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Braunschmid Angelika (Exzerpt aus Richter)

Bedeutet dieses alles nun etwas für die Bundesrepublik

Die Frage, die uns hier beschäftigt lautet: Kann man die Bildungspolitik und die Bildungsverwaltung in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik vergleichen?

Es gibt in der Bundesrepublik keine lokale Autonomie in der Bildungsverwaltung, die mit der der Vereinigten Staaten nur annähernd vergleichbar wäre.(1)

Die Verwaltung der Schulen ist in der Bundesrepublik eine staatliche Angelegenheit, und zwar eine Angelegenheit der Länder.

Die neuesten Entwicklungen in der amerikanischen Bildungsverwaltung werden unter dem Begriff "Accountability" zusammengefaßt. Ist es nicht undenkbar, daß eine Großstadt - sagen wir Hannover - ihr gesamtes Schulwesen einer Computer - Firma - sagen wir Nixdorf - auf der Basis einer Erfolgshonorierung überläßt?(2)

Von einer Einführung des offenen Wettbewerbs kann kaum die Rede sein. Die amerikanische Szene wird von einem Modell einer zwischen Staat und Gewerkschaften vertragliche vereinbarten Bildungspolitik beherrscht.

Die Unvergleichbarkeit der Erscheinigungsformen beruht zunächst einmal auf der Unvergleichbarkeit der historischen Entwicklung.

Diese hat zwei grundverschiedene Strukturmodelle der Bildungsverwaltung hervorgebracht: das "Community - Modell" in den Vereinigten Staaten und das "Staat/Gesellschaft - Modell" in Deutschland.

Dem Staat fiel die Aufgabe zu, die liberalen Postulate der Freiheit und Gleichheit im Bildungswesen durchzusetzen - gegen die "Gesellschaft", gegen die kirchlichen und korporative Interessen.(3)

Der Staat taucht im Laufe der Dogmengeschichte der Bildungsverwaltung immer wieder als Hort von Freiheit und Gleichheit, von Neutralität und Pluralität auf.

In Deutschland hat im 19.Jahrhundert die Staatsverwaltung stellvertretend für "den Staat" die zentrale Funktion in der Organisation der institutionalisierten Bildung übernommen.

Erst in unseren Tagen nehmen die Zweifel zu, ob die Staatsverwaltung wirklich als Garant von Freiheit und Gleichheit, von Neutralität und Pluralität im Bildungswesen angesehen werden kann.(4)

Es muß jedoch erwähnt werden, daß das deutsche und das amerikanische Bildungswesen Probleme kennen, die einander gar nicht so unähnlich sind. Diese Probleme stammen aus den Strukturproblemen der westlichen Industriegesellschaft, daher diese Ähnlichkeiten: Innovationsträgheit des "administrativen Systems", die Legitimationsschwäche des "politischen Systems" und die Zweifel an der Relevanz des "Bildungssystems" im gesamt gesellschaftlichen Zusammenhang.(5)

Der heutige politische Konsens in der Bildungsgesamtplanes ist relativ groß. Es spricht vieles dafür, daß die Durchführung des Bildungsgesamtplanes an der Innovationsträgheit der Bildungsverwaltung scheitert. Diese Hypothese kann man aus den Merkmalen der bürokratischen Verwaltungsorganisation ableiten.

"Innovationsträgheit" und "Bürokratie" werden hier als Strukturmerkmale von Organisationen verwendet.

Als Strukturmerkmale der Bürokratie gelten Legalismus, Neutralität, Hierarchie, Amtsverfahren und Beamtenstatus.

Der Legalismus fixiert die Verwaltung auf den Gesetzesvollzug und hindert sie an einer Planungsorganisation.(6)

Es gibt jedoch einige Probleme und Abweichungen. So begrenzt die Neutralität die Durchsetzung politischer Programme. Die "Effektivität" ist mit einem Verlust an Kreativität und Spontaneität, von Flexibilität und Lernfähigkeit verbunden.

