdieu weiter, zu einer Vorgangsweise, die sich von der in der Ökonomie üblichen in zweifacher Weise wesentlich unterscheidet: Erstens einmal darin, daß bei der Erforschung eines bestimmten Problems die Gesamtheit des verfügbaren Wissens über die verschiedenen Dimensionen der sozialen Ordnung wie z.B. Familie, Staat, Schule, Gewerkschaften, Vereine etc. zu berücksichtigen ist. Und dann zweitens, daß sie mit einem System von Begriffen operiert, die dazu geeignet sind, den tatsächlich beobachteten Fakten gerecht zu werden. Damit ergeben sich Möglichkeiten, ökonomische Aktionen in einer anderen Art und Weise zu begreifen.

Zwischen der Kritik der Studenten an der Einseitigkeit ihres Unterrichtes und der Kritik Bourdieus am verkürzten Blickwinkel der gegenwärtig dominierenden Wirtschaftskonzeption gibt es offensichtlich enge Affinitäten. Die geäußerte Kritik richtet sich vor allem darauf, daß eine solche Wissenschaft ihren Gegenstand in einem Ausmaß reduziert und simplifiziert, daß sie ihn schließlich verfehlt. Gleichzeitig tritt diese einäugige Ökonomie mit dem Anspruch auf, die Kriterien der Wissenschaftlichkeit in einem besonders hohen Ausmaß zu erfüllen, meint sogar gelegentlich, die Königin der Sozialwissenschaften zu sein. Die Feststellung einer solchen Diskrepanz zwischen Fiktion und Realität ist für die einen unmittelbar einsichtig, für die anderen nur schwer nachvollziehbar. Dabei verläuft die Trennlinie zwischen jenen, die sich mit dem heute dominanten Paradigma der Ökonomie identifizieren bzw. sich davon distanzieren, keineswegs nur zwischen Ökonomen und Nicht-Ökonomen. Denn auf der einen Seite stehen jene, die sich durchaus als der Zunft zugehörig betrachten und von einer anders definierten Basis aus als Ökonomen argumentieren, auf der anderen aber auch jene, die als Nicht-Ökonomen sich den Bestrebungen anschließen, ökonomische Explikationsmuster auf nicht primär als ökonomisch definierte Bereiche auszudehnen, wie dies z.B. soziologische rational choice-Theoretiker zu tun versuchen.

Als theoretische Konflikte sind derartige Kontroversen um Methoden und Gegenstandbereich der Ökonomie keineswegs neu. Was neu ist, das ist der heute gegebene Kontext, in dem diese Auseinandersetzungen stattfinden und die offensichtliche Polarisierung zwischen den gegensätzlichen Positionen. In einem ersten Schritt ist daher auf den offenen Brief der Studenten einzugehen. Was sind die Hauptpunkte der Kritik? Welche Reaktionen hat dieser Appell, sich der Kritik anzuschließen, ausgelöst? In einem weiteren Schritt ist dann der geänderte Kontext zu beschreiben und auf die damit verbundene Verschärfung der Auseinandersetzungen einzugehen. Einige abschließende Überlegungen gehen der Frage nach, wie erfolgreich derartige Versuche sein können, die Quasi-Monopolstellung der heute dominanten Konzeption anzufechten.

2. Die zwei Versionen des offenen Briefes

Wie schon erwähnt, hat sich das studentische Unbehagen in einer doppelten Form manifestiert. Zunächst einmal als Kritik am Bestehenden, dann aber in der Gestalt von Vorschlägen, durch welche konkreten Änderungen die gegebene Misere zu beseitigen wäre. Der Inhalt der beiden Briefe läßt sich mit folgenden Stichworten umschreiben: Die vorgetragene Ökonomie ist in falschen imaginären Welten verankert und ist auf eine übertriebene Formalisierung durch unkontrollierte Mathematisierung fixiert; zur Veränderung dieser Situation wird die Forderung erhoben, in der Lehre eine Pluralität der paradigmatischen Ansätze zu berücksichtigen sowie die Ökonomie insgesamt mehr im Kontext der historischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu sehen. Beide Briefe haben offensichtlich einen engen Bezug zum praktischen Handeln. Der erste enthält eine Drohung an die Lehrenden, daß die Studenten der von ihnen verkündeten Lehre allenfalls den Rücken zukehren und sich anderen Studien zuwenden werden, der zweite stellt sich unter das Motto Herbert Simons: „Wenn die Mikro-Theorie falsch ist, dann schmeißt sie einfach weg".

2.1 Imaginäre Welten
Die Kategorie des „Imaginären" wird nicht in allen Wissenschaftskulturen mit derselben Selbstverständlichkeit verwendet. Im frankophonen Kontext gehört sie heute zum geläufigen Sprachrepertoire. Im deutschsprachigen Raum ist sie weniger gebräuchlich, daher eher den Fremdwörtern zuzurechnen, die der Verdeutlichung bedürfen.

In einem engen, zunächst sehr wörtlichen Sinne bezieht sich der Ausdruck „Das Imaginäre" auf die Welt der Vorstellungen einzelner Individuen, aber auch auf das System der Vorstellungen und gängigen Symbole bei bestimmten sozialen Einheiten. Als analytisches Instrument wird diese Kategorie dann wichtig, wenn sich damit die Behauptung verbindet, daß die Welt des oder der Menschen die Welt seiner bzw. ihrer Vorstellungen ist. Diese Tatsache der mentalen Konstruiertheit des Gesellschaftlichen hat C. Castoriadis systematisch in „Die Gesellschaft als imaginäre Institution"(2) aufgezeigt und dann, wenige Jahre später, in einer weiteren Arbeit(3) zu verdeutlichen versucht. Ausgehend vom Verhältnis des Sehenden zum Gesehenen, vom Wahrnehmenden zum Wahrgenommenen, weist er darauf hin, daß in jeder Wahrnehmung nicht eindeutig isolierbare, geschichtlich bestimmte Bestandteile enthalten sind. Weil der Wahrnehmungsapparat jeweils als geschichtliche Institution vorgegeben ist, macht er die einzelnen Individuen zu Individuen einer bestimmten Gesellschaft und einer bestimmten Epoche. Das A-priori der Art und Weise, wie die Welt gesehen wird, ist konstitutiv für die Lebenswelt, die dann wieder Grundlage dafür ist, was Menschen für unmittelbar evident halten oder nicht. Mit der Einrichtung einer bestimmten Wahrnehmungsorganisation ist auch vorgegeben, was jeweils als klar erkennbare Figur und als Hintergrund zu gelten hat. Das Denken hingegen beginnt für C. Castoriadis erst dort, wo die jeweils instituierte Wahrnehmungsorganisation erschüttert wird, die jeweils gegebene Welt und die mit ihr verbundenen imaginären Bedeutungen fragwürdig werden. Denken ereignet sich erst dort, wo neue Figuren geschaffen werden, was wiederum voraussetzt, daß existierende Hintergründe zerrissen und vorgegebene Horizonte umgestaltet werden. Zwischen Figur (Objekt) und Hintergrund bestehen historisch wandelbare Beziehungen, bestimmte historische Ausprägungen dieser Beziehungen konstituieren bestimmte Eidos-Typen, die jeweils dafür verantwortlich sind, wie die Welt und die Gegenstände in ihr zu sehen sind.

Aus diesem Sachverhalt, daß wir sowohl Gegenstände sehen/wahrnehmen, aber nicht vollständig erfassen können, was geschieht, wenn wir sehen/wahrnehmen, ist der Schluß zu ziehen, daß in jeden Vorgang des Sehens/Wahrnehmens auch Elemente Eingang finden, die nicht gesehen/wahrgenommen werden können. Zur Beschreibung der wahrgenommenen Objekte kommen also immer auch Elemente hinzu, deren sich der Wahrnehmende gar nicht bewußt ist. Diesen Sachverhalt hat auch schon E. Durkheim in seiner Vorlesung über „Pragmatismus und Soziologie" 1913/14 behandelt, jedoch in einem weitgehend anderen Koordinatensystem verankert. Er geht dabei davon aus, daß Wissenschaft aus dem Bemühen entstanden ist, Differenzen in der Wahrnehmung der Dinge zu bearbeiten, um sie schließlich so zu erfassen, wie ein gänzlich objektiver Verstand sie sich vorstellen kann.(4) Durkheim beruft sich dabei auf A. Comte, welcher der Wissenschaft die Aufgabe zugewiesen hatte, dem Chaos divergierender Meinungen, also der geistigen Anarchie, ein Ende zu setzen und der Herstellung eines gemeinschaftlichen Bewußtseins zu dienen. Weil Einzelwissenschaften wegen ihrer starken Spezialisierung dieser Aufgabe nicht gewachsen sind, bedarf es nach Comte einer Disziplin, die sämtliche Einzelwissenschaften umfaßt. Diese neue Disziplin, welche das allen Einzelwissenschaften Gemeinsame in einer neuen Synthese zusammenbringt, ist bei Comte die positive Philosophie. Hier koppelt sich Durkheim mit dem Hinweis, daß die Philosophie nur persönlich sein kann, von Comte ab, hält aber an dessen Forderung fest, daß es etwas die einzelnen Disziplinen Verbindendes geben müsse. Dieses Verbindende ist für Durkheim das kollektive Bewußtsein, „eine Populärphilosophie, die unser aller Werk und für uns alle gemacht ist".(5) Gegenstand dieser Populärphilosophie sind nicht nur die physikalischen Objekte, sondern auch der Mensch und die Gesellschaft. Aus diesem Grund kommt nach Durkheim der Geschichte eine eminente Bedeutung zu, denn nur mit Hilfe der Geschichte wird die Gesellschaft sich ihrer selbst bewußt.

Diese Populärphilosophie ist in der Sicht Durkheims aus einem doppelten Grunde wichtig. Einmal für das System des Wissens, wo sie Antworten bereit hält für Fragen, die sich wissenschaftlich nicht beantworten lassen. Dann aber auch deswegen, weil zum Leben nicht nur das Erkennen, sondern auch das Handeln gehört. Die Gesellschaft muß entscheiden, was zu tun ist, auch wenn die mit der Entscheidung verbundenen Probleme noch keineswegs wissenschaftlich gelöst sind. Bei allen Entscheidungen darüber, was getan werden soll, spielen Vorstellungen der Gesellschaft über sich selbst eine zentrale Rolle. Grundlage dieser Vorstellungen sind nicht objektives Wissen, sondern, wie Durkheim sagt, nur „eine Erkenntnis von innen", also der Versuch, die Gefühle von sich selbst zu verarbeiten und sich daran zu orientieren. Das bedeutet dann im Klartext, daß die Gesellschaft in ihrem Handeln sich an Vorstellungen ausrichtet, die von derselben Art sind wie die mythologischen Wahrheiten.

Ein besonderes Kennzeichen derartiger mythologischer Vorstellungen liegt darin, daß sie einen von allen geteilten Gedanken ausdrücken, diesen mit einer besonderen Autorität ausstatten und so der Kontrolle und dem Zweifel entziehen. Die allgemeinen Vorstellungen des kollektiven Bewußtseins scheinen nichts mit der Religion zu tun zu haben, haben jedoch in der Gesellschaft dieselbe Funktion wie die Dogmen in der Religion. Die unvermeidbare Koexistenz begrenzter wissenschaftlicher Einzelerkenntnis mit der Notwendigkeit, entscheiden und handeln zu müssen, führt notwendigerweise zum Nebeneinander zweier Tendenzen: der Tendenz zu objektiver wissenschaftlicher Wahrheit und der Tendenz zu einer mythologischen Wahrheit.

