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Baruch Spinoza
Biographische Daten
1632 24. Nov. Geb., in Amsterdam, als zweiter Sohn des Micael Spinoza, eines der
spanisch-portugiesischen Gemeinschaft angehörigen Händlers, die sich wegen religiöser
Verfolgung in Holland angesiedelt hatte
1637 und Folgejahre, besucht die unter Klassen der Talmud - Schule, dann in Vaters Geschäft
1652, evtl. auch etwas später, Besuch der Vorlesungen Van den Endens, eines
freidenkerischen Jesuiten, der später unter Louis XIV hingerichtet worden ist;
1656 Ausschluß (Exkommunikation) aus der jüdischen Gemeinde, beschäftigt sich mit der
neuen Philosophie: Bacon, Descartes....ergreift neuen Beruf: Linsenschleifer
1673 lehnt er die Einladung ab, an der Universität Heidelberg Philosophie zu unterrichten
1677 stirbt er am 21. Febr. in La Haye
Amsterdam erlebte zwischen 1650 - 1672 seinen republikanischen Höhepunkt. Es bestand
damals eine große, aber nicht unbegrenzte Toleranz in religiösen und politischen Belangen.
Inschrift über dem Portal der portugisischen Synagoge: "Die Freiheit des Gewissens ist die
Grundlage der Republik". Spinoza hat sich selbst religiös nie eingeordnet, wurde aber für
einen Atheisten gehalten. Den Atheismus hat er folgendermaßen definiert: eine Praxis, die auf
das maßlose Streben nach Ehre, Reichtum und Vergnügen ausgerichtet ist. Religion ist
identisch mit einem wahrhaften Leben, der Aberglaube hingegen wird kultiviert und
ausgebeutet, um die Masse (das Volk) zu beherrschen. Spinozas minimales Credo ist einfach:
den Nächsten lieben wie sich selbst und seine Rechte verteidigen wie die eigenen Rechte.
Gott ist allmächtig, aber nicht der Herrscher, weil er die Freiheit seiner Geschöpfe, die
immanente Ursache ihres Handelns ist. Bei aller Distanz zu etablierten Religionen erkennt er
ihre politische Wichtigkeit an: sie garantieren sozialen Zusammenhalt und sind nützlich auf
der Suche nach Weisheit. Mit solchen Auffassungen war Spinoza eine Gefahr für das fragile
Gleichgewicht zwischen Politik - Exegese - Philosophie seiner Zeit, daher seine große
Vorsicht bei der Veröffentlichung seiner Schriften: teils anonym, teils nach seinem Tode erst.
Spinoza hat keine Schule begründet, ist z.T. verleugnet, unangemessen eingeordnet und über
weite Strecken vergessen worden.
Wiederentdeckung Spinozas
in Frankreich: in den 60er Jahren
in den USA: mehr in der Gegenwart. Nach Warren Montag wird die spezifische Modernität
Spinozas in folgenden 2 Thesen sichtbar: 1/ Verneinung der Souveränität des Individuums;
2/ Ablehnung der liberalen Gesellschaftskonzeption.
Spinozas Konzept der Substanz, die nicht früher ist als die Attribute, eröffnet neue
Denkmöglichkeiten. Die Substanz ist die unendliche Verschiedenheit ihrer selbst, sie
realisiert sich in einer Selbstreproduktion ohne Anfang und ohne Ende, Gott wird erkannt in
der Kenntnis der einzelnen Dinge. Der seit dem 17. Jhdt. gängige Begriff des Individuums als
Ursprung des Begehrens, des Denkens, des Redens und Tuns ist für Spinoza eine Illusion,
weil sie das Individuum als Kontinent (empire) auf einem Kontinent (empire) betrachtet,
welches der Ordnung der Natur enthoben ist.
Spinoza kehrt zwei Hierarchien um, die für den herkömmlichen Subjektbegriff konstitutiv
sind. Er verwirft die Thesen
a) daß der Geist den Leib regiert und determiniert, und
b) daß der Geist die Emotionen beherrschen kann, die man nach ihrer eigenen Stärke und
eigenen Notwendigkeit erforschen muß.