Eine allzu strenge Verfahrensbindung nimmt der Verwaltung die Fähigkeit zu einer schnellen und flexiblen Reaktion im konkreten Einzelfall. Der Beamtenstatus schließlich ist häufig mit Fach- und Verwaltungsqualifikation verbunden, die einer Reformverwaltung ausgesprochen abträglich sind.

Die Organisation des Bildungswesens nach dem "Staat/Gesellschaft - Modell" ist zunehmend Kritik ausgesetzt. Die Kritik an der "staatlichen" Herrschaft im Bildungswesen beruht auf politischen, administrativen, innovatorischen und pädagogischen Argumenten.(7)

Das politische Argument zielt auf die Doppellegitimation der Entscheidung über die Bildung ab - Organisation des Bildungswesens durch Gesetze der parlamentarischen Demokratie, sowie durch den Konsens der Betroffenen.

Das administrative Argument fordert ein gewisses Maß an Dezentralisierung, daß zur Effektivitätssteigerung in einer Verwaltung beiträgt.

Das innovationstheoretische Argument zielt auf die Unfähigkeit einer bürokratisch organisierten Verwaltung zur Reform.

Das pädagogische Argument verlangt für die Organisation der Lehr- und Lernprozesse eine gewisse Eigenständigkeit der Bildungsinstitutionen im Rahmen der staatlichen Bildungsverwaltung.

Die Kritik an der "staatlichen" Herrschaft im Bildungswesen zielt nicht auf eine Stärkung der "gesellschaftlichen" Kompetenzen im Bildungswesen. Diese Kritik trifft vielmehr die Stellung der Unternehmer und die Organisation von Elementarerziehung und Weiterbildung nach dem Modell eines Verbandspluralismus (= Vielgestaltigkeit).

Der generelle Vorwurf gegen die Form "gesellschaftlicher" Herrschaft lautet, daß sie Eigeninteresse gegen die Interessen der Lernenden durchsetzt.(8)

Gründe für die Ungleichheit im Bildungswesen tiefer als die Ebene der politische Organisation.

Die Kritik verlangt eine neue, alternative Organisationsform, in der neben der politischen Verwaltung, Raum für die Organisation der Betroffenen, das heißt der Lehrenden und Lernenden bleibt. Das neue Organisationsmodell soll von einer einheitlichen Öffentlichkeit des Bildungswesens und einer parlamentarisch befugten Einheit ausgehen.

Ein weiteres wesentliches Problem ist die Krise des Bildungsbegriffes bzw., daß wir nicht über einen einheitlichen und grundlegenden Begriff der Bildung verfügen.

Mit dem Verlust dieses Begriffes ist auch die Grundlage der institutionellen Ordnung des Bildungswesens verlorengegangen.

Die Universalität (=alles umfassende Bildung; Allgemeinheit) des Bildungsbegriffs verdeckt den faktischen Klassencharakter der Bildung. Die Normativität (=Maßgebung, Richtschnur)des Bildungsbegriffes gestattet die Stabilität der Lehrpläne. Die Kanonisierung (=Heiligsprechung) des Bildungsbegriffes führte zur Fixierung des Lernens auf bestimmte Inhalte und verhindert, daß die soziale Dimension der Lernprozesse ins Bewußtsein gelangte. Der Absolutheitsanspruch des Bildungsbegriffes schließlich förderte Formen der Unterrichtsorganisation, die in autoritärem Lehrverhalten Ausdruck fanden und die in Widerspruch zu der Forderung nach einer demokratischen Verfassung des Unterrichts gerieten.(9)

Angeleitet durch die Begriffe "Chancengleichheit", "Curriculum" und "Demokratisierung" haben sich nun im Bildungswesen in den letzten zehn Jahren Veränderungen vollzogen.