Das Verlangen der Studierenden der Ökonomie, „die imaginären Welten zu verlassen", ist also einigermaßen klar und die Nachdrücklichkeit, mit der es vorgetragen wird, verständlich. Lehre der Ökonomie heißt heute zu 90% Lehre der neoklassischen Ökonomie. Diese neoklassische Ökonomie dient gleichzeitig auch als neoliberale Ideologie, die den heute vorherrschenden wirtschaftlichen Praktiken die wissenschaftliche Legitimation besorgt. Populärphilosophisches, Dogmatisches, Mythologisches spielen dabei eine erhebliche, weitgehend zu wenig klar erkannte Rolle. Dieser Glaube an wissenschaftlich nicht Belegbares ist hier ein notwendiges Komplement des wissenschaftlich Belegbaren. Je weniger es als solches erkannt wird, umso wirksamer ist es. Zu Recht daher die Frage, die F. Lebaron (2000) explizit stellt und ausführlich behandelt: „Müssen wir an die Ökonomie glauben?(6)

2.2 Mathematik und mißbräuchliche Formalisierung
Von A. Comte wird heute als noch bemerkenswerte Erkenntnis hauptsächlich sein Dreistadiengesetz überliefert. Dieses Gesetz behauptet, daß es im Geschichtsverlauf ein zeitliches Nacheinander einer mythologischen, einer metaphysischen und einer positivistischen Epoche gibt. Warum sein enzyklopädisches Gesetz, das eine Hierarchie der Wissenschaften postuliert, völlig in Vergessenheit geraten ist oder verdrängt wird, mag hier offen bleiben. Auf jeden Fall sucht dieses zweite Gesetz Comtes die zeitliche Abfolge der Entstehung der verschiedenen Wissenschaften einer nachvollziehbaren Logik zu unterstellen. Dazu dient die Klassifizierung der diversen Einzelwissenschaften nach folgenden Kriterien: Die Natur der von ihnen behandelten Phänomene, ihr Grad an Generalisierbarkeit und abnehmende Unabhängigkeit oder zunehmende Komplikation,
(7) was zu immer abstrakteren und schwierigeren Spekulationen führe, gleichzeitig aber auch zu wichtigeren, soferne sie sich auf den Menschen oder die Menschheit beziehe, auf die als Endzweck jedes theoretische System hingerichtet sei. Zur Naturphilosophie, die Comte notwendigerweise als der Sozialphilosophie vorgeordnet betrachtet, gehören die drei großen Einzelbereiche der Astronomie, der Chemie und der Biologie, von denen der erste für den Ursprung und der letzte für die Bestimmung des wissenschaftlichen Geistes stehe. Comtes Überlegungen führen ihn zum Postulat einer 6-stufigen Hierarchie der fundamentalen Wissenschaften,(8) die er für historisch und dogmatisch, wissenschaftlich und logisch legitimiert hält: Der Mathematik folgt die Astronomie, dieser dann die Physik und die Chemie, wobei die Biologie und die Soziologie den Abschluß dieser Hierarchie bilden.

Für die Klassifizierung der Wissenschaften sind hier bei Comte zwei Gesichtspunkte maßgeblich. Ein erster, den er als dogmatisch bezeichnet, ordnet die Wissenschaften nach ihrem Grad der Abhängigkeit. d.h. der Art und Weise, wie eine Wissenschaft auf der vorhergehenden beruht und die folgende vorbereitet. Ein zweiter berücksichtigt die zeitliche Entstehung und bewegt sich von den älteren zu den jüngeren Wissenschaften. Die Mathematik, der Ursprungsort des rationalen Positivismus, führt er auf spekulative Spiele mit Zahlen zurück, die sowohl allgemein gültig und einfach, in hohem Maße abstrakt und unabhängig sind. Diese Mathematik hält er für die Urform des ganzen wissenschaftlichen Systems, die er vor allem aus logischen Gründen an den Anfang stellt. Am Anfang steht das Einfache, auf dem sich dann das Komplexe aufbaut.

Die Wissenschaft Galileis markiert hier einen Bruch, wenn sie den bereits in der Renaissance kultivierten Glauben radikalisiert, daß die Natur als solche sich nur durch die Verwendung der mathematischen Sprache entschlüsseln lasse, wobei Mathematik bei Galiei geometrische Konfiguration bedeutete. Diese Sichtweise war der Beginn eines neuen Verständnisses von Wissenschaft, die ihren Gegenstand als einen vom Subjekt unabhängigen Prozeß konstituierte. Dieser Gegenstand sollte durch Kategorien wie Identität, Substanz und Kausalität eindeutig faßbar und in mathematischer Sprache beschreibbar sein. Dabei wurde vorausgesetzt, daß diese Sprache dem Gegenstand angemessen und innerlich kohärent sei. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde jedoch klar, daß die Mathematik nicht widerspruchsfrei, also nicht kohärent ist. Gleichzeitig stellte sich heraus, daß Kontroversen um diese Kohärenz, für die Hilbert den Begriff der Metamathematik verwendete, nicht in mathematischer Sprache, sondern in der wesentlich unschärferen und vieldeutigeren Umgangssprache zu führen sind.(9)

Dies bringt die Mathematik in eine sonderbar ambivalente Position. Einerseits ist sie jene Wissenschaft, der höhere Systematizität und Beweiskraft zugeschrieben wird als anderen Wissenschaften. Andererseits ist sie aber nach einer Formulierung B. Russels auch jene Wissenschaft, „bei der man weder jemals weiß, wovon man spricht, noch ob es wahr ist."(10) Kürzer gefaßt läßt sich die Ambivalenz auf die Formel bringen: Höchster Grad an Wissenschaftlichkeit bei gleichzeitig größter Distanz zur realen Objektwelt. Im hierarchischen System Comtes gibt es solche Ambivalenzen jedoch nicht mehr. Denn dort stehen die miteinander verbundenen Wissenschaften in einer Linie zunehmender Komplexität der Objektwelten, die von den Bestrebungen um die Konstitution einer Einheitswissenschaft (wie im Wiener Kreis) negiert werden. Dieses Plus, das bei jeder Wissenschaft hinzukommt, die im dogmatisch-historischen Schema Comtes höher steht als andere, läßt sich aber auch negieren durch Versuche, das Höhere auf das Niedrigere zurückzuführen. Dies führt zu den bekannten Reduktionismen: Der Reduktion des Gesellschaftlichen auf Biologisches, der Reduktion des Biologischen auf Chemisches, der Reduktion des Chemischen auf Physikalisches.

Den Beginn dieser Versuche, Komplexes auf Einfacheres. letztlich auf Mechanisches zu reduzieren, verlegt F. v. Hayek in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Epoche des Triumphes der neuen Naturwissenschaften und des grenzenlosen Vertrauens in ihre Methoden. Die spätere Ausweitung des Geltungsbereiches dieser neuen Methoden auf die Erscheinungsformen der Gesellschaft schreibt er szientistischer Hybris zu, sieht darin eine wissenschaftliche Gegenrevolution, die gleichzeitig den Anfang eines Verfalls der Vernunft bedeute.(11) An die Stelle eines ursprünglich noch naiven Bestrebens, in den Naturwissenschaften vielfach Bewährtes auch auf andere Bereiche auszuweiten, treten später von Eifersucht genährte Wünsche, das anscheinend Exakte und Erfolgreiche zu imitieren, um ebenfalls mehr Ansehen und Einfluß zu gewinnen. In diesem Sinne interpretiert jedenfalls Norbert Wiener 1965 die Gewohnheiten der Volkswirtschaftler, „ihre ziemlich unpräzisen Ideen in die Sprache der Infinitesimalrechnung zu kleiden".(12) Ihrem Beispiel folgen dann Sozialwissenschaftler aus anderen Bereichen, die ebenfalls von szientistischen Illusionen geblendet sind und es sich nicht nehmen lassen, „die Wirtschaftswissenschaftler nachzuäffen, die ihrerseits die Physiker nachäffen" (13)

Neuerdings gibt es allerdings Bestrebungen, dieses Nachäffen der Physik in eine für beide Seiten vermeintlich fruchtbare Kooperation zu transformieren. So hat unlängst(14) die neu gegründete Sektion für statistische und nichtlineare Physik der „European Physical Society" in einer Konferenz in Dublin versucht, den Dialog zwischen Physikern und Finanztheoretikern zu fördern. Was daraus geworden ist, glich eher einem Monolog unter Physikern, denn die Finanztheoretiker glänzten bei dieser Konferenz durch Abwesenheit. Die Gründe der Abwesenheit wurden nicht genau eruiert, doch stellt der Bericht fest, daß zwischen Ökonomen und Physikern ein Verhältnis gegenseitigen Mißtrauens besteht: „Bei den Ökonomen spürt man eine fast an Minderwertigkeitskomplexe grenzende Unsicherheit, während Physiker manchmal eine arrogante Überheblichkeit durchblicken lassen". Dennoch soll es Chancen für einen lernenden Austausch zwischen diesen beiden Disziplinen geben, obwohl das verfügbare statistische Rohmaterial unterschiedliche Zugänge zur Folge hätte. Physiker könnten von unverbindlichen Modellen ausgehen und auftretende Modellierungsfehler bei Wiederholungen der Experimente korrigieren. Finanztheoretiker seien dagegen wegen der Nicht-Wiederholbarkeit von Beobachtungen zu größerer Vorsicht gezwungen und daher der Versuchung ausgesetzt, „die Lückenhaftigkeit der Daten mit einer oft übertrieben anmutenden Mathematisierung ihrer Modelle wettzumachen" (a.a.O.).

Der Vergleich der beiden Wissenschaften, die hier miteinander in Gespräch kommen sollen, beschränkt sich auf Unterschiede im Umgang mit Modellen und Daten, also die vermeintliche Objektebene, und eine davon abhängige methodologische Ebene. Die offensichtlichen Schwierigkeiten, einen Dialog zwischen Physikern und Ökonomen zu initiieren, dürften aber auch dadurch bedingt sein, daß die Vertreter der jeweiligen Gruppen als Wissenschaftler verschiedene soziale Rollen spielen. Im Anschluß an wissenssoziologische Überlegungen bei F. Znaniecki, der die Frage stellt, ob bestimmte Systeme des Wissens und der verwendeten Methoden auch im Zusammenhang mit der sozialen Einbettung der Wissenschaftler selbst zu tun haben, stellt N.J. Krysmanski fest,(15) daß die Träger des Wissens sich zu allen Zeiten entweder als Technologen oder als Ideologen nützlich zu machen gesucht haben. Technologen sind die Träger und Verbreiter des instrumentellen Wissens und sind als solche im Mittel-System der Gesellschaft fest verankert und dort unabkömmlich. Ideologen sind hingegen jene, welche die nicht zu hinterfragenden Wahrheiten produzieren und bewahren.

Die Ökonomie versteht sich heute offensichtlich als Wissenschaft, die feststellt, was ist, und dann auch darüber befindet, was geschehen soll. Sie stellt sich in eine Reihe mit den exakten Wissenschaften, wenn sie in gleicher Weise wie diese auf quantifizierbare Begriffe und mathematisierende Darstellung der Prozessverläufe setzt. Darüber hinaus beansprucht die Ökonomie aber auch - für Castoriadis(16) eine eklatante Doppelzüngigkeit -, in der Lage zu sein anzugeben, was der weiteren Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zweckdienlich, was im Sinne dieser Entwicklung wünschenswert oder verboten sein soll:(17) Verboten ist, die Budgetpolitik (d.h. die öffentlichen Ausgaben) zur Stützung des Wirtschaftswachstums einzusetzen; verboten ist auch eine Erhöhung der Löhne und Gehälter, um die Früchte des Wachstums anders zu verteilen; und verboten ist auch eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit, um das Gleichgewicht in der Einkommensverteilung nicht zu stören. Wünschenswert hingegen sind weitere Senkungen der Lohnnebenkosten und die Einführung einer Negativsteuer bei Empfängern von Hungerlöhnen. Derartige Empfehlungen, wie sie unlängst (Dez. 2000) ein Beirat für ökonomische Analysen auf Bestellung der französischen Regierung abgegeben hat, scheinen durchaus auf der Linie des Zeitgeistes zu liegen. Mit exakter Wissenschaft hat dies nichts zu tun, viel aber mit Politik. Im Namen der Wissenschaft berät der Experte den Prinzen im Sinne dessen, was aus der Sicht der ‚neuen Ökonomie' normativ geboten ist. Längst vergessen ist, was positivistische Wissenschaft einst vehement einforderte, nämlich die Trennung von Deskriptivem und Präskriptivem. Dies doppelte Aufladung, die auch das Verständnis der grundlegenden Kategorien beeinflußt,(18) macht die heute herrschende Ökonomie für die wirklichen Herren so nützlich: das aus der Perspektive des Kapitals Wünschenswerte, weil seinen Interessen Zweckdienliche, kommt mit der Aura des wissenschaftlich Abgesicherten daher, das keinen Widerspruch duldet. Wer sich in der hohen Wissenschaft nicht auskennt, ist daher aus dem Dialog von vornherein eliminiert, hat den Mund zu halten.