Die doppelte Illusion eines Individuums-Subjektes, das Herr seiner selbst und seiner
Handlungen ist, ist nicht nur eine Wirkung (effect) der Einbildung (imaginatio ist bei Spinoza
die erste Stufe der Erkenntnis),
sondern gleichzeitig die Mitte eines Aberglaubens, der dazu führt, daß das Volk den Priestern
und Despoten gehorcht und diesen Gehorsam darüber hinaus noch als Freiheit erlebt und
nichts anderes wünscht, als daß man ihm befiehlt. Nur so ist zu erklären, daß die Leute so oft
das Beste wollen und das Schlechteste tun, daß sie gerne für den Tyrannen sterben, der sie unterdrückt.
Spinoza steht auch im Widerspruch zum politischen Liberalismus, dem zufolge die
Gesellschaft als freie Vereinigung der Individuen zu betrachten ist, für die der Staat
überflüssig ist. Seine Zurückweisung der liberalen Politik beruht auf der Negation der
Trennung von Recht und Macht: Es ist sinnlos, von einem Recht zu sprechen, was man tun
könnte, wenn man keine Macht hat, es zu tun. Wenn das Politische von seiner Machtseite her
begriffen wird, dann ist das Individuum keine interessante analytische Größe mehr, denn die
Macht eines autonomen und vereinzelten ist theoretisch zu vernachlässigen. Im tractatus
politicus (dem letzten Werk) fehlt auch der Begriff des Vertrages, der jeder Grundlage
entbehrt, weil es keinen prae-sozialen Zustand gibt, wie Hobbes u.a. ihn sich vorgestellt
haben. Es gibt keinen Übergang vom Naturzustand in den Sozialzustand. Daher gibt es auch
keinen gesellschaftlichen Gründungsakt.
Die Individuen verschwinden nicht, sie verbinden sich jedoch mit anderen Individuen, um
neue Einheiten (Individuen) zu begründen. Antonio Negri sieht in Spinoza den ersten
Philosophen, der die Gesellschaft als durch die Macht der Massen (multitudo) konstituiert
sieht. Demokratie ist dann die immanente Ursache der Gesellschaft: selbst das Schicksal des
Tyrannen ist in der Hand der Masse, deren Zustimmung ihm das Regieren erst erlaubt.
Antonio Negri knüpft an die ontologische Neuinterpretation Spinozas bei G. Deleuze und A.
Matheron Ende der 60er Jahre an. Er faßt das Neue an dieser Spinoza-Lektüre in folgenden 5
Punkten zusammen und löste sich damit von der bisherigen Interpretation, die weitgehend
von der Lesart der deutschen Romantik bestimmt worden ist.
1) die neue Erfahrung der Immanenz: nicht mehr die Tiefe ist wichtig, sondern die
Oberfläche; Gott ist der immanente Horizont des Möglichen
2) Konzeption der Finalität: Unterscheidung zwischen rationeller Finalität und ethischem
Telos; die rationale Finalität ist zu denken als die Fähigkeit, etwas auf gewöhnliche Art zu
realisieren/konstruieren, also Beseitigung aller idealistischen Rationalitätsvorstellungen; beim
ethischen Telos handelt es sich in analoger Weise um die Entwicklung des begehrenden Lebens
3) Erneuerung des Konzepts des Politischen: Lösung von allen transzendenten Vorstelungen
(Aristoteles, Hobbes): souveräne Herrschaft kann sich nur als Demokratie der Masse
(multitudo) realisieren, d.h. als eine absolute Selbststeuerung der Gesamtheit der Individuen
4) metaphysische und theologische Revision: integraler Humanismus - kosmische Ökosophie;
ein innerweltlicher Weg der kreativen Erfahrung als Erfahrung der Freiheit
5) Revision der Idee des Materialismus: Materie nicht mehr als Kontext-Begriff, sondern als
der das Begehren konstituierende Prozess.
Die Spinoza - Rezeption bei Deleuze führt somit zu einer neuen Ontologie, rückt Spinoza in
die Tradition Machiavelli, Marx (nicht Hobbes / Rousseau / Hegel). Diese Ontologie steht der
weichen Phänomenologie der Postmoderne, die auf eine Apologie der Resignation und des
Desengagements hinausläuft, diametral entgegen.
In der Widerentdeckung Spinozas sieht Negri neue Möglichkeiten, diese Welt zu leben, am
Ende der Geschichte und der Ideologien die Welt zu rekonstruieren.
Literatur:
magazine littéraire, Nr. 370, Novembre 1998, mit dem Schwerpunkt: Spinoza un philosophe
pour notre temps, darin auch die Beiträge von Deleuze, Sonntag, Negri u.a.
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