Jedoch können die drei Bereiche einzeln betrachtet kaum zu Veränderungen führen. So kann eine Politik der Chancengleichheit am System der sozialen Ungleichheit kaum etwas ändern oder eine "Curriculumreform" kann nicht die Konflikte lösen, die sich auf prinzipiell unterschiedlichen Interessen auf der Zielebene ergeben.

Neuere Tendenzen in der amerikanischen Bildungspolitik zielen dahin, in allen drei Dimensionen der Krise in der Bildungsverwaltung gleichzeitig Lösungen suchen.

Sie geht das Relevanzproblem von einer neuen Seite an. Die Relevanz folgt nicht mehr aus gesamtgesellschaftlich legitimierten Bildungszielen wie zum Beispiel Rassenintegration, Chancengleichheit, Schreiben - Lesen - Rechnen, sondern aus der Befriedigung der von den Betroffenen artikulierten Bedürfnisse.(10)

Organisationsmodelle, die geeignet sind, die von den Betroffenen artikulierten Bedürfnisse zu befriedigen, sollen nicht nur das Relevanz-, sondern auch das Legitimationsproblem in der Bildungsverwaltung lösen.(11)

Alle Hoffnung bei der Reform des Bildungswesens richtet sich auf die Beteiligung der Betroffenen. Als Organisationsmodelle wurden das Interaktions- und das Problemlösungsmodell konzipiert, die beide die Beteiligung der Betroffenen und die Formulierung ihrer Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen.

Die Konzentration der Organisation des Bildungswesens jedoch birgt Gefahren. Es stellt sich die Frage, wer denn "betroffen" ist? Die Lernenden und die Lehrenden, die Eltern der minderjährigen Lernenden, die lokale Gemeinschaft? Werden alle Bedürfnisse gleichermaßen legitim anerkannt? Was sind "wahre" Bedürfnisse?

Bedürfnisorientierung bedeutet zunächst Verzicht auf jede materielle Festlegung verbindlicher Bildungsziele. Es bedeutet darüber hinaus Entscheidung im Rahmen der jeweiligen sozialstrukturellen Verhältnisse und damit Verzicht auf jede Chance zu einer Revision der Sozialstruktur durch das Bildungswesen.

Das Relevanzproblem im Bildungswesen kann nicht durch eine Nicht - Politik gelöst werden, die Entscheidungen ablehnt und alles den Betroffenen überläßt.(12)

Die Organisation des Bildungswesens kann sich also nicht auf die Beteiligung der Betroffenen als einzige Legitimationsquelle stützen.

Das Bildungswesen dient der Erhaltung oder Veränderung der Sozialstruktur; reguliert die soziale Mobilität und vermittelt Qualifikationen und Einstellungen der jeweils zukünftigen Generation.

Ein gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang ist somit offensichtlich. Die Organisation benötigt also neben der Legitimation der "Betroffenen" auch eine gesamtgesellschaftliche Legitimation.

Ebenso verhält es sich mit der Innovation des Bildungswesens und der Beurteilung der Reformen, wenn die Reformen im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gesetzt werden.

Die Entwicklung der Bildungsverwaltung in den Vereinigten Staaten kann also nicht Vorbild für die Lösung der Probleme in der Bundesrepublik sein.

Trotz unterschiedlicher historischer Entwicklung, gleichen sich die Probleme der westlichen Industrieländer in erstaunlichem Maße; doch sind die Lösungen, mit denen die Bildungspolitik der Vereinigten Staat der Krise Herr werden will, für die Bundesrepublik nicht annehmbar.

1. 0 Richter, Ingo. Unorganisierbare Bildungsreform. Serie Piper. München, 1975. S.114
2. 0 Ebenda, S. 114
3. 0 Ebenda, S.115
4.
0 Ebenda, S.116
5.
0 Ebenda, S.116 - 117
6.
0 Ebenda, S.117
7.
0 Ebenda, S.118
8.
0 Ebenda, S.119
9.
0 Ebenda, S.120
10.
0 Ebenda, S.121
11.
0 Ebenda, S.122
12.
0 Ebenda, S.123