3. Reaktionen auf den offenen Brief

Wie schon erwähnt, liegt der Protest der Ökonomie-Studenten gegen die ihnen vermittelte Lehre in doppelter Fassung vor. Die erste Version wurde Ende Mai 2000 veröffentlicht, die zweite dann im November desselben Jahres. Weder der Prozeß der Sammlung der Unterschriften noch die mit dem Protest verbundenen argumentativen Kontroversen sind als abgeschlossen zu betrachten. Ein Blick auf die bisherigen Ereignisse kann also lediglich den Stellenwert einer Zwischenbilanz haben.

3.1 Identifikationen mit dem Appell
Die studentische Kritik an der universitären Ökonomie-Lehre hat ihre Vorgeschichte in längeren Diskussionen, die im Anschluß an einen Vortrag an der École Normale Superieure in Paris entstanden sind. Gegenstand dieser Diskussionen war die Frage, ob das Wissen, das die übliche Lehre vermittelt, auch hinreichend stichhaltig sei. Viele waren der Ansicht, daß die mathematische Formulierung, auch wenn sie in gewisser Weise unverzichtbar sei, zu einer realen Schizophrenie führe, wenn sie zu einem Ziel an sich werde. Diese Diskussionen zogen sich über mehrere Wochen hin. Sie führten schließlich zum couragierten Schritt, in einem offenen Brief den unkontrollierten Gebrauch der Mathematik zu denunzieren und einen Pluralismus der ökonomischen Ansätze einzufordern.
(19)

Mitte Juni des Jahres 2000 hatten 500 Personen den Appell unterschieben, einen Monat später waren es 600, davon etwa hundert Ökonomie-Lehrende. Anfang Mai 2001 sind es etwas mehr als 1500 gewesen, und die Sammlung der Unterschriften ist noch keineswegs abgeschlossen. Sie erfolgt vor allem im Zusammenhang mit Informationsveranstaltungen an einzelnen Universitätsstandorten, deren Gelingen keineswegs immer gesichert ist, da die Gegner des Appells bisweilen mit Erfolg die Durchführung derartiger Veranstaltungen zu verhindern wissen.

Der Protest, der von der Hauptstadt ausgegangen ist, breitet sich mehr und mehr auf die Universitätsstädte in der Provinz aus. Die Anzahl der geleisteten Unterschriften ist zweifellos ein wichtiger Indikator für den Erfolg der Petition, doch lediglich ein nachgeordneter. Denn das Hauptziel der Initiatoren ist darauf ausgerichtet gewesen, eine Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit zu tragen, die bislang nur innerhalb der Grenzen der einzelnen Fakultäten ausgetragen worden ist. Bislang nur von einzelnen Individuen artikulierte Kritik präsentiert sich nun als Forderung eines Kollektivs, die nicht so ohne weiteres zu übergehen ist. In der öffentlichen Diskussion, weniger in der Zahl der geleisteten Unterschriften, sieht denn auch der Sprecher der rebellierenden Gruppe das hauptsächliche Ziel der ganzen Aktion. Dieses Ziel hält er bereits Ende Juni 2000, also nur wenige Wochen nach der Lancierung des Appells, für erreicht.

Die ausgelöste Diskussion ist nachzulesen in den Kommentaren, die in diversen Presseberichten ihren Niederschlag gefunden haben. Von den 17 kommentierenden Beiträgen, welche die Organisatoren der öffentlichen Kritik via Internet (vgl. http://www.autisme-economie.org/)der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, stammt mehr als die Hälfte aus der Zeit der ersten Wochen nach der Veröffentlichung der ersten Version des offenen Briefes. Einer Anfangsphase hitziger Auseinandersetzungen folgte also eine zweite Phase, in der das Thema, möglicherweise auch bedingt durch die Sommerferien, wieder etwas aus dem Rampenlicht verschwindet. Diese zweite Phase ist deswegen nicht weniger wichtig, weil sie von den Kontrahenten vermutlich dazu benützt wird, um ihre Argumentationsplattform abzusichern, Bündnispartner zu gewinnen, was für in der Zukunft zu fällende Entscheidungen nicht unerheblich sein dürfte. Mit solchen Entscheidungen ist frühestens nach der Vorlage des Berichtes einer Expertenkommission zu rechnen, welche die Regierung mit dem Studium der aufgeworfenen Probleme betraut hat. Dieser Bericht soll bis im Juni 2001 fertiggestellt sein. Wenn die verantwortlichen Stellen dann keinen Handlungsbedarf zur Veränderung der Lehre im Bereich der Ökonomie sehen, dann entscheiden sie sich für die Erhaltung des status quo. Kommt es zu einer anderen Gewichtung der Prioritäten, so bleibt immer noch die Frage, inwiefern es möglich ist, eine bei einer großen Mehrheit der Lehrenden eingespielte Praxis der Lehre in einem bestimmten Fachbereich nachhaltig zu beeinflussen, wenn die Lehrenden von der Notwendigkeit allfälliger Änderungen nicht auch selbst überzeugt sind. Dies bedeutet wohl, daß administrative Entscheidungsprozesse ohne Rückkoppelung an gleichbleibende oder anders gewichtete Argumentationsprozesse ins Leere gehen müssen. So gesehen ist auf keinen Fall zu erwarten, dass kurzfristige Debatten zu weitreichenden und nachhaltigen Veränderungen führen können. Denn Veränderungen brauchen ihre Zeit, die Stärkung gewisser Positionen auf Kosten anderer Positionen, die sich als überholt erweisen können, ist ein konfliktreiches Aushandlungsgeschehen, wobei nicht nur rationale, sondern auch weniger rationale Faktoren ausschlaggebend sein können.

Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen melden sich neben neuen Kontrahenten auch die rebellierenden Studenten selbst erneut zu Wort (zweite Version), um ihr Anliegen zu verdeutlichen: warum die herrschende Lehre Ausdruck einer autistischen Ökonomie ist, warum die imaginären Welten dieser Ökonomie irreführend sind, warum die übertriebene Verwendung der Mathematik an der Realität vorbeigeht.

3.2 Ein Gegen-Appell
Ende Oktober erscheint
(20) ein „Gegenappell zur Erhaltung der Wissenschaftlichkeit der Ökonomie", unterzeichnet von 15 an diversen akademischen Institutionen Frankreichs lehrenden Vertretern der ökonomischen Zunft. Der Gegenappell bezieht sich auf den Vorwurf einer übertriebenen mathematischen Formalisierung und gesteht dann zu, daß der Appell ein authentisches Problem thematisiere, nämlich die wissenschaftliche Vorgangsweise in der Ökonomie. Doch sei diese Behandlung im Appell reduktionistisch und führe zu einem parteilich gebundenen Angriff auf ein Zentralstück der Disziplin, auf die als neoklassisch apostrophierten Theorien. Ein solcher Angriff, so die Meinung der Unterzeichner, sei ein Beitrag dazu, den wissenschaftlichen Charakter der Ökonomie in Frage zu stellen. Im Anschluß daran werden drei Merkmale genannt, welche für die traditionelle wissenschaftliche Vorgangsweise charakteristisch sein sollen: a) Identifikation und genaue Definition der Begriffe sowie der für ökonomische Tätigkeiten typischen Verhaltensweisen und die Angabe von grundlegenden Hypothesen hinsichtlich dieser Verhaltensweisen, b) die Formulierung von Theorien in der Gestalt der Formalisierung der funktionellen Verbindungen zwischen den vorausgehend definierten Einzelfaktoren, und c) Verifikation dieser Theorien durch die Erfahrung. Solange nicht das Gegenteil bewiesen sei, konstituiere sich diese Erfahrung in der Ökonomie durch die Konfrontation mit der quantifizierenden Geschichte, durch die Verwendung von Statistik und Ökonometrie.

Erläuternd wird dem hinzugefügt, daß für Bezugnahmen auf die Geschichte in der ökonomischen Lehre Formalisierungen unverzichtbar seien, besonders jene, welche die Verwendung der Mathematik ermöglichten. Die Formalisierung diene weder dazu, verwerfliche politische Intentionen zu maskieren noch dazu, den Ökonomen das Gefühl zu vermitteln, gesellschaftlicher Kritik enthoben zu sein. Formalisierung diene allein der experimentellen Verifikation und sei ein Schutz davor, daß die Ökonomie zu einem allgemeinen Diskurs verkomme, bei dem sich weder etwas beweisen noch widerlegen lasse.

Der Aufruf gegen das Modelldenken ist nach Ansicht der professoralen Defensoren des status quo einer Logik verpflichtet, die einer „Theorie des Komplotts" nahestehe: denn sie bemesse den Wert eines Forschungsergebnisses oder einer Theorie nicht nach dem Grad der Übereinstimmung mit der Realität, sondern nach der sozialen Herkunft oder den politischen Intentionen jener, die sie vertreten. Dem folgt dann der Verweis darauf, daß der Rekurs auf die Formalisierung weltweit zu den Selbstverständlichkeiten einer großen Mehrheit der Kollegen gehöre. Daher sei Vernunft und das richtige Augenmaß nötig, um die Debatte erneut einerseits auf die Angemessenheit jener Instrumente zu fokussieren, die für die wissenschaftliche Arbeitsweise konstitutiv seien, und andererseits vor allem auf das Gebiet der Pädagogik, wo auch der Protest der Studierenden seinen Ursprung habe.

Dem Titel des Gegenappells ist dessen Hauptstoßrichtung schon abzulesen: die Absicherung der Wissenschaftlichkeit der Ökonomie. Diese sei daran gebunden, sich an der traditionellen wissenschaftlichen Vorgangsweise zu orientieren, die durch die Angabe der oben erwähnten drei Merkmale charakterisiert sei. Die Nennung dieser drei Merkmale löst bei den Studierenden Verwunderung aus und sie stellen sich erstaunt die Frage, ob denn die Unterzeichner des Gegenappells sich auf dieselben Universitäten beziehen wie die ursprüngliche Kritik der Studenten. Letztere stellen lebhaft in Abrede, daß die unter a) und c) genannten Punkte in den Lehrveranstaltungen je eine nennenswerte Rolle spielen: Eine Klärung der Begriffe gebe es ebensowenig wie eine Behandlung der Beziehungen zwischen den Variablen des Modells und jenen, die dann in den empirischen Tests verwendet werden.

Für die Verfasser des Gegen-Appels gibt es keinerlei Probleme wissenschaftstheoretischer Art, sondern höchstens pädagogische Unzulänglichkeiten, die zur Aufruhr der Studierenden geführt hätten. In der Substanz ähnlich argumentiert auch R. Solow in seinem Beitrag von Anfang Jänner 2001.(21) Er gibt zunächst zwar vor, der These der Studierenden im wesentlichen zuzustimmen. Daß er diese These aber selektiv rezipiert, signalisiert schon der Titel seines Beitrags: „Wirtschaftswissenschaft zwischen Empirismus und Mathematisierung." Für das erstgenannte Anliegen des studentischen Protestes, die Preisgabe der imaginären Welten, die den Horizont einer naturwissenschaftlich sich gebärdenden Ökonomie bilden und sie auch legitimieren, zeigt R. Solow ebenfalls keinerlei Verständnis. Er hält damit verbundene Diskurse für opak, für unverständlich und ideologisch. Dies ergibt sich notwendigerweise aus seiner Fixierung auf jenes Selbstverständnis einer Ökonomie, die eben die Zielscheibe der studentischen Rebellion ist: Die angewandte Ökonomie besteht, so Solow, in einer Reihe von Modellen, d.h. vereinfachten Vorstellungen über die Realität. Der Großteil dieser Modelle sei in mathematischen Begriffen formuliert. Dann aber wechselt Solow seine Argumentationsweise: „Wenn man eine relativ komplexe Situation analysieren will, deren Hauptmerkmale quantitativer (numerischer) Natur (Preise, produzierte Mengen, Zinssätze, Beschäftigung, Grad der Ungleichheit.....) sind und man versucht, die Gesetze der Logik zu respektieren, dann ist die Mathematik ein unverzichtbares Instrument". Solows Fixierung auf die „traditionelle wissenschaftliche Vorgangsweise" ergibt sich auch aus seinen Forderungen, an denen er die Tauglichkeit alternativer Ansätze mißt. Sie müßten den Regeln der Logik gehorchen, die Fakten respektieren und sparsam in der theoretischen Argumentation sein. Mit anderen Worten: ein gutes Modell muß in der Lage sein, eine große Zahl von Fakten zu erklären und dabei nur eine begrenzte Anzahl von Hypothesen verwenden. Denn die alleinige Annahme, daß Gegenstände eine Tendenz hätten, auf den Boden zu fallen, sei noch kein Fortschritt für die Theorie der Gravitation. Das Theorieverständnis dieser traditionellen Wissenschaft, das der Mainstream der Ökonomen auch heute noch postuliert, ist das Theorieverständnis des 18. Jahrhunderts, das sich am Vorbild Newtons orientierte: die Tatsachen beschreiben und diese auf allgemeine Prinzipien zurückführen. Wenn Solow es auch für wünschenswert hält, die echten Bedürfnisse der Studierenden befriedigt zu sehen, so keineswegs um den Preis, dadurch die notwendige wissenschaftliche Strenge zu gefährden.

Allein schon deswegen, weil die Bedeutung mathematischer Formalisierung in Frage gestellt wird, von einem Angriff auf ein Zentralstück der neoklassischen Theorie zu sprechen, erweist sich als eine auch historisch unhaltbare Argumentation. Denn Neoklassik steht für jene Neuorientierung - auch als marginalistische Revolution bezeichnet -, die gleichzeitig in England, der Schweiz und in Österreich stattgefunden hat. Von diesen drei Schulen, welchen die Fundierung der Neoklassik zugeschrieben wird, bedienten sich zwar die Schulen von Cambridge und Lausanne der mathematischen Verfahrensweise, keineswegs aber die österreichische Schule. Während für Jevons und Walras die Ökonomie mit der Verwendung der Methoden der Naturwissenschaft, insbesondere jener der Physik, in das Zeitalter der Reife eintritt, äußert Menger ganz im Gegensatz dazu größte Bedenken.(22) Hayek hält dann später die Mathematik bestenfalls für Zwecke der Illustration geeignet, die Hauptbereiche der ökonomischen Phänomene entziehen sich für ihn jedoch der mathematischen Formalisierbarkeit. An dieser Geringschätzung des Nutzens der Mathematik für die Ökonomie hat Hayek unbeirrt sein ganzes Leben lang festgehalten. Wenn die Mathematisierung der Ökonomie zu den wichtigen Kernstücken der Neoklassik gehören soll, so können heutige Gegner der Mathematisierung sich immer auch auf andere prominente Vertreter der Neoklassik berufen, um ihrer Ansicht mehr Gewicht zu verleihen.

3.3 Inkompatible Positionen
Auseinandersetzungen jeglicher Art pflegen für gewöhnlich damit zu enden, daß sich der Stärkere durchsetzt und vorübergehend wieder Ruhe einkehrt. Das ist so bei rivalisierenden Tieren, wenn es um die Führung eines Rudels geht, wobei es je nach species unterschiedlich geregelt ist, ob der unterlegene Kontrahent sein Leben verliert oder die Flucht ergreifen darf. Auch Konflikte unter Menschen werden nach bestimmten Regeln ausgetragen, die jedoch feldspezifisch besonderer Art sind. Die Regeln des Stadions sind andere als die des Parlamentes, wieder anders sind die Regeln, die vor Gericht zu beachten sind und jene, die für wissenschaftliche Auseinandersetzungen gelten. Im Parlament setzten sich jene durch, die für die Abstimmung das größte Stimmenpotential mobilisieren können, vor Gericht jene, die ihre Position am eloquentesten darzulegen vermögen, wobei offensichtlich an der Prämisse nicht gerüttelt werden darf, es gehe ausschließlich um Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit. Der Ausdruck „Klassenjustiz" deutet jedoch darauf hin, daß in der Realität sehr wohl auch rechtsfremde Momente die Rechtsfindung beeinflussen können. Dies ändert nichts daran, daß die Aufrechterhaltung des Glaubens an Recht und Gerechtigkeit unverzichtbar ist, weil dieser Glaube für die Legitimierbarkeit des Rechtssystems konstitutiv ist.

Für das wissenschaftliche Feld ist die Annahme konstitutiv, daß prinzipiell alle Wahrheiten relativ und Aussagen nur so lange gültig sind, bis Beweise vorliegen, daß bestimmte Sätze falsch oder unvollständig sind und durch besser beweisbare Aussagen zu ersetzen sind. Alle in diesem Feld Tätigen sind Diener einer besseren Erkenntnis der Welt, wobei Lehre von der Forschung lebt, sich in der Lehre die einzelnen Disziplinen selbst reproduzieren und durch Forschung ihren Wissensstand erweitern.

Mit der Annahme, Wissenschaft lebe von Argumenten und Beweisen, erhält die Frage, was als Argument und Beweis gilt, eine besondere Bedeutung. Nach herkömmlicher Vorstellung stützen sich Argumente und Beweise auf logische Operationen und die Vermessung von Objekten in der realen Welt. Dabei erhebt sich die Fragen nach dem Verhältnis von Messen und Beweisen. Oder anderes formuliert: Ist der Akt des Messens auch schon identisch mit dem Akt des Beweisens? Am Beispiel einer Kontroverse zwischen Th. Hobbes und R. Boyle läßt sich zeigen, daß sie diesbezüglich konträre Positionen vertreten haben. Hobbes, der politische Philosoph, vertrat die Ansicht, daß eine hinreichend klare mathematische Demonstration die einzige Methode sei, um andere in eine Situation zu bringen, in der sie zustimmen müssen. Anders Boyle, der lange Jahre mit physikalisch-chemischen Experimenten zubrachte und als einer der wichtigen Wegbereiter der experimentellen Naturwissenschaft anzusehen ist. Im Sinne einer para-iuridischen Metapher ist für ihn die Lösung eines Problems erst dann bewiesen, wenn bei der Durchführung des Experiments gut situierte, vertrauenerweckende Zeugen anwesend sind, und sie in gutem Glauben die Existenz einer Tatsache bestätigen, auch wenn sie deren wirkliche Natur nicht verstehen. Damit erfindet Boyle, wie B. Latour feststellt, „den empirischen Stil, den wir auch heute noch verwenden"(23)

Für die moderne Meßtheorie sind derartige Kontroversen lediglich ein historisches Kuriosum. Sie begnügen sich üblicherweise mit dem Rekurs auf die beiden Kriterien der Reliabilität und der Validität, wobei vor allem das Validitätskriterium erhebliche Probleme mit sich bringen muß. Denn es verlangt, daß eine Messung wirklich das messen muß, was sie zu messen vorgibt. Mit dem Verweis auf die „Wirklichkeit" ergeben sich erhebliche Probleme. Denn die Frage nach dem Wirklichen kann man für unproblematisch ansehen, aber mit guten Gründen auch als unlösbares Problem, wie aus der Geschichte der Philosophie bekannt ist. Unter Außerachtlassung aller philosophischen Implikationen wird heute das zu Messende repräsentiert durch eine theoretische Größe, einen abstrakten Begriff. Im Gegensatz zur exakt abgegrenzten eindeutigen Zahl sind abstrakte Begriffe sprachliche Symbole, denen das Merkmal der Eindeutigkeit prinzipiell abgeht. Bei allen Vorzügen, die dem wissenschaftlichen Empirismus zuzugestehen sind, erliegt er, wie schon Hegel bemerkte, einer grundsätzlichen Täuschung: er bedient sich metaphysischer Kategorien wie Materie und Kraft, jener des Einen, Vielen, Allgemeinen, auch Unendlichen usf., am Faden solcher Kategorien zieht er weitere Schlüsse, wobei er „die Formen des Schließens voraussetzt und anwendet und bei allem nicht weiß, daß er so selbst Metaphysik enthält und treibt und jene Kategorien und deren Verbindungen auf eine völlig unkritische und bewußtlose Weise gebraucht".(24)

Wissenschaft orientiert sich an einem abstrakten Wahrheits- bzw. Richtigkeitsideal, lebt vom Anspruch, belegte, aber immer auch revidierbare Aussagen über einen Gegenstandsbereich, im weitesten Sinne über die Welt, zu machen. Für das wissenschaftliche Feld ist daher ein Nebeneinander konkurrierender Aussagen, die behaupten, richtig und wahr zu sein, konstitutiv. Ähnlich anderen Feldern hat jedoch auch das wissenschaftliche Feld seine konkrete Geschichte und Ordnung, gehorcht eigenen Regeln, sich eine Struktur zu geben und diese Struktur gegebenenfalls auch zu ändern, flexibel zu halten. Wissenschaft verhält sich zur wissenschaftlichen Ordnung nach J. Bouveresse(25) wie die Moral zur moralischen Ordnung. Wissenschaft und Moral sind abstrakte Allgemeinbegriffe, die in einem bestimmten Verhältnis zu den ihnen entsprechenden konkreten Ordnungen stehen, aber keineswegs mit ihnen identisch sind. Mit dem Begriff der Wissenschaft ist die Vorstellung einer „republique des lettres" eng verwandt, die nach den Gesetzen des strengen Denkens, der intellekturellen Redlichkeit, der Unparteilichkeit und der Objektivität funktioniert. Den Glauben, daß diese Republik der Gelehrten dem Ideal der Demokratie näher komme als andere Felder, hält J. Bouveresse für einen frommen Wunsch, der eine real gegenläufige Entwicklung kaschiere. Die Bürger dieser Republik, die Intellektuellen, postulierten zwar für alle Bereiche mehr Demokratie und Transparenz, allerdings mit der Ausnahme des eigenen. Demokratie sei gut für die Gesellschaft, aber nicht so bedeutend für den Vollzug der Wissenschaft, bei dem sich eher oligarchische, hierarchische und tribusartige Organisationsformen bewährt hätten, die zudem in vieler Hinsicht auch mafiose Merkmale aufwiesen. Für J. Bouveresse ist keine Regierung so wenig republikanisch wie die „republique des lettres", wo Klientelismus, Kameraderie, Akkumulationspraktiken und Korruption das Tagesgeschehen bestimmen.

Beim Streit um die Angemessenheit der universitären Ökonomie-Lehre, den die Studierenden angezettelt haben, geht es sowohl um Fragen der Wissenschaft wie auch um Fragen der wissenschaftlichen Ordnung, wobei es nicht so ohne weiteres klar ist, wovon jeweils die Rede ist. Die Ausgangssituation entspricht zunächst einmal einer typischen David-Goliath-Konstellation. Auf der einen Seite eine relativ bedeutungslose studentische Minorität, auf der anderen die professorale Majorität. Der Vorwurf der Minorität an die Adresse der Majorität ist nicht unerheblich, wenn er impliziert, die vertretene wissenschaftliche Konzeption verfehle den anvisierten Gegenstandsbereich. Weil Argumente mehr Gewicht bekommen, wenn die Zahl derer größer wird, die sie vertreten, mobilisiert der kleine David potentielle Sympathisanten und trägt seine Forderung ins Licht der Öffentlichkeit. Die Mobilisierungserfolge führen dazu, daß aus der ursprünglichen Mini-Revolte der Studierenden gegen die orthodoxe Lehre eine Konfliktsituation anderer Art entsteht. An die Stelle des ursprünglichen Gegensatzes von Studierenden-Lehrenden tritt nun eine Konfrontation von Vertretern des status quo und solchen, die dessen Veränderung für unerläßlich erachten. Wer in diesem Konflikt zwischen Orthodoxie und Heterodoxie die besseren Chancen hat, sich durchzusetzen, läßt sich schwer abschätzen. Deutlich sichtbar ist jedoch, daß hinter unterschiedlichen Argumentationen von Orthodoxie und Heterodoxie sich Positionen verbergen, die weitgehend unvereinbar sind und sich auf dem Weg der friedlichen Suche nach einem Kompromiß in der Mitte nicht lösen lassen werden.

4. Festung Orthodoxie

Beim Streit um die Doxa, d.h. die vertretbare und richtige Lehre in der Ökonomie, geht es vordergründig um das, was im Namen der Wissenschaftlichkeit unverzichtbar sein soll oder diese im Falle der Absenz in ihrer Existenz gefährdet. Auf der einen Seite stehen die Herausforderer mit ihrer These, die heute etablierte Doxa führe zur Schizophrenie, auf der anderen Seite die Verteidiger der Bastion, die behaupten, jede Abweichung von ihr bringe eine Gefährdung der Wissenschaftlichkeit mit sich. Die Stärke der Verteidigung ist keineswegs eine überzeugendere Beweisführung, sondern die besondere Art der Verbundenheit des Faches mit der sozioökonomischen Umwelt.

4.1 Hüter der wissenschaftlichen Ideale
Der Aufruf der Studierenden enthält sowohl eine Forderung wie auch eine Ablehnung. Er verlangt für die Lehre einen Pluralismus der Ansätze und lehnt die Monopolstellung der heute vertretenen neoklassischen Doktrin ab. Diese vehemente Ablehnung der Doxa stützt sich auf zwei besondere Aspekte: auf ihre Prämissen und die mit ihr verbundenen Konsequenzen. Zu den Prämissen gehören die Axiome, auf denen die Modelle beruhen und die impliziten politischen Voraussetzungen, die in der Vermittlung einer bestimmten Sicht der Welt, des Menschen und der Gesellschaft enthalten sind. Zu den mit der Doxa verbundenen Konsequenzen erwähnen die Verfasser des offenen Briefes auf die Tatsache, daß es auf dieser Basis nicht möglich sei, sich an den politischen Debatten über die zentralen Wirtschaftsfragen der Gegenwart wie Arbeitslosigkeit, Ungleichheiten, Finanzen, Marktfreiheit etc. zu beteiligen. Als Oberbegriff für diese Prämissen und Konsequenzen fungiert im Studentenprotest die Kategorie des Imaginären, also die Summe der Vorstellungen und Horizonte, welchen die Neoklassik verpflichtet ist, die auch mit ihrer Lehre weitervermittelt werden. Dazu kommt außerdem noch, daß sich die Ökonomen von ihrer schmalen Basis aus als universelle Ratgeber betätigen, eine Diskussion der Wertbezüge jedoch als nicht zum Feld der positiven Wissenschaften gehörig bezeichnen.

Die offizielle bzw. offizöse Antwort im professoralen Gegenappell und den Stellungnahmen anderer zugunsten der Orthodoxie befassen sich ausführlich mit dem zweiten Kritikpunkt der Studierenden, der überzogenen Mathematisierung, nie aber mit dem Hauptanliegen, dem Imaginären der Neoklassik. Es ist durchaus möglich, daß hier ein echtes Problem des Verstehens vorliegt, daß die eine Seite etwas sagt, und die andere gar nicht versteht, was gesagt worden ist. Es kann aber auch sein, daß die Angesprochenen sich von vornherein nicht auf eine Diskussion einlassen wollen, die sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht so ohne weiteres zu dominieren in der Lage sein werden. Dies umso mehr, als die Gesprächsverweigerung im Rahmen einer quantitativ fundierten Wissenschaftskonzeption sich bestens legitimieren läßt: was jenseits des der Mathematik Zugänglichen liegt, ist wissenschaftlich unerheblich. Daher ist die Kontroverse um die Lehre der Ökonomie auch eine Kontroverse über das, was Wissenschaft ist. Auf der einen Seite stehen jene, die negieren, daß diese Ökonomie überhaupt eine Wissenschaft ist und daß es ökonomische Gesetze gibt (vgl. A. Orléan), und auf der anderen Seite jene, welche in dieser auf ein mechanistisches Weltbild beschränkten Konzeption die Apotheose von Wissenschaftlichkeit sehen.

Derartige Auseinandersetzungen um das, was Wissenschaft ist und sein soll, sind historisch gesehen kein Novum. Was als Wissenschaft gilt, ist jeweils abhängig von der Epoche, in der sie betrieben wird. Die Idealbilder der Wissenschaft sind zeitabhängig, was auch mit sich bringt, daß sich der Stellenwert der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen im Lauf der Zeit verändert. Über lange Jahrhunderte waren zuerst die Theologie und dann die Philosophie die dominierenden Wissenschaften. Seit dem 17. Jahrhundert sind mehr und mehr die Naturwissenschaften in den Vordergrund gerückt, die nun auch die neuen Maßstäbe des wissenschaftlich Exemplarischen bereitstellen.

So ist es nicht verwunderlich, daß auch die Ökonomie als wissenschaftliche Disziplin unterschiedliche Konjunkturen kennt. Nach einer Phase des Aufschwungs ist sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine kritische Phase geraten, die dazu führte, daß Francis Galton ihren Ausschluß aus der British Association for Science verlangte.(26) Das letzte bedeutende Werk der Klassik, John Stuart Mills' Principles of political economy 1848, verlor an Bedeutung erst mit der Publikation der Principles of economics 1890 durch Alfred Marshall. Bis zum Ende des ersten Weltkriegs verblieb die politische Ökonomie in einer Phase andauernder Schwäche. Bei den Bemühungen um eine solide Neukonstituierung zwischen 1890 und 1920 spielten die Versuche, durch die Berücksichtigung soziologischer Elemente wieder neu Tritt fassen zu können, eine wichtige Rolle.

Für William Stanley Jevons war es wichtig, bei einer Erneuerung der ökonomischen Wissenschaften evolutionäre Gesichtspunkte stärker zu berücksichtigen, wobei er sich der Soziologie Herbert Spencers anzuschließen suchte und jene von Auguste Comte relativierte. Die dadurch bedingte Erweiterung der Perspektiven und Ausweitung des Objektbereiches führte dazu, daß er den Vorschlag machte, die Ökonomie sollte sich künftig arbeitsteilig organisieren: die Ökonomen sollten sich entweder für eine abstrakte Ökonomie entscheiden oder für eine konkrete Ökonomie. Spezialisierung sei nötig, um nicht alles wissen und alles lehren zu müssen. In der zweiten Auflage seiner Theory, bei der er den Begriff einer economic sociology verwendet, unterscheidet er fünf Teilbereiche der politischen Ökonomie: Handelsstatistiken, die mathematische Theorie der Ökonomie, eine systematische deskriptive Ökonomie, eine ökonomische Soziologie und die öffentlichen Finanzen. Die polemische Spitze dieser neuen Einteilung war darauf gerichtet, einer historisch orientierten Ökonomie eine Absage zu erteilen zugunsten einer Wissenschaft, die sich mit der Evolution der sozialen Beziehungen beschäftigte (was H. Spencer als Soziologie bezeichnete).

Dieser kurze Rückblick auf die Frühphase der Neoklassik mag dazu dienen, die heute anscheinend so wichtig gewordene Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Ökonomie etwas differenzierter angehen zu können. 1876, zum hundert-jährigen Jubiläum des „Reichtum der Nationen", hatte sich die Ökonomie als Wissenschaft in einer existenzgefährdenden Krise befunden. Eine sich über mehrere Jahrzehnte hinziehende Refundierung orientiert sich an den Arbeiten von Jevons, Walras und Menger, sucht Anschluß an Früheres, will sich aber auch deutlich davon unterscheiden. Der hauptsächliche Unterschied zwischen dem Füheren, der Klassik, und dem Neuen, der Neoklassik, ergibt sich aus unterschiedlichen Konzeptionen der Arbeitswertlehre. Für die Klassiker ließ sich der Wert eines Objektes und damit auch sein Preis aus der Menge von Arbeit bestimmen, die zu seiner Herstellung erforderlich gewesen ist. Die Neoklassik sieht dies anders: der Preis eines Objektes hängt nicht mit der dafür notwendigen Menge an Arbeit zusammen, sondern mit der Lust, die damit für den Käufer verbunden ist, oder allgemeiner formuliert, mit der Nützlichkeit. Diese Nützlichkeit wird für eine quantifizierbare Größe gehalten, deren Analyse mit den Mitteln der Mathematik zu erfolgen hat.(27)

Die Zweihundertjahrfeier des „Reichtum der Nationen" 1976 markiert für die Ökonomie als Wissenschaft neuerdings eine Trendwende, wobei es diesmal nicht um eine Rettung in der Krise geht, wie hundert Jahre zuvor, sondern darum, die gegebenen Chancen zu nutzen, sich in der scientific community rangmäßig zu verbessern. Die günstigen Chancen für eine Neupositionierung haben sich aus den Wirtschaftskrisen der 70er Jahre ergeben. Diese ließen es als unumgänglich erscheinen, nach einer Neuorientierung zu suchen und am bisherigen Kurs sozialstaatlicher Steuerung bestimmte Korrekturen anzubringen. Neoliberale Strömungen, seit der Nachkriegszeit bereits in den Startlöchern im Wettlauf um mehr Einfluß auf Wirtschaft und Gesellschaft, fanden endlich Gehör, zunächst einmal in den angelsächsischen Ländern, dann im Rest der Welt. Dies führte zur Ehe der neoklassischen Ökonomie mit der neoliberalen Weltanschauung, mit Reagan und Thatcher als Trauzeugen, wobei das historische Erbe der theoretischen Refundierung der Disziplin vom Ende des vorigen Jahrhunderts allerdings recht selektiv angeeignet worden war. Von den beiden Möglichkeiten bei Jevons, sich arbeitsteilig mehr für eine abstrakte oder mehr für eine konkrete Ökonomie entscheiden zu können, blieb lediglich die abstrakte Option übrig mit ihrer starken Fokussierung auf die mathematische Theorie der Ökonomie, einem der fünf Teilbereiche der politischen Ökonomie (bei Jevons). Ähnlich verhält es sich bei L. Walras, bei dem sich wohl eine ausgeprägte Mathematisierung der ökonomischen Theorie findet, doch ist diese nur ein Teil seiner ökonomischen Konzeption. Neben der reinen Ökonomie stehen bei ihm die angewandte Ökonomie und die Sozialökonomie, und was seine politische Grundorientierung betrifft, so wurde er zu seinen Lebzeiten den Sozialisten zugerechnet.

Mit der Berufung auf die neoklassische Tradition allein läßt sich die mathematische Überfrachtung der zeitgenössischen Ökonomie also keineswegs verteidigen. Wenn sie trotz massiver Einwände, die immer wieder vorgetragen worden sind, weiterhin unangefochtener Bezugspunkt dessen ist, was als „ökonomisch korrekt" zu gelten hat, so läßt sich dies am besten dadurch erklären, daß diese Doktrin den Interessen jener entgegenkommt, die in der realen Ökonomie das Sagen haben. Die Berufung auf eine abstrakte Wissenschaftlichkeit erfüllt somit eine doppele Funktion. Sie entlastet die Bewohner des elfenbeinernen Turmes einerseits von der Aufgabe, über die Gartenzäune ihre Disziplin hinauszusehen und zur Kenntnis zu nehmen, zu welchen konkreten Ergebnissen die Theorie führt. Die reine Wissenschaft ist objektiv, kann daher keine Gewissensbisse kennen und ist niemals politisch. Neben der Befreiung von allem, was mit Verantwortlichkeit zu tun hat, ist jedoch gerade diese Wissenschaft geeignet, allen Absurditäten der modernen Real-Ökonomie den Anschein des Notwendigen und Unausweichlichen zu geben und so allen Fragen nach ihrer Legitimation den Boden zu entziehen. Diese Symbiose von Wissen und Macht ist jedoch nur dann von Dauer, wenn die Wissenschaftlichkeit des dienstbaren Wissens außer Frage steht. Daher auch die Hauptsorge der Verfasser des Gegenappells: der Wissenschaftlichkeit der ökonomischen Lehre um jeden Preis, vor allen anderen Aspekten, absolute Priorität einzuräumen.

4.2 Das symbolische Kapital
Die Verteidigungslinien zur Absicherung der orthodoxen Position sind so angelegt, daß sich über vieles reden läßt, aber nicht über das, was die Wissenschaftlichkeit der Ökonomie in Frage stellen könnte. Warum dies so ist, dazu finden sich keinerlei Begründungen. Solche Begründungen müßten sich auf das Selbstverständnis jener beziehen, die wissenschaftliche Tätigkeiten ausüben und normalerweise nur schwer in der Lage sind, ihr Selbstverständnis zu explizieren. Dies führt zu einer etwas absurden Situation. Denn einerseits läßt sich mit wissenschaftlichen Mitteln nicht eindeutig abgrenzen, was Wissenschaft ist und was nicht. Andererseits aber ist es unumgänglich, für die Praxis der Wissenschaft die Grenzen dieses Feldes gelegentlich neu zu bestimmen, weil das abstrakte Ideal von Wissenschaftlichkeit jeweils nur in einer konkreten wissenschaftlichen Ordnung eine sichtbare Gestalt annehmen kann.

Wenn von wissenschaftlicher Ordnung die Rede ist, so steht Ordnung für jene historische Gewordenheit, für die manche auch den Begriff des Chaotischen verwenden. Im wissenschaftlichen Feld finden stets Veränderungen statt, immer im Namen der Wissenschaft. Je glaubwürdiger jemand in der Lage ist, sein Tun als wissenschaftlich auszuweisen, umso gewichtiger sind seine Aussagen. Für die orthodoxen Ökonomen ist Wissenschaftlichkeit gleichbedeutend mit mathematischer Formalisierung, wie dies in den sogenannten exakten Disziplinen der Fall ist. Mathematisierung ist dabei eine Vorgangsweise, die auf Algorithmen der Differential- und Integralrechnung zurückgreift, deren Ziel allein darin besteht, natürliche Phänomene im Sinne der mathematischen Erkennbarkeit (Intelligibilität) zu rekonstruieren. So werden diese Phänomene mittels Modellbildung dem Bereich der quantitativ bestimmbaren Gesetze unterworfen und sollen abgesicherte Voraussagen ermöglichen. Mathematisierung bedeutet außerdem, natürliche Phänomene in einer systematisierten Form von Theoremen, Propositionen und Resultaten darzustellen. Exemplarisch hat dieses deduktive Ideal der Mathematisierung und, damit korrespondierend, die Konstitution einer mathematischen Physik, erstmals Lagrange 1788 in seiner Mécanique analytique durchgeführt.(28)

Diese mathematische Physik wird, in Anbetracht des Aufwandes, der damit verbunden ist, sich in sie einzuarbeiten, zur Sache der wenigen, die dies zu tun in der Lage sind. Wer nicht die erforderlichen mathematischen Vorkenntnisse mitbringt und außerdem mit den philosophischen Problemen der Mathesis universalis(29) vertraut ist, der ist aus dem kleinen Kreis derer ausgeschlossen, welche die Probleme der modernen Physik verstehen können und zur Mitsprache befugt sind. Eine solche Wissenschaft, die mit dem Nimbus des Erhabenen und Überlegenen umgeben ist, ist aber auch weit davon entfernt, für den Normalbürger nachvollziehbar zu sein. Zwischen dem, was Gegenstand derartiger Wissenschaft ist und dem, was für den Alltag konstitutiv ist, tun sich unüberwindbare Gräben auf.

Präsentiert sich die Ökonomie in einer ähnlich mathematisierten Form, so bringt dies die gleichen Folgeerscheinungen mit sich: Unverständnis bei Nicht-Eingeweihten, die jedoch schwerlich Bewunderung und Respekt dem vorenthalten können, was sie nicht verstehen. Die Unverständlichkeit der Ökonomie wird noch verstärkt durch die Kombination von Mathematik und englischsprachiger Fachterminologie, einem zusätzlichen Imperativ für alle jene, die heute in der scientific community der Ökonomen Heimatrecht erwerben wollen. Die Chancen der Ökonomen, mit der Außenwelt der Nicht-Ökonomen erfolgreich kommunizieren zu können, müssen unter solchen Umständen gegen Null konvergieren. Möglicherweise hat dies auch sein Gutes an sich, ähnlich wie das Kirchenlatein des Klerus in früheren Zeiten, das keineswegs nur dysfunktional gewesen ist. Denn Unverständlichkeit ist durchaus eine solide Basis wenn nicht sogar eine Voraussetzung dafür, den Glauben an und die Bewunderung für das Mysteriöse zu vertiefen. Wenn solide Kenntnisse der Mathematik zu den hohen Eintrittshürden in die wissenschaftliche Ökonomie gehören, so bedeutet dies für alle mathematisch nicht ausreichend Vorgebildeten, sich in Sachen Ökonomie Zurückhaltung auferlegen zu müssen. Dieser Zusammenhang hat aber auch seine Kehrseite: ein Student, der mit der Mathematik bestens vertraut ist, kann bei Prüfungen hervorragende Benotungen erhalten, ohne daß er auch schon notwendigerweise die ökonomischen Mechanismen, die im Spiel sind, verstanden hätte.(30)

Aus dem Bereich der Astronomie ist bekannt, daß dort bisher unbekannte Himmelskörper entdeckt wurden, deren Existenz zunächst einmal lediglich auf Grund von mathematischen Berechnungen postuliert worden ist. Von ähnlichen erfolgreichen Vorgriffen auf noch nicht sichtbare Fakten ist aus dem Bereich der wissenschaftlichen Ökonomie wenig bekannt. Hier scheinen die Verhältnisse invers gelagert zu sein, wenn die großen Steuermänner der Weltwirtschaft wichtige Entscheidungen auf der Basis ihrer Intuition zu treffen haben. So hat unlängst Stephen Roach, der Chef-Ökonom von Morgan Stanley Ben Witter, im Hinblick auf A. Greenspan gesagt, „man muß aufhören zu glauben, daß er über magische Kräfte verfügt. Er ist der erste, der behauptet, daß die Ökonomie eine sehr unsichere Wissenschaft ist und es viel Geschicklichkeit und Glück braucht, eine gute monetäre Politik zu finden".(31) Jene, welche die bisweilen rätselhafte Sprache Greenspans zu entschlüsseln versuchen, sollten sich seiner Devise erinnern, auf deren Grundlage er für die Zukunft angemessene Entscheidungen trifft: „Wenn ihr das verstanden habt, was ich sagen will, so heißt das, daß ich mich schlecht ausgedrückt habe".(32) Ähnlich wie beim Orakel von Delphi.

Es gibt also einige Anzeichen dafür, daß die Mathematisierung der Ökonomie vor allem mit den Ambitionen dieser Disziplin zu tun hat, sich in die Reihe der Naturwissenschaften eingliedern zu wollen. Ein solcher Wunsch ist verständlich in Anbetracht der hohen Reputation, die den Naturwissenschaften auch heute noch zukommt, wenn auch möglicherweise in geringerem Ausmaß als Ende des vorigen Jahrhunderts. 1896 gründete der schwedische Chemiker und Geschäftsmann Alfred Nobel mit seinem beträchtlichen Vermögen einen Fonds, um alljährlich auf den Gebieten der Physik, Chemie und Medizin die bedeutendsten Entdeckungen zu prämiieren und außerdem im Bereich der Literatur das herausragendste Werk mit einer idealistischen Tendenz. Wer am meisten für die Annäherung der Völker leistet, sollte ebenfalls mit einem Preis bedacht werden. Wohl nicht nur deswegen, weil die Ökonomie im damaligen universitären Leben mit Existenzproblemen zu kämpfen hatte, stand die Frage einer Prämiierung ökonomischer Leistungen gar nicht zur Diskussion. Wichtiger ist, daß damals die Ökonomie als ein Teil der Gesellschaft gegolten hat, aber keineswegs als ihr wichtigster und alle anderen Bereiche dominierender.

Fast siebzig Jahre nach dem Tod Nobels hatte 1968 Per Asbrink, damals Gouverneur der schwedischen Reichsbank, die glorreiche Idee, sich an den internationalen Ruhm der Nobelpreise anzuhängen.(33) Anläßlich des 300jährigen Bestehens der Reichsbank stiftete diese daher den „Nobelpreis" für Ökonomie, zunächst einmal „Preis der Zentralbank Schwedens für die ökonomische Wissenschaft zum Andenken an Alfred Nobel" genannt. Dank der geschickten Etikettierung dieses Bankpreises als Nobelpreis und Ähnlichkeiten im Auswahlverfahren und der Dotierung der richtigen Nobelpreise verleiht nun die Königlich Schwedische Akademie jährlich auch die Nobelpreise im Bereich der Ökonomie. Ganz ohne Einwände ging dieses trickreiche Spiel jedoch nicht über die Bühne. Nach Peter Drucker „gibt es keinen größeren Blödsinn als den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Das ist so, als hätte man im 17. Jahrhundert einen Nobelpreis für Physik verliehen" (a.a.O.). Zahlreiche Naturwissenschaftler waren damals der Meinung, die Ökonomie sei noch viel zu spekulativ für einen Nobelpreis. Gunnar Myrdal, ein damals vor allem in Entwicklungsfragen weltweit anerkannter schwedischer Ökonom, stimmte erst nach langem Zögern der Einrichtung eines solchen Preises zu, möglicherweise deswegen, weil er insgeheim damit wohl auch an einen Preis für sich selbst gedacht hat.

1969 erhielt der Norweger Ragner Frisch den ersten Nobelpreis für Ökonomie, 1974 wurde dieser dann gleichzeitig an Gunnar Myrdal und Friedrich v. Hayek vergeben, die damit beide als exzellente Ökonomen zu öffentlichem Ruhm kamen. Als man Hayek 1977 dazu befragte, daß Myrdal, der gleichzeitig mit ihm Ausgezeichnete, die Validität des „Nobelpreises" in Frage gestellt und ihm (Hayek) wissenschaftstheoretische Nachlässigkeit vorgeworfen habe, gab Hayek zur Antwort: „(Eine solche Idee) ist eher eine extreme Ansicht, gekoppelt mit einer intellektuellen Arroganz, die selbst unter Ökonomen eine Seltenheit ist. Myrdal ist in diesen Fragen in der Opposition gewesen, noch vor den Veröffentlichungen von Keynes!. Sein Buch über monetäre Fragen, Werte und Ähnliches ist aus den späten 20er Jahren. Er hatte in diesen Dingen eine eigene Sichtweise, die ich für falsch halte. Man könnte dieses Buch heute nicht mehr neu auflegen. Ich bin nicht der Ansicht, daß er jemals ein guter Ökonom gewesen ist".(34) Für ökonomische Exzellenz gibt es also keine innerwissenschaftlichen Kriterien. Als ökonomisch exzellent gilt, was siegreich aus Kontroversen und Streitigkeiten hervorgeht. Ungeachtet dessen hat die Ökonomie dadurch, daß sie symbolisch näher an die Naturwissenschaft heranrückte, durch die „Nobelpreise" Karriere gemacht.(35) Oder anders formuliert: Nobelpreise vermehren das symbolische Kapital einzelner Forscherpersönlichkeiten und die Institutionalisierung derartiger Prämiierungen dient der Vermehrung des symbolischen Kapitals der Disziplin als ganzer, was ihre Position dem Umfeld gegenüber wesentlich stärker macht. Mathematisierung und Nobelpreise, so zweifelhaft beide in ihrer Begründbarkeit sind, vermehren die Reputation der Ökonomie. Höhere Reputation erweitert die Möglichkeiten, im gesellschaftlichen Umfeld mit mehr Gewicht intervenieren zu können.

Eine Untersuchung des Selbstbewußtseins der Universitätsabsolventen hat zum aufschlußreichen Ergebnis geführt, daß die Absolventinnen und Absolventen der Wirtschaftswissenschaften ein hohes Selbstbewußtsein hätten und großteils „ganz tolle Leute" seien. Ingenieure hingegen, so die Umfrage, hätten eher ein scheues Auftreten, würden Augenkontakt vermeiden, kämen nur schwer zu Entscheidungen, hätten also alle jene Merkmale, die auf fehlendes Selbstbewußtsein hindeuteten. Diese Befunde waren Teil einer Festrede bei einer Promotionsfeier der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich am 10. 12. 1997.(36) Die nachgelieferte Erklärung für diese Befunde argumentiert historisch. In den 50er und 60er Jahren, den Jahren des Wiederaufbaus, habe es geheißen: „Dem Ingenieur ist nichts zu schwör"!. Die Verehrung der Ingenieure habe darauf beruht, daß das wachsende Wohlergehen ihr Werk gewesen sei. Dann ein Verweis auf Max Frisch im ‚homo faber' 1957: „Wir leben technisch, der Mensch als Beherrscher der Natur, der Mensch als Ingenieur..." Die Ökonomen von damals hätten eine ganz andere Stellung gehabt als heute. Heute „sind die Ökonomen sehr präsent, überall zu sehen und zu hören. Sie sind Hoffnungsträger und Autoritäten, wie einst die Ingenieure. Was ist passiert"? (a.a.O.). Dem folgen dann einige Verweise auf das steigende Mißtrauen der Technik gegenüber, was dazu führe, daß man den Ingenieuren nicht mehr das alte Urvertrauen entgegenbringe. Aus dem Transfer des Vertrauens auf die Experten der Wirtschaft „beziehen die Ökonomen - mit Fug und Recht und viel Instinkt - ihr Selbstvertrauen....". Denn nichts entkomme heute der wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Dann die lapidare Feststellung: „Das technologische Weltbild ist passé, es lebe das ökonomische"! (a.a.O.).

Ein entsprechendes Selbstbewußtsein (oder auch Arroganz) korreliert hoch mit der Möglichkeit, auf andere Einfluß ausüben zu können (Macht zu haben), diese wieder damit, die wissenschaftliche Wahrheit auf seiner Seite zu wissen (symbolisches Kapital). Wer Einfluß haben will, darf nicht ungestraft das symbolische Kapital vernachlässigen. Die Ökonomen haben dies rechtzeitig begriffen. Diese Zusammenhänge zu sehen ist wohl eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung, eine Änderung der Situation herbeizuführen. Denn die Stärke der Ökonomie ist auch eine Folge ihrer symbiotischen Beziehungen mit dem ökonomischen Kapital.

4.3 Die Allianz von Neoklassik und Neoliberalismus
Der Ausdruck Weltbild besagt wohl dasselbe wie Weltanschauung, hat aber einen etwas neutraleren Beigeschmack, ist weniger mit jenen Assoziationen belastet, die sich einstellen, wenn von Weltanschauung die Rede ist. Doch auch mit dem „Weltbild" ist eine Sicht auf das Ganze angesprochen. Gleichzeitig fixiert diese Sicht auch eine Beziehung, in welche der Mensch sich zu diesem Ganzen gestellt sieht. Wer einen Gegensatz von technologischem und ökonomischem Weltbild anspricht, thematisiert damit gleichzeitig Verschiebungen auf unterschiedlichen Ebenen oder Dimensionen. Deren Benennung ist nicht zwingend, ergibt sich aus der Art, wie das Verhältnis zu einem übergeordneten Ganzen dekomponiert wird. In Anlehnung an die traditionelle Forschung über Einstellungen (attitudes) könnte man kognitive, evaluative und behaviorale Komponenten eines Weltbildes unterscheiden. Nach einer anderen Schematisierungsweise wäre nach den realen, symbolischen und imaginären Anteilen zu fragen. Obwohl diese beiden Auflösungen der Kategorie des Weltbildes in einzelne Elemente auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen, ergeben sich im Endeffekt doch gewisse Entsprechungen.

Das technologische Weltbild geht davon aus, daß mit der Zunahme des Wissens über die Natur die Möglichkeiten größer werden, sie zu beherrschen und den eigenen Wünschen gefügig zu machen. Was geschieht, ist nicht mehr der Einwirkung irgendeiner übernatürlichen Instanz zuzuschreiben, sondern Konsequenz des Wissens um mechanische Gesetzmäßigkeiten und deren Manipulation durch den Menschen. Das zu diesem Weltbild gehörende Menschenbild ist der homo faber, der gelernt hat, mit Hilfe der Technik sich von der Mühsal des Lebens zu befreien. Nach einem ganz anderen Grundmuster ist das ökonomische Weltbild gestrickt. Es orientiert sich am Zweckrationalen, dem Prinzip der Effizienz, das einen sparsamen Einsatz der Mittel verlangt: Mit den gleichen Mitteln mehr zu erreichen, oder mit weniger Mitteln das Gleiche. Im Hintergrund steht der Wunsch, vorhandene Ressourcen (Vermögen) zu bewahren und zu vermehren. Der dieses Weltbild am genauesten repräsentierende Menschentyp ist der Kaufmann mit seiner ihn charakterisierenden Krämermentalität. Die Generalisierbarkeit einer derart beschränkten anthropologischen Prämisse ist nicht unumstritten. Schon Erasmus v. Rotterdem hielt nicht viel von den Kaufleuten, „denn sie gehen mit verächtlichen Dingen um und auf die allerverächtlichste Weise; sie schwören falsch, sie stehlen, sie betrügen und wollen dennoch für vornehm gelten, weil sie ihre Finger in Geld gewickelt haben."(37) Wie es zum technologischen Weltbild gehört, das Geld im Dienst der technischen Perfektion zu verausgaben, so ist es im ökonomischen Weltbild umgekehrt: Technik hat nur dann einen Wert, wenn damit auf dem Markt etwas zu verdienen ist.

Die Ablösung des technologischen Weltbildes durch das ökonomische ist nicht dem Zufall zuzuschreiben. Zu diesem Wechsel kommt es nach dem Abschluß der Arbeiten, die der Wiederherstellung dessen dienten, was der Krieg zerstört hatte. Mit der Beendigung des Wiederaufbaus kam es zu einem langsameren Wirtschaftswachstum und zu einer Absenkung der Profitrate. So beginnt das dritte Drittel des 20ten Jahrhunderts, nach dreißig Jahren Krieg und dreißig Jahren Wiederaufbau, mit der neoliberalen Revolte,(38) die darauf abzielte, die Regulierungen der Aufbaujahre zu liquidieren. Auf der politischen Ebene markierte die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien den Beginn einer neuen Epoche, auf der Ebene der ökonomischen Theorie erfolgte zeitgleich eine Abwendung von interventionistischen Konzepten im Sinne von Keynes. Die neue ökonomische Lehre, als Neoklassik verbrämt, ist in Wirklichkeit ein bereinigter Liberalismus, der jede Art von Zähmung der Wirtschaft durch den Staat und jede Art von Rücksichtnahme auf Natur und Gesellschaft weit von sich weist.

Wenn die triumphale Rückkehr des Liberalismus mit den Wirtschaftskrisen der 70er Jahre zu tun hat, dann sind letztere der Anlaß, nicht aber die Ursache gewesen. Denn die hartnäckigen Bestrebungen, liberalen Doktrinen wieder mehr Einfluß zu verschaffen, gehen bis in die Zeit während und nach dem 2. Weltkrieg zurück. Roosevelt sah sich veranlaßt, 1933 mit dem National Recovery Act, gemeinhin als New Deal bezeichnet, die Verfechter der Laissez-faire-Ökonomie in die zweite Reihe zurückzuversetzen(39) und vorübergehend ein interventionistisches Programm zu verfolgen. Denn nur so ließ sich damals Schlimmeres verhindern, aus der wirtschaftlichen Rezession ein Ausweg finden. Doch nach dem Krieg sollte es mit der Wirtschaft, die sich an bestimmten Plänen orientierte, wieder zu Ende sein. Bereits in Bretton Woods 1944 wurden die Weichen in Richtung auf einen möglichst umfassenden Abbau von Handelsbeschränkungen gestellt. Damals wurden mit dem IMF und der Weltbank schon die ersten internationalen Organisationen geschaffen, um die neuen Vereinbarungen wirksam durchzusetzen. Die ideologische Begleitmusik, nicht unerheblich für eine Renaissance des Liberalismus, wurde in den sogenannten „Think tanks" geschrieben,(40) wo Universitätsangehörige mit dem Geld von Großkonzernen in deren Sinn und Interesse ein erfolgversprechendes Tätigkeitsfeld finden konnten. Nicht weniger wichtig ist der Einfluß halböffentlicher Vereinigungen wie der Mont Pelerin Society, die nach der Art von Geheimgesellschaften ihre Netze aufbauten und schrittweise Terraingewinne verzeichnen konnten. Als Reagan und Thatcher begannen, ihren Empfehlungen zu folgen, war die Zeit reif dafür, die alte Politik des Interessenausgleichs zwischen Kapital und Arbeit aufzukündigen und klar zu machen, wer der Stärkere ist.

Die Einrichtung eines Nobelpreises für Ökonomie sollte, wie oben erwähnt, der Stimme der Ökonomen in der wissenschaftlichen Welt und der breiten Öffentlichkeit mehr Gewicht geben. Neben dieser Wirkung nach außen muß eine solche Auszeichnung zweifellos aber auch eine wichtige Funktion für die Bildung einer inneren Struktur der Ökonomie als wissenschaftliches Fach haben, d.h. für die Entstehung der dort gültigen Hierarchie. Denn in der Prämiierung bestimmter theoretischer Leistungen werden auch die normativen Standards fixiert, nach denen theoretische Leistungen als hervorragend zu bewerten sind. Seit 1980, als Assar Lindbeck den Vorsitz im Nobelkomitee übernommen hat, wird die Auswahl der Preisträger als immer einseitiger angesehen. Denn seither geht die Auszeichnung in der Regel an technische Virtuosen, die ausschließlich auf die Kräfte des Marktes setzen und jede Form sozialstaatlicher Intervention als schädlich ablehnen.

Zwischen dem, was in der realen Wirtschaft politisch umgesetzt wird und den theoretischen Arbeiten, die zu Nobelpreisehren kommen, gibt es enge Beziehungen. Das große mediale Echo, das mit Nobelpreisen verbunden ist, dient gleichzeitig der weltweiten Verbreitung der Inhalte, die prämiiert werden. Was vom Nobelpreis zu sagen ist, daß es sich dabei um eine politische Institution handelt, die aber nie als solche in Erscheinung tritt,(41) gilt analog dazu auch für die ökonomische Doxa, die heute herrschende Lehre der Ökonomie, die sich nicht von dem distanzieren kann, was ihre Sonderstellung unter den sozialwissenschaftlichen Disziplinen begründet. Der Zusammenhang ist klar: je stärker die Allianz von neoklassischer Theorie und neoliberaler Wirtschaftspolitik, umso unverzichtbarer ist es, am Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, deren Neutralität und Technizität, festzuhalten. Der Schein strenger Wissenschaftlichkeit läßt sich umso leichter aufrechterhalten, je schwieriger es ist, die unangemessen mathematisierten Texte im Hinblick auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen.

5. Wie läßt sich die Festung schleifen?

Nach außen hin ist die ökonomische Doxa ein solid abgesichertes Bollwerk. Eine demonstrativ zur Schau getragene wissenschaftliche Strenge, umso mehr der Anfechtbarkeit entzogen, als der geschickte Mix von Arkandisziplin und öffentlichkeitswirksamer Prämiierung des besonders Herausragenden der Kritik von außen wie auch jener von innen wenig Chancen einräumt. Dazu kommt weiters, daß neoklassische Theorie und neoliberale Theorie ein höchst effizientes Tandem bilden, dessen Vorgaben sich heute kein Kontinent und auch kein einzelnen Land mehr zu entziehen vermögen. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß die internationale Ordnung eine solche Symbiose von neoklassischer Theorie und neoliberaler Theorie begünstigt. Dies ist ein Indiz dafür, daß die Hypothese einer Homologie zwischen der Struktur dieses internationalen Raumes, der Struktur des internationalen wissenschaftlichen Feldes und der Struktur des Feldes der Macht den gegebenen Verhältnissen recht nahe kommt.(42) Ist daraus der Schluß zu ziehen, daß jede Auflehnung gegen die dominierende Doxa bzw. das eindimensionale Denken - la pensée unique - ein wenig erfolgversprechendes Unterfangen ist?

Allein deswegen, weil der Gegner stark ist und Übermacht demonstriert, ist noch lange nicht jeder Widerstand für chancenlos zu erklären. Voreilige Resignation würde erstens übersehen, daß die Synthesis von dominierender Doxa, damit verbundenen Praktiken und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zahlreiche Risiken mit sich bringt, die zu Rissen in den Mauern der Festung führen und dann ohne besondere Einwirkung von außen deren Einsturz zur Folge haben können. Voreilige Resignation würde zweites übersehen, daß die Zahl derer zunimmt, die heute schlecht leben oder nicht mehr überleben können, weil die neoliberale Globalisierung so erfolgreich ist. Dies führt dazu, daß sich der Widerstand gegen sie global zu artikulieren, zu koordinieren und zu organisieren beginnt.

Zum ersten, den Risiken einer völlig deregulieren Marktwirtschaft. Je länger dieses Regime andauert, umso deutlicher zeigen sich auch die Gefahren, die es mit sich bringt und in seiner Existenz bedrohen. Als besonders riskante Faktoren für eine globalisierte Wirtschaft der befreiten Märkte verweist Susan George im „Lugano-Rapport" auf folgende Aspekte:(43) das mit dem ökologischen Umfeld verbundene Katastrophenpotential, die Gefährlichkeit eines ungezügelten Wirtschaftswachstums, die Polarisierung der Gesellschaft und damit verbundene Extremismen, die Entstehung unkontrollierbarer Parallelökonomien und die Irrationalität der Finanzmärkte. Die hier aufgezählten Punkte sind keineswegs neu. Seit Jahren wird diskutiert über Luft, Wasser, Erde, deren Degradation im Dienste einer Wirtschaft, die sich einem Wachstum verschrieben hat, das mit dem Wohlergehen der Menschen nicht mehr viel zu tun hat. Für viele innerhalb der industrialisierten Länder und die große Mehrheit der Menschen in der Dritten Welt werden die Lebensbedingungen zusehends schlechter, die Polarisierung zwischen arm und reich zerstört die Grundlagen von öffentlicher Sicherheit und Ordnung. Neben der offiziellen Marktwirtschaft entstehen andere Nebenwirtschaften von beträchtlichem Umfang, deren Gewinne aus Drogen-, Waffen- und Menschenhandel dann über dunkle Kanäle doch wieder in den Kreislauf der offiziellen Märkte zurückfließen und Verschiebungen der Einflußbereiche zur Folge haben. Die Gefährlichkeit irrationaler Börsenbewegungen ist wieder deutlicher bewußt geworden, seit Meldungen über die Verflüchtigung von Börsenwerten zum fixen Bestandteil der täglichen Informationssendungen geworden sind. Als einzelne sind diese Risikofaktoren mehr oder weniger bekannt und gehören zu dem, mit dem man leben zu können meint. An ihre weitere Entwicklung wird wenig gedacht, noch weniger daran, was geschieht, wenn gleichzeitig zwei oder mehrere Faktoren sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken.

Daß der Kapitalismus keine Einbahnstraße des immerwährenden Erfolges ist, zeigen die Beispiele Japans und der Vereinigten Staaten. Japan, das die 80er Jahre wirtschaftlich dominiert hat und den andern Industrieländern als Vorbild galt, hat heute allen Glanz verloren. In den 90er Jahren sind diverse Blasen geplatzt und seither stagniert diese einst stolze Produktionsmaschinerie. Vieles deutet darauf hin, daß das Erfolgsmodell der 90er Jahre, der angelsächsische Kapitalismus, nun ebenfalls an seine Grenzen geraten ist. Australien und Neuseeland, vor wenigen Jahren noch Musterschüler des Neoliberalismus, haben beide weitreichende Kurskorrekturen vorgenommen und aus ihren Zweifeln an der befreienden Macht der Weltmärkte die Konsequenzen gezogen.(44) Denn hohe Zahlen eines steigenden Wirtschaftswachstums sind keineswegs ein Beleg für wirtschaftliche Besserstellung breiter Bevölkerungskreise.

Diese Einsicht ist auch weltweit gesehen eine wichtige Ursache dafür, daß sich an vielen Orten nicht nur Unbehagen artikuliert, sondern auch Widerstand formiert. Diesbezüglich hatten die Ereignisse von Seattle Ende 1999 die Funktion einer Initialzündung. Es folgten die Proteste in Washington im April 2000, dann in Prag im September, in Nizza im Dezember und im April 2001 in Quebec. Verhandlungen auf höchster Ebene sind nur an hermetisch abgeriegelten Orten möglich, unter dem Schutz von Stacheldraht und starken Polizeiaufgeboten. Wo überall die Großen sich treffen, um über weitere Schritte der Liberalisierung zu befinden, besetzen Zehntausende die Straßen, um damit ihrem Unwillen Ausdruck zu verleihen. Ende Jänner 2001 ist es zu einem ersten Welt-Sozialforum in Porto Alegre in Brasilien gekommen, zeitgleich mit dem Welt-Wirtschaftsforum von Davos. Ob jene Interpretationen auch Recht behalten, die davon sprechen, Davos sei passé, wird erst die Zukunft weisen. Sicher ist jedoch, daß die Kräfte der marktliberalen Globalisierung, hinter denen die Interessen der transnationalen Konzerne stehen, nun vermehrt mit Widerstand von Seiten organisierter Kräfte der „Anti-Globalisierung" es zu tun haben werden. Dies hat auf jeden Fall dazu geführt, daß von den kontaktieren Länder sich lediglich der kleine Wüstenstaat Qatar dazu bereit erklärt hat, Gastgeber der nächsten Runde der Welthandelsorganisation (OMC) im November 2001 zu sein.

Auf die oben gestellte Frage, wie die Festung zu schleifen ist, läßt sich also eine unmittelbar zielführende Antwort nicht geben. Die Tatsache, daß es Anzeichen dafür gibt, daß die Stabilität der Festung aufgrund diverser Erschütterungen bereits in Mitleidenschaft gezogen ist, mag den Erfindungsreichtum des entgegengesetzten Lagers beflügeln und seine Ausdauer stärken. Wenn man bedenkt, daß die reformfreudigen Liberalen nach dem zweiten Weltkrieg auf die Devise setzten, „Ideen haben Folgen"(45) - und die Entwicklung seither hat ihnen Recht gegeben -, so wird auch der studentische Aufruf, die akademische Ökonomie-Lehre zu entmythologisieren, auf Dauer nicht ins Leere gehen. Dieser Aufruf zur Delegitimierung der neoklassischen Theorie ermutigt jene, die den praktischen Widerstand gegen die heutigen Formen des Marktabsolutismus organisieren und ist ohne Zweifel ein wichtiger Beitrag zur Zerstörung des Glaubens an die gegenwärtige Wirtschaft.



PS.: Wer den offenen Brief der Studierenden durch seine Unterschrift unterstützen will,
wende sich an http://www.autisme-economie.org/fr/signLOetudprof.htm



Anmerkungen

1. Bourdieu P., Les structures sociales de l'économie, Paris 2000, S. 11

2. Im frz. Original: L'institution imaginaire de la société, Paris 1971

3. Castoriadis C., Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt 1983, ebenfalls, ders., Domaines de l' homme, Paris 1986, bes. 219-240 und 327-363

4. Durkheim E., Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt 1987, S. 146

5. ders., a.a.O., S. 147

6. Lebaron F., La croyance économique, Paris 2000

7. Komplikation, der Ausdruck, den Comte verwendet, müßte heute wohl richtigerweise durch den der Komplexität ersetzt werden

8. Comte A., Discours sur l'Esprit Positif, Paris 1983 (orig. 1844), S. 156

9. Castoriadis C., Durchs Labyrinth, Frankfurt 1983, S. 133

10. vgl. ders., a.a.O., Frankfurt 1983, S. 8

11. Hayek v. F., Mißbrauch und Verfall der Vernunft, Frankfurt 1959, S. 146

12. Wiener N., Gott & Golem, Inc., Düsseldorf 1965, S. 120

13. Robinson J., Die Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft, München 1970, S. 117

14. vgl Neue Zürcher Zeitung v. 8. Sept. 1999, Nr. 208, S. 73

15. Krysmanski H.J., Soziales System und Wissenschaft, Gütersloh 1967, S. 48; vgl. bes. Kap. 4 über: Die problematischen Beziehungen zwischen Wissenschaftler-Rollen und „sozialen Systemen", S. 44 f

16. Castoriadis C., a.a.O., S. 165

17. Hoam-Ngoc L., Le retour de la pensée unique, in: Le Monde v. 9. Dez. 2000, S. 18

18. Beispielsweise „Globalisierung", ein Schlüsselbegriff der heutigen Politik, als gleichzeitig empirisches wie auch präskriptives Pseudokonzept, vgl. P. Bourdieu,, Les structures sociales de l'économie, Paris 2000, S. 277

19. Le Monde v. 21. Juni 2000

20. in Le Monde Économie v. 31. Okt. 2000

21. Solow Robert, L'économie entre empirisme et mathematisation, in: Le Monde v. 3. Jänner 2001, S. 14

22. Dostaler G., Le libéralisme de Hayek, Paris 2001, S. 43

23. Latour B., Nous n'avons jamais été modernes, Paris 1999, S. 29

24. Hegel G.W.F., Enzyklopedie der philosophischen Wissenschaften I, Frankfurt 1970, S. 108 (Theorie Werkausgabe)

25. Bouveresse J., Prodiges et vertiges de l'analogie, Paris 1999, S. 117

26. Gislain J.J., Steiner Ph., La sociologie économique 1890 - 1929, Paris 1995, S. 7

27. Daniel J.M., Jevons, mathématicien, et fier de l'être, In: Le Monde Économie v. 28. Nov. 2000, p. VI

28. Blay M., Mathématisation, in: M. Blay, R. Halleux, La science classique, Paris 1998, 603 - 609

29. Buzon, de F., Mathesis universalis, in: M. Blay, R. Halleux, La science classique, Paris 1998, 610 - 620

30. so B. Paulré, in: L'Express v. 6 - 12. Juli 2000, S. 30

31. vgl. Le Monde v. 27. Febr. 2001, S. 20

32. vgl. Le Monde v. 6. März 2001, S. 15

33. so W. Zank, in: Die Zeit Nr. 50 v. 10. 12. 1993, S. 38

34. vgl. Lebaron F., La croyance économique, Paris 2000, S. 254 (übers. aus dem Englischen O.N.)

35. s. W. Zank, a.a.O.

36. vgl. NZZ Nr. 47 v. 10./11. Jän. 1998, S. 45

37. Erasmus, Lob der Narrheit 1512, im Kap. „Vom Kaufmannsstand und von den reichen Leuten"

38. so I.Joshua, Dans l'ombre de 1929, in: Le Monde v. 10. April 2001, S. 15

39. Sutton A.C., Roosevelt und die internationale Hochfinanz, Tübingen 1990, S. 129 f

40. Dixon K., Les évangélistes du marché, Paris 1998, S. 41 f

41. Lebaron F., a.a.O., S. 257

42. Panayotopoulos N., Les „grandes écoles d'un petit pays", in: Actes de la recherche en sciences sociales Nr. 121/122, März 1998, S. 77 - 91

43. George S., Le Rapport Lugano, Paris 2000, S. 18 f

44. Kasper W., Ordnungspolitischer Zerfall „down under", in: NZZ Nr. 87 v. 14./15. April 2001, S. 29

45. Weaver R., Ideas Have Consequences, Chicago 